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Ross oder Reiter*in?

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Was erfahren wir über Persönlichkeitstests?

Psychologische Persönlichkeitstests in Unternehmen sollen ergründen, was Mitarbeiter*innen als Menschen ausmacht, was ihnen wichtig ist, was sie stresst und wie sie folglich geführt werden können, um erfolgreich(er) zusammen zu arbeiten.

Nehmen wir dazu als Beispiel das sehr häufig eingesetzte DISG-Modell:

  • Ein dominanter Stil steht u.a. für Entschlossenheit, Willensstärke, Konkurrenzdenken, Ergebnisorientierung, Durchsetzungsfähigkeit, Direktheit, Mut, manchmal auch Sturheit, Aggressivität, Hartnäckigkeit und Ungeduld.
  • Ein initiativer Stil deutet u.a. auf Beziehungsorientierung, Emotionalität, Gesprächigkeit, Optimismus, Spontaneität oder Geselligkeit hin.
  • Ein stetiger Stil zeigt sich u.a. in Treue, Loyalität, Hilfsbereitschaft, Teamfähigkeit, Unterstützung, Bescheidenheit, Geduld, Pragmatik, Zuverlässigkeit, Aufmerksamkeit, Beständigkeit und Verbindlichkeit.
  • Ein gewissenhafter Stil schließlich äußert sich u.a. über hohe Maßstäbe, Detailorientierung, Disziplin, Vorsicht, umfangreiche Analysen, Logik, Genauigkeit, Gründlichkeit und Vorausplanung.

Damit wird jedoch lediglich die Oberfläche einer Person beschrieben. Als Persona wird die nach außen gezeigte Einstellung eines Menschen bezeichnet. Dieses Bild kann mit dem Ich einer Person identisch sein, muss es jedoch nicht. Es kann sich auch lediglich um eine nach außen getragene Identität handeln, um gut durchs Leben (oder die Arbeit) zu kommen.

Am Beispiel des DISG-Modells: Vielleicht wurde ein Mitarbeiter so sozialisiert, dass er glaubt, mit einem gewissenhaften Stil würde er es am weitesten in der Arbeit bringen und Karriere machen. Oder aber der dominante Stil ist nicht nur ein Stil, sondern tatsächlich ein wesentlicher Teil des Ichs dieser Person.

Mit Hilfe eines Persönlichkeitstests finden wir also heraus, wie ein Mensch in seiner Umgebung auftritt, weil er glaubt, dass er so am besten (leichtesten, erfolgreichsten, reibungsfreiesten, …) durchs Leben kommt.

Die Frage nach dem Wofür?

Das gleiche Prinzip gilt für alle mir bekannten Persönlichkeitstest, was auch logisch ist. Es handelt sich schließlich um Persönlichkeits- und keine Ich-Tests. Aber reicht das aus? Wollen, dürfen oder sollten Führungskräfte hier eine Grenzen ziehen? Schließlich ist Führung keine Psychotherapie.

Wer mehr wissen will, kann sich in ein Gebiet einarbeiten, das seine Höhepunkte der Beliebtheit in den 70er bis 90er Jahren hatte, heute jedoch kaum noch bekannt ist: Die Transpersonale Psychologie. Einer der bekanntesten Vertreter dieser Richtung ist vermutlich Abraham Maslow. Die meisten werden sich an seine Bedürfnispyramide erinnern. Ganz oben in der Pyramide steht unter Selbstverwirklichung: Das eigene Potential voll ausschöpfen und damit eine Art Ich der Zukunft anzustreben.

Oder Sie stellen die Wofür-Frage. Ich beispielsweise bin ab und an dominant. Wofür?

  • Weil ich ungeduldig bin und will, das etwas vorwärts geht.
  • Weil ich manchmal denke, ich weiß es besser – was manchmal stimmt und manchmal nicht, vermutlich eine Trainer-Krankheit.
  • Weil ich meine Freiheit liebe und gerne selbst entscheide, bevor jemand anders über mich entscheidet.

Ich kenne aber auch die anderen Stile sehr gut:

  • Initiativ bin ich, weil ich weiß, dass eine gute, optimistische Zusammenarbeit mehr bringt und mehr Spaß macht, als nur alleine in meinem Kämmerchen vor mich hin zu werkeln.
  • Stetig bin ich, weil mir langfristige Beziehungen wichtig sind. Darauf aufbauend lässt sich nicht nur prima zusammenarbeiten, sondern sie erleichtern auch das Leben, wenn es weniger gut läuft.
  • Und gewissenhaft bin ich, weil ich Qualität in einer Arbeit als schön betrachte. Die Grafiken in Präsentationen können beinahe einem Kunstwerk gleichen, das gesehen werden will. Aber ganz ehrlich: Ich will auch im Anschluss keinen Ärger haben.

Die vier Stile sind sozusagen das Ross. Doch was ist mir als Reiter wichtig?

Summa summarum fühle ich mich in allen vier Bereichen wohl. Ich kenne also die vier möglichen Pferdchen in meinem Stall. Letztlich geht es mir persönlich jedoch darum, dass Menschen zueinander kommen. Ob dies per „dominanter“ Anleitung geschieht, mit Optimismus und Emotionalität, mit Geduld und Beharrlichkeit oder langsam und vorsichtig, erscheint mir nachrangig.

Wenn Sie also selbst nach der Analyse von Mitarbeiter*innen vor der Frage stehen, um was es einer bestimmten Person wirklich geht: Vielleicht bringen Sie mit der Wofür-Frage ein wenig Licht ins Dunkel dieser Persönlichkeit.

Der Kampf um gutes Personal

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Neulich tauchte in einem Seminar die Frage auf, wie mit dem Personalmangel aus Führungssicht umgegangen werden sollte:

  • Sollen potentielle Bewerber*innen mit Samthandschuhen angefasst werden, selbst wenn sie sich nicht einmal die Webseite des Unternehmens angesehen haben, damit sie weiterhin Interesse haben?
  • Sollen Mitarbeiter*innen trotz eindeutiger Verfehlungen oder Schlampigkeiten gehätschelt werden, anstatt klar und deutlich zu sagen, was Sache ist, damit sie sich nicht frustriert abwerben lassen?

Eine Machtverschiebung hat stattgefunden

Fakt ist, dass aufgrund des Personalmangels eine Machtverschiebung stattfand. Das Angebot regelt die Nachfrage. Mitarbeiter*innen wissen das und stellen sich entsprechend darauf ein. Gibt es eigentlich noch Bewerbungs-Trainings? Oder müssen jetzt Unternehmen zurück auf die Rekrutierungs-Schulbank?

Angst essen Ehrlichkeit und Leistung auf

Die Tendenz liegt nahe: Wer Angst hat, Bewerber*innen oder Mitarbeiter*innen zu verprellen, vermeidet Kritik. Ansonsten könnte die Gefahr bestehen, dass Bewerber- und Mitarbeiter*innen sich anderweitig orientieren. Das wiederum geht nicht nur gegen die eigene Authentizität, langfristig leidet auch die Leistung des Unternehmens.

Dabei wirkt sich eine mangelnde Klarheit, die auch Kritik beinhaltet, nicht nur auf Einzelpersonen aus, sondern strahlt in das gesamte Unternehmen. Denn wer sich heute noch anstrengt könnte sich morgen schon denken: „Wenn ich mit einer mangelhaften Leistung so leicht durchkomme, warum strenge ich mich dann an?“

Damit besteht die Gefahr, dass langfristig die Stimmung kippt und auch diejenigen unzufrieden werden, die bislang noch zufrieden waren.

Wie also umgehen mit dem Dilemma „Kampf um gutes Personal“?

Der Umgang mit Bewerber*innen ist heikel, weil einem Bewerber*innen-Gehirn meist eher kurzfristige Gewinne (Homeoffice, Vergütung) wichtiger sind als langfristige Gewinne (gute Teambindung, spannende Arbeit, Möglichkeiten der persönlichen Weiterentwicklung). Dennoch kann es hilfreich sein, diesen Widerspruch anzusprechen: „Denken Sie nicht, dass Sie glücklicher wären, wenn Sie sich mit einer entsprechenden Vorbereitung gut in ein Team einfinden würden?“

Für Mitarbeiter*innen sollten jedoch klare Regeln gelten: Fehler müssen aufgearbeitet werden. Wer für eine Aufgabe ungeeignet ist, sollte sich weiterbilden oder eine besser geeignete Aufgabe bekommen. Auch eine Positive Führung bedeutet nicht, Mitarbeiter*innen emotional zu pampern, sondern sie im besten Sinne zu fördern, um etwas von ihnen fordern zu können.

Etabliert sich jedoch unternehmensweit eine Laissez-Faire-Haltung in der Hoffnung, so Mitarbeiter*innen zu halten, gehen langfristig auch noch die guten Leute verloren.

Quiet quitting, quiet beginning

Das Phänomen des „Quiet Quitting“, zu deutsch etwa „Stilles Aufhören“ wird in meinen Seminaren sehr häufig angesprochen:

  • Mitarbeiter*innen arbeiten nur noch das nötigste.
  • Mitarbeiter*innen lassen die Loyalität zu ihrem Arbeitgeber vermissen, wenn es um flexible Arbeitszeiten oder Überstunden geht.

Noch drängender wird es bei neuen Bewerber*innen in bestimmten Schlüsselfachgebieten, bspw. der IT, wenn Bewerber*innen kaum etwas vom Unternehmen wissen, am liebsten im Homeoffice arbeiten und eher wenig Teambindung haben wollen und aufgrund dessen wenig soziale Bereitschaft aufbringen, mehr als ihren verbrieften Job zu machen.

Quiet Beginning als Zukunftsthema

Das Thema „Stilles Aufhören“ ist also noch mehr ein Thema der Zukunft, wenn wir uns die Werte jüngerer Generationen ansehen und wird damit zu einem „Quiet Beginning“:

  • Familie, Freunde und Hobbys sind wichtiger als Arbeit.
  • Fahrzeiten wollen reduziert werden, insbesondere in Großstädten.

Worum geht es hier wirklich?

Dabei ist der Begriff „Quiet Quitting“ wohl eher der schicken Alliteration geschuldet als einer klaren Beschreibung, worum es wirklich geht. Es geht eben nicht darum, sich langsam und leise aus dem Job zu verabschieden oder – wie in meiner Erweiterung – gar nicht erst 100%ig einzusteigen. Es geht vielmehr darum, sich nicht mehr mit dem Wert der Aufopferung für ein Unternehmen zu identifizieren

Klassisch – agil – 80%-Engagement

Spannend dabei ist der Werdegang über die letzten Jahrzehnte. Lassen wir die klassische Verbundenheit mit dem Arbeitgeber einmal außen vor – bei vielen Führungskräften in meinen Seminaren kommt der Spruch „die interessieren sich gar nicht mehr dafür, was uns ausmacht“ – gab es durch die agile Revolution, New Work- und Feelgoodmanagement-Bewegung durchaus eine Verschiebung in Richtung Mitarbeiter*innen. Zwar steht in agilen Settings das Kundenwohl an oberster Stelle. Dennoch haben viele Unternehmen verstanden, dass dies nur erreicht wird, wenn ich Mitarbeiter*innen mehr Freiheiten zur kreativen Gestaltung lasse. Wie so oft wurden vermeintliche (agile) Freiheiten aber auch von Unternehmen oder einzelnen Teamleiter*innen pervertiert. Ein Teilnehmer eines meiner Seminare brachte es so auf den Punkt: In agilen Teams herrscht viel Freiheit, die durch tägliche ‚dailys‘ einen Orientierungsrahmen bekommen. Diese Freiheit wurde jedoch durch seinen Exteamleiter zerstört. Wenn jemand im Team nicht gleich wusste, wie er seine tägliche Arbeit in Worte fassen sollte, meinte dieser „Come on. There must have been something, that you’ve been done.“ Damit wurde die vermeintliche Freiheit doch wieder zur Kontrolle. Das traditionelle Mindset killte sozusagen das moderne Framework.

Das gleiche gilt für viele vermeintlich mitarbeiterfreundliche Strukturen, egal ob sie in einer New Work- oder Feelgoodmanagement-Verkleidung daher kommen. Natürlich ist der oberste Unternehmenszweck Geld zu verdienen oder zumindest zu überleben. Dennoch sollte dies niemals zu einem utilitaristischen Selbstzweck verkommen oder schlimmer noch als Nettigkeit verkleidet werden.

Kein Wunder, wenn manche Mitarbeiter*innen nur noch 80% Leistung als Maximum bieten wollen. Lorbeeren mit Extrameilen sollen sich andere verdienen.

Eine wertebasierte Ethik fördert Loyalität

Wer sich intensiver mit dem Balanceakt zwischen Mitarbeiter- und Kundenorientierung auseinandersetzen möchte, kann ich meinen New-Work-Ansatz ans Herz legen (externer Link). Darin geht es auch um die Grenzen der Kundenorientierung und damit um eine klare wertebasierte Ethik zugunsten der Mitarbeiter*innen, sozusagen um Ausnahmen, um die Menschlichkeit im Unternehmen zu erhalten. Stellen sich Führungskräfte hinter ihre Mitarbeiter*innen, fördern sie auch deren Loyalität. Einer meiner Seminarteilnehmer*innen denkt noch heute an seine ersten Arbeitstage bei einem Unternehmen, als sein Computer nicht richtig funktionierte und sein Teamleiter meinte: „Du machst, was möglich ist und wenn etwas schief läuft, nehme ich das auf meine Kappe“.

Führungskräfte (und Unternehmen) sollten gleichzeitig die provokante Frage jüngerer Mitarbeiter*innen „Warum ist das sinnvoll, was ich gerade mache und muss ich das wirklich tun?“ ernst nehmen und auch ihr eigenes Handeln regelmäßig auf den Prüfstand stellen. Mir scheint jedoch, dass die Abwehr gegen das „Why“ der Generation Y mitverantwortlich für die Abkehr der Generation Z ist.

Gesellschafts- oder Generationenkonflikt

Zudem wird der Generationenkonflikt durch die allgemeine gesellschaftliche Stimmung verschärft. Im Angesicht so vieler Krisen (Umwelt, Corona, Krieg, Rezession) scheint vielen Menschen der Sinn in der Arbeit abhanden gekommen zu sein: „Ein Haus kann ich mir nicht mehr leisten. Ein Auto will ich mir (in der Stadt) nicht mehr leisten. Wofür also die ganze Plackerei?“ Überspitzt könnte man auch formulieren: „Wenn die Welt bald untergeht, will ich doch nicht die nächsten Jahre mit Überstunden verbringen“. Damit steht das Wirtschaftsmodell, das wir seit dem Nachkriegs-Wirtschaftswunder fahren verfolgen insgesamt auf dem Prüfstand.

Das Phänomen des „Quiet Quittung“ hat also nicht nur mit Egoismus zu tun, sondern auch mit Frustration und Depression. Manche kleben sich aus Frust auf Straßen fest. Andere ziehen sich zurück ins Private und machen nur noch das Nötigste, um gut durch das Leben zu kommen.

Arbeit kann auch glücklich machen

Auf der anderen Seite wissen wir, dass Arbeit (in vielerlei Formen) auch glücklich machen kann. Und ist es nicht noch frustrierender, wenn Mitarbeiter*innen lediglich Dienst nach Vorschrift machen, obwohl sie noch ein ganzes Arbeitsleben vor sich haben?

An dieser Stelle kommen Aspekte der „Positiven Psychologie“ (externer Link) zum tragen und damit Instrumente wie:

  • Job Crafting, indem Mitarbeiter*innen sich ihre Aufgaben wo möglich selbst zusammenstellen.
  • Transparente Einbeziehung der Mitarbeiter*innen in Entscheidungen.
  • Fehler respektvoll aufarbeiten und vieles mehr.

Siehe auch meine Zusammenfassung von New Work auf der Basis einer positiven Psychologie.

Das Phänomen des Quiet Quitting ist damit noch lange nicht behoben, da es – wie dargelegt – auch ein kulturelles Thema ist. Ganz machtlos sind Führungskräfte und Unternehmen jedoch auch nicht.

Siehe auch (externer Link) ergänzend.

Der Einfluss von Führung bei einer Zusammenarbeit auf Distanz

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Eine Führung auf Distanz führt dazu, sich als Führungskraft mit dem eigenen Wirkungsgrad und Einfluss auf seine Mitarbeiter*innen auseinander zu setzen. Konkret: Arbeiten meine Leute nur, wenn ich sie kontrolliere oder sind es nicht nur Mitarbeiterende, sondern auch Mitdenkende und Mithandelnde? Doch wie erreiche ich als Führungskraft einen Einfluss, der auch auf Distanz wirkt?

Dazu ist es zuerst einmal wichtig, sich zu verdeutlichen, dass Macht – im Max Weberschen Sinne als Fähigkeit auf das Denken und Verhalten einzelner Personen so einzuwirken, dass diese tun, was ich bzw. mein Unternehmen oder meine Organisation als sinnvoll erachten – eine räumliche Komponente besitzt: Übe ich einen direkten Einfluss auf Mitarbeiter*innen aus, indem ich sie kontrolliere und sanktioniere, ist mein räumlicher Einfluss begrenzt. Sobald meine Mitarbeiter*innen aus dem Sichtfeld geraten, fällt auch mein Einfluss in sich zusammen. Ich habe dann zwar weiterhin Macht, indem ich auf Sanktionen, beispielsweise Kritik bei Fehlern, zurückgreife, kann diese jedoch nur einsetzen, wenn meine Mitarbeiter*innen anwesend sind.

Will ich meine Macht ausdehnen, d.h. konkret meinen räumlichen Einfluss vergrößern, sollte ich als Führungskraft alles dafür tun, dass meine Mitarbeiter*innen sich als Teil von etwas Größerem verstehen. Sie sollten sowohl den Sinn oder die Vision hinter dem, was ein Unternehmen produziert oder als Dienstleistung anbietet, verstehen und gleichzeitig auch den Sinn der eigenen Tätigkeit als Teil des Ganzen erkennen.

Zudem ist es wichtig, dass meine Mitarbeiter*innen auf der Basis eines gegenseitigen Vertrauens und ihres jeweiligen Könnens die Möglichkeit bekommen, ihre Spielräume zu nutzen, um schnell und agil teilautonome Entscheidungen zu treffen.

Wir brauchen also sowohl ein auf Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit basierendes gegenseitiges Vertrauen, als auch die Vermittlung der Sinnhaftigkeit der Tätigkeiten, um den Einfluss einer Führungskraft auch auf Distanz aufrecht zu erhalten oder sogar auszuweiten.

Wie wir uns mental mit der gesamten Welt verbinden, um leichter mit schwierigen Situationen umzugehen

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Was wäre, wenn wir uns mental mit allen Menschen auf der Welt verbinden könnten, die jemals gelebt haben? Im Sinne eines geteilten Leids oder einer geteilten Begeisterung. In der Psychosynthese ist dafür unser Transpersonales Selbst zuständig. Was sich im ersten Moment vielleicht ein wenig esoterisch anhört, wird klarer, wenn wir uns dazu einige Beispiele ansehen.

Bin ich mutig, indem ich beispielsweise trotz möglicher negativer Konsequenzen meine Meinung sage, kann ich mich mit allen Menschen, die jemals mutig waren verbunden fühlen. Mit dem Samurai, der vor Hunderten von Jahren aufgrund eines persönlichen Versagens die Konsequenzen zieht und sich in einem Ritual den kleinen Finger abschneidet. Mit einem Sängerknaben, der zum ersten mal in der Kirche ein Solo singt. Mit einem Teenager, der seinen geliebten Schwarm fragt, ob sie gemeinsam Eis essen gehen wollen. Mit einer Abiturientin bei ihrer Abschlussrede vor der gesamten Schule. Sogar mit Winston Churchill, der auf die Klausurfrage „Was ist Mut“ lediglich das Wort „Das“ hingeschrieben haben soll. Oder mit einer ganz „normalen“ Bürgerin, die einen anderen Menschen im Ahrtal aus den Fluten rettete. Mit all diesen Menschen können wir uns verbunden fühlen, wenn wir selbst etwas Mutiges tun oder einige Minuten über die Frage „Was ist Mut?“ philosophieren.

Das gleiche funktioniert selbstredend mit vielen anderen menschlichen Empfindungen wie Liebe, Dankbarkeit, Trauer, Enttäuschungen, Schmerzen, Begeisterung oder Durchhaltevermögen, um nur eine kleine Auswahl zu nennen.

Bin ich verliebt, kann ich mich mit allen jemals Verliebten oder Liebenden verbunden fühlen. Mit der himmelstürmenden ersten Liebe von Teenagern. Mit der reifen Liebe eines alternden Ehepaars. Mit der elterlichen Liebe zu ihren Kindern. Mit der Liebe eines kleinen Kindes zu seinem Haus- oder Stofftier. Oder mit der Liebe eines vermeintlichen Sonderlings zu seinem Hobby (wer gerade auf der Suche nach einem exotischen Hobby ist oder Ideen für seine Bewerbung braucht: externer Link).

Bin ich dankbar, kann ich mich mit jeglicher Dankbarkeit verbunden fühlen, die jemals auf der Welt stattfand. Dankbar, dass ein Freund einen kranken Freund besucht. Dankbar, dass ein Team so leidensfähig ist. Oder dankbar dafür, eine schlimme Krankheit überlebt zu haben.

Bin ich begeistert, kann ich mich mit allen jemals Begeisterten verbunden fühlen. Mit jubelnden Massen in einem Fußballstadion. Mit den Gewinner*innen einer Wahl. Oder mit einem Projektteam, das mehr erreichte als es zuvor dachte.

Bin ich traurig, enttäuscht oder habe Schmerzen, kann ich mich mit allen Menschen der Welt verbunden fühlen, die jemals traurig und enttäuscht waren oder Schmerzen empfunden haben. Mit der Trauer nach einer Trennung von einem langjährigen Partner oder Freund. Mit der Enttäuschung über eine verpasste Chance. Oder mit dem Kreuzbandriss der Fußballerin, die ich neulich im Fernsehen sah. Man könnte auch halb-scherzhaft formulieren: Zahnschmerzen alles Länder, vereinigt euch!

Halte ich bei einer schwierigen Aufgabe durch, kann ich mich mit allen tapferen Menschen vor mir und während meines Lebens verbinden. Mit den belagerten Menschen einer Stadt im Mittelalter. Mit einem Vater, der sein bockiges Kind bei den Hausaufgaben begleitet. Oder mit einer Kundenbetreuung, die für einen anspruchsvollen Schlüsselkunden zuständig ist.

Wir sehen also, dass es gar nicht so schwer ist, sich eine Verbindung mit anderen Menschen vorzustellen. Wir müssen dazu lediglich ein paar Minuten über die Frage „Was ist Mut?“, „Was ist Tapferkeit?“ oder „Was ist Trauer?“ meditieren oder philosophieren.

Ein spiritueller Mensch könnte nun sagen: Feine Sache. Ein weniger spiritueller Mensch könnte sich jedoch fragen, was ihm das bringt. Abgesehen von der nicht unbedingt menschenfreundlichen utilitaristischen Sichtweise, ist das tatsächlich eine spannende Frage. Neben der naheliegenden Antwort, dass durch derlei Verbindungen Menschen wieder zueinander kommen, das Verständnis füreinander größer und das Konfliktpotential auf der Welt kleiner wird, gibt es noch die Antwort, durch höhere, transpersonale Verbindungen die eigene Stärke zu stärken.

Stellen wir uns dazu vor, Sie stehen tatsächlich vor einer großen Herausforderung und wissen nicht, wie Sie diese meistern sollen. Was wäre, wenn Sie nicht nur Ihren Mut, sondern den gesamten „kosmischen“ Mut zusammen nehmen könnten, der jetzt und jemals existierte? Wenn nicht nur Sie selbst durchhalten, sondern jeder Mensch, der jemals in einer ähnlichen Situation war, hinter Ihnen stünde und Ihnen bei Ihrer Herausforderung beisteht? Wenn Sie nicht alleine trauern müssten, sondern jeder Mensch, der jemals trauerte, seine Trauer mit Ihnen teilt? Damit lässt sich auch erklären, warum manche Menschen zu Außergewöhnlichem fähig sind, obwohl sie rein faktisch nichts von anderen Menschen unterscheidet.

Wenn in esoterisch-spirituellen Büchern davon die Rede ist, dass ein „Es“ aus uns spricht, ist vielleicht genau das der Hintergrund: Sich über eine Art erweiterte Spiegelneuronen miteinander zu verbinden, um gemeinsam stärker zu sein. Oder wie sonst ist der Spruch der Liverpool-Hymne „You’ll never walk alone“ gedacht?

Literatur

Piero Ferrucci – Werde was du bist