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Newtro Work

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Das Kunstwort Newtro ist zusammengesetzt aus new und retro, sprich neu und alt gleichzeitig. Aktuell sind beispielsweise Falthandys wieder im Kommen. Das Falten verdeutlicht das bewusste Abschalten des Handys, während die Technik freilich hochmodern ist.

Vielleicht sind solche Mischwörter ja ein Zeichen der Zeit – denken wir an die „Neue Normalität“ – und symbolisieren unser Bedürfnis nach ein wenig Stabilität in einer hektischen Welt ständiger Veränderungen.

„Newtro Work“ brauchen Sie nicht in eine Suchmaschine einzutippen. Diese Zusammensetzung habe ich gerade erst erfunden und darf gerne Karriere machen.

Als ich den Begriff Newtro las, kamen mir jedoch sofort die Diskussionen aus meinen Führungstrainings in den Sinn. Das zentrale Hauptthema lautet derzeit „Wie halten wir die Bindung und den Austausch untereinander in Zeiten einer hybriden Zusammenarbeit und hohen Fluktuation aufrecht?“

Die Brainstormings dazu in meinen Seminaren ergeben folgende Ideenliste:

  • Regelmäßige Face-to-Face-Treffen
  • Den Stammtisch reaktivieren
  • Die Fußballmann(und frau)-schafft reaktivieren
  • Mal wieder Bowlen gehen
  • Gemeinsames Mittagessen
  • Regelmäßige Aktionstage in Präsenz
  • Regelmäßige kurze Feedbackgespräche zwischen Chef*in und Mitarbeiter*in
  • Gezielt manche Besprechungen in Präsenz abhalten
  • Gemeinsame virtuelle Mittagspausen
  • Geburtstagsfeiern in Präsenz
  • Fehlerbesprechungsrunden in lockerer Atmosphäre mit Kaffee und Kuchen
  • Mehr Struktur in Online-Meetings
  • Klare Ziele, klare Planungen, sauberes Delegieren
  • Regelmäßige Teambildungs-Events

Mehr retro geht kaum.

Auch wenn junge Bewerber*innen häufig am liebsten sofort ins Homeoffice möchten, sind die Zahlen einiger meiner Auftraggeber, was das Homeoffice angeht eher wieder rückläufig. Die Kolleg*innen vermissen sich. Nach der Extremversion zu Corona-Zeiten pendelt sich offensichtlich eine neue Neue Normalität ein. Ob es dazu noch einen weiteren Begriff braucht? Keine Ahnung. Spannend ist es in jedem Fall, darüber nachzudenken, wie viel Altes das Neue braucht, damit Mitarbeiter*innen in Veränderungen mitziehen. Und manchmal ist das Alte eine feine Sache. Ist Fußball spielen mit den Kolleg*innen nicht so cool wie Funkmusik aus den Siebzigern? Retro eben.

Nachhaltige Veränderungen brauchen Struktur und Haltung

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Was Agilität und Homeoffice mit Materialismus und Idealismus zu tun haben

Materialismus versus Idealismus

Wenn es um große Veränderungen in der Gesellschaft geht, gibt es zwei Strömungen. Die eine steht in der Tradition des marxistischen Materialismus und geht davon aus, dass Strukturen verändert werden müssen. Die andere beruft sich auf den Hegelschen Idealismus und geht davon aus, dass sich v.a. das Bewusstsein verändern sollte.

Wer materialistisch denkt ist beispielsweise für eine Frauenquote in Unternehmen. Wer hegelianisch denkt, versucht, Vorurteile gegenüber Frauen aufzudecken. Beide Vorgehensweisen haben Vor- und Nachteile: Wer lediglich eine Frauenquote für Führungspositionen einführt, sorgt zwar dafür, dass mehr Frauen in der Führung präsent sind. Bleibt die Veränderung jedoch auf der Strukturebene stehen, kann es sein, dass Frauen ihre Karriere geneidet wird und diese sich mehr anstrengen (müssen) als Männer, um gegen bewusste oder unbewusste Vorurteile anzukämpfen.

Die Wirkmächtigkeit solcher Vorurteile untersuchte insbesondere der französische Soziologe Pierre Bourdieu. Für nachhaltige Veränderungen reicht es also nicht aus, lediglich Strukturen zu verändern, wie im Falle der Frauenquote eine Regel einzuführen Als Ergänzung braucht es die Beschäftigung mit Bewertungen, Neigungen und typischen Verhaltensweisen, als Bündel bei Bourdieu Habitus genannt:

  • Was verbindest du eher mit Leistung und Zuverlässigkeit: Männer oder Frauen?
  • Was verbindest du eher mit Emotionalität: Männer oder Frauen?
  • Wer ist eher für eine Führungsposition geeignet: Männer oder Frauen?
  • Wen würdest du eher als Kolleg*in wählen: Einen Mann oder eine Frau? Usw.

Die Fragen erscheinen plump, insbesondere wenn wir der Meinung sind, gesellschaftlich weiter zu sein, was Egalität angeht. Zudem lassen sich sicherlich elegantere Fragen stellen. Doch auch wenn sich Strukturen in der Praxis bereits verändert haben, hängt unsere Geisteshaltung oft viele Jahre hinterher. Es kann also nicht schaden, zumindest darauf aufmerksam zu machen, dass wir häufig noch nicht so weit sind, wie wir uns das eigentlich wünschen oder es gesellschaftspolitisch erwartet wird.

Materialismus und Idealismus als Streitpunkt in Veränderungen

Die Unterscheidung zwischen Materialismus und Idealismus erscheint simpel, bildet jedoch die Grundlage vieler heftig geführter Debatten. Während die eine Seite am liebsten alle Reiterstandbilder aus kolonialistischen Vorzeiten abreißen, jedes N-Wort aus Büchern und Lesungen verbannen und bei Personenbezeichnungen einen Genderstern dazu basteln will, behauptet die andere Seite, dass damit noch lange nichts erreicht ist. Denn nur weil wir Ungerechtigkeiten mit Strukturveränderungen bekämpfen, sind sie nicht aus der Welt geschafft.

Auf den ersten Blick erscheinen die oben genannten Beispiele wie eine Strukturveränderung. In Wirklichkeit folgen sie jedoch dem (jugendlichen) Idealismus, mit Worten die Welt zu verändern. Tatsächlich verändert Sprache unser Denken und unseren Blick auf die Welt (Ideal = lateinisch „dem Urbild entsprechend“) und schafft damit eine zukünftige, andere Wirklichkeit. Bis dahin bleiben jedoch die aktuellen Strukturen unangetastet, bspw. Hungerlöhne und Kinderarbeit in der 3. Welt, auch wenn es seit einigen Jahren offiziell „Eine Welt“ heißt. Der strukturelle Rassismus geht also weiter, egal ob wir das N-Wort benutzen oder nicht.

Und was hat das alles mit Agilität zu tun?

Machen wir zum Ende dieses Artikels noch einen kurzen Schwenk zurück in die Arbeitswelt. Was hat nun Agilität mit der ganzen Diskussion um Materialismus und Idealismus zu tun?

Agile Führung setzt an zwei Fronten an:

  • Zum einen sollte sich das Mindset von Führungskräften verändern. Sie sollten insbesondere mehr mit Vertrauen führen und Prozesse wie auch sich selbst transparenter machen, um das Vertrauen ihrer Mitarbeiter*innen zu gewinnen. Dieser Ansatz ist zutiefst idealistisch. Oder wie En Vogue 1992 sangen „Free your mind and the rest will follow“. In der Ursprungsversion von Funkadelic 1970 hieß es übrigens noch „Free your mind and your ass will follow“. Auch schön.
  • Zum anderen gibt es mit Scrum, Objectives & Keyresults (OKR) oder Design Thinking Frameworks mit festen Strukturen aus Ritualen (Dailys, Weeklys, Reviews, Retrospektiven), Rollen (Scrum-Master, Product-Owner), Prinzipien und Regeln (Agiles Manifest, Design Thinking-Regeln). Dieser Ansatz ist zutiefst strukturell.

Dieses Zusammenspiel ist nicht nur in agilen Projekten und einer agilen Führung sinnvoll, sondern sollte in jeder Veränderung mitgedacht werden, um eine psychologisch-strukturelle Sicherheit zu bieten und Rückschläge zu vermeiden.

Mindset und Struktur im Homeoffice

Wer beispielsweise die Zusammenarbeit auf Distanz nachhaltig gestalten will, sollte neben dem Mindset des Vertrauens und der Transparenz folgende Strukturen klären bzw. vorgeben:

Richtlinien:

  • Chatten zur Bindung auf Distanz sollte erwünscht sein.
  • Erreichbarkeiten sollten transparent gemacht werden.
  • Bei den Einarbeitungszeiten muss geklärt werden, was im Homeoffice möglich ist und wofür es Präsenzzeiten braucht.

Regeln:

  • Verbindliche Kernzeiten und Erreichbarkeiten müssen klar sein.
  • Rückrufe sollten innerhalb … stattfinden.
  • Missverständnisse sollten frühzeitig und besser in Präsenz geklärt werden.
  • Wer krank ist, ist krank und arbeitet auch nicht im Homeoffice.
  • Nach … Uhr werden keine eMails mehr verschickt / beantwortet.

Rituale:

  • Regelmäßige Aktionstage dienen der Bindung im Team.
  • Fehler werden regelmäßig reflektiert und aufgearbeitet.

Literatur:

Jana Glaese – Was heißt hier Struktur? In: Philosophie Magazin 06/2023

Über den Umgang mit Erwartungen, u.a. junger Mitarbeiter*innen

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Es ist beinahe egal, in welchem Kontext ich tätig bin. Fast immer taucht die Frage nach dem Umgang mit Erwartungen und Forderungen nicht nur, aber insbesondere junger Menschen in der Arbeitswelt auf:

  • „Ich hätte gerne einen Homeofficearbeitsplatz, und zwar sofort mit Dienstantritt.“
  • „Ich möchte eigentlich nur Teilzeit arbeiten und Führung ist ohnehin nichts für mich.“
  • „Überstunden sind auch nichts für mich.“

Selbst in Universitäten geht die Angst vor hohen Forderungen um:

  • „Meine Aufmerksamkeitsdauer ist gering. Bespaße mich wie auf TikTok.“
  • „Ich hätte gerne mein Bachelor-Arbeit-Thema frei Haus und eine Literaturliste gleich mit.“

Wie also können oder sollten Unternehmen und Führungskräfte mit solchen Erwartungen umgehen?

1. Wohlwollens-Bonus

Woher wissen wir eigentlich, dass es sich bei einer Erwartung der Mitarbeiter*innen um eine unverschämte Forderung handelt? Viele Forderungen entstehen aus Unwissenheit über die Funktionsweise eines Unternehmens. Umso wichtiger ist es, die systemischen Bedingungen einer guten und erfolgreichen Arbeit zu (er)klären.

2. Klärung der systemischen Bedingungen

Beispiel Universität

Wer als Studierende/r erwartet, Literaturlisten für ein Seminararbeitsthema frei Haus zu bekommen, befindet sich geistig noch in der Schule. Zur universitären Ausbildung gehört dazu, nicht nur ein Thema sauber zu erarbeiten, sondern auch selbständig zu arbeiten.

Beispiel Homeoffice

Bei manchen Tätigkeiten ist es klar, dass sie nicht zuhause stattfinden können. Ein Hausmeister kann Glühbirnen nicht aus der Ferne wechseln. Bei anderen Tätigkeiten besteht Diskussionsbedarf. Ein Kreativ-Team, das eng zusammen arbeitet und auf ein schnelles, gegenseitiges Feedback angewiesen ist, arbeitet i.d.R. reibungsfrei aus der Ferne zusammen, wenn die Teammitglieder sich bereits gut kennen. Wenn nicht, wird es zumindest schwieriger. Gerade Neulinge tun sich schwer damit, auf Distanz ein soziales Netzwerk im Unternehmen aufzubauen. Bei konflikthaften Themen ist es ebenso hilfreich, mein Gegenüber auf der anderen Seite einer Leitung einschätzen zu können. Auch wenn sich Ziele oder Aufgaben eher qualitativ als quantitativ beschreiben lassen, ist es hilfreich, auf schnelle Kommunikationswege inklusive Mimik und Gestik vor Ort zu setzen. Es gibt also eine Menge systemische Gründe, warum es sinnvoll ist, Homeoffice nicht von Anfang an bis zu der offiziell erlaubten Grenze anzubieten.

3. Klärung der eigenen Erwartungen

Zu führen bedeutet immer auch, Erwartungen zu haben und diese seinen Mitarbeiter*innen zu vermitteln:

  • Erwartungen an sich selbst als gute Führungskraft
  • Erwartungen an die Qualität der Arbeit
  • Erwartungen zu bestimmten Zielerreichungen
  • Erwartungen an die Zusammenarbeit im Team
  • Erwartungen an einen guten Umgang mit Kund*innen
  • Erwartungen an den Arbeitsethos der Mitarbeiter*innen, also Disziplin, Zuverlässigkeit, Beharrlichkeit, usw.

Bei einer solchen Vielzahl an Erwartungen ist es hilfreich, diese in eine Ordnung zu bringen:

Daran lassen sich fünf Aufgaben für Führungskräfte ablesen:

  1. Mitarbeiter*innen verdeutlichen, wie die Ziele ihrer Arbeit aussehen.
  2. Mitarbeiter*innen ihre Erwartungen an eine gute Arbeitsleistung zur Erreichung der Ziele mitteilen.
  3. Wahrnehmen und bewerten, ob die Arbeitsleistung ausreicht, um die Ziele zu erreichen und entsprechende Rückmeldungen geben.
  4. Wenn notwendig, die Vernetzung der Mitarbeiter*innen untereinander anbahnen bzw. Teambildung betreiben.
  5. Wahrnehmen und bewerten, ob die Teambildung ausreicht, um gemeinsame Ziele möglichst reibungsfrei zu erreichen und gegebenenfalls Teambildungsmaßnahmen durchführen.

Bezogen auf die Erwartungshaltung von Mitarbeiter*innen, so schnell wie möglich ins Homeoffice zu gehen, gilt es also, zu verdeutlichen, dass Führungskräfte wissen müssen, ob ein bestimmter Arbeitsethos vorhanden ist und ob bei einer Teamarbeit der Teamzusammenhalt funktioniert. Dazu braucht es auf Distanz zumindest zu Beginn einen engeren Austausch als in Präsenz. Vor Ort sehe ich als Führungskraft wie meine Mitarbeiter*innen arbeiten und miteinander interagieren. Auf Distanz brauche ich die proaktiven Rückmeldungen meiner Leute. Es braucht also zuerst Informationen, bevor Erwartungen erfüllt werden können.

Fazit: Warum eine klare Linie wichtig ist

Ich plädiere im Umgang mit hohen Erwartungen grundsätzlich für eine klare Linie sowohl in der Führung als auch unternehmensübergreifend. Derzeit höre ich häufig in meinen Führungstrainings, in welchem Spagat sich Führungskräfte bereits in Bewerbungsgesprächen befinden:

„Wenn wir zu viel verlangen, bekommen wir gar niemanden mehr.“

Damit verleugnen sich Unternehmen jedoch selbst. Es spielt dann keine Rolle mehr, ob eine gute Leistung erbracht wird, sondern nur noch eine Stelle zu besetzen. Wenn wir dieses Vorgehen gedanklich weiterspinnen, haben Unternehmen irgendwann einmal im Extremfall nur noch Stellen mit wechselhaften, leistungsverweigernden Mitarbeiter*innen besetzt. Doch bereits jetzt hat dieses Vorgehen Auswirkungen auf die restliche Belegschaft, weil damit die Arbeitsmoral der restlichen Belegschaft nach unten gezogen wird. Genau deshalb ist eine klare Linie wichtig:

  • Welche Erwartungen stellen wir an eine gute Arbeit?
  • Welche Erfordernisse bringt die Arbeit mit sich? Ist in diesem Fall Homeoffice möglich und sinnvoll, oder nicht?
  • Welche Erwartungen stellen wir an eine gute Zusammenarbeit und wie wird diese erreicht?

Klare Linien sollten jedoch keine starren Linien, sondern Orientierungen sein. Dies lässt sich gut an Dienstvereinbarungen zum Thema Homeoffice verdeutlichen. Dort heißt es häufig „Ein mobiler Arbeitsplatz ist bis zu 70% möglich“. Sind die Bedingungen gut (klare Ziele, Delegationen möglich, hoher Arbeitsethos, gute Zusammenarbeit), spricht also nichts dagegen. Ob die Bedingungen gut sind, müssen jedoch die verantwortlichen Führungskräfte beurteilen. Umso wichtiger ist es für Führungskräfte, sich neben den Anforderungen an eine gute Arbeit auch mit den eigenen Erwartungshaltungen auseinander zu setzen.

Sich treiben lassen als Entspannungsmethode

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Vielbeschäftigte Macher*innen tun sich oft schwer damit, einfach mal nichts zu entscheiden. Denn in vielen vermeintlich harmlosen Situationen treffen sie dann doch eine Entscheidung: Welche Musik wähle ich zum Entspannen aus? Wo wollen wir zum Essen hingehen? Wo will ich spazieren gehen? Was kaufe ich zum Kochen ein? Wir lassen uns auch nicht mehr vom Fernseher berieseln, sondern entscheiden im Minutentakt, welche Filmchen wir uns im Internet ansehen wollen. Egal, wohin man blickt, überall Entscheidungen. Entscheidungen jedoch erfordern Energie, ein Nachdenken über und eine Fokussierung auf die aktuelle Situation, eine mindestens unbewusste Beschäftigung damit, wer ich bin oder sein will und oft auch die Kraft, sich gegen Widerstände zu behaupten. Und: Wer entscheidet, übernimmt auch die Verantwortung, wenn etwas schief geht.

Es ist also gar nicht so einfach, von den täglich tausenden Entscheidungen Abstand zu nehmen, um seinen Gedanken ein wenig Ruhe zu gönnen.

Eine Möglichkeit dazu bietet das „Sich treiben lassen“. Stellen Sie sich vor, Sie verbringen ein paar Tage in einer spannenden Stadt. In Prag vielleicht oder Florenz. Sie checken in Ihr Hotel ein, machen sich frisch und tauchen anschließend gut gelaunt ein in die Menschenmenge. Sie haben jedoch überhaupt kein Ziel und keinen Plan, was Sie sich ansehen wollen. Daher stört es Sie auch nicht, sich mit dem Strom treiben zu lassen. Fällt Ihnen ein schönes Gebäude auf oder ein Denkmal, treten Sie aus dem Strom heraus und bleiben stehen. Dann reihen Sie sich wieder ein. Gefällt Ihnen eine romantische Gasse, folgen Sie Ihrem inneren Impuls. Haben Sie Hunger, erkunden Sie die Gegend nach einem Imbiss oder Restaurant.

Hätten Sie klare Ziele und einen klaren Besichtigungsplan, müssten Sie ständig darauf achten, die richtige Straße zu erwischen und oft auch gegen den Strom anschwimmen. So jedoch können Sie sich ganz entspannt treiben lassen, bis Sie genug davon haben.

Würden Sie sich den ganzen Tag treiben lassen oder sogar mehrere Tage, wäre das sicherlich zum einen ebenso anstrengend, zum anderen vermutlich frustrierend. Immerhin haben Sie die weite Reise unternommen, um sich ein paar spezifische Sehenswürdigkeiten anzusehen. Aber für ein paar Stunden die Kontrolle abgeben … Warum nicht?

Solche „Sich treiben lassen“-Situationen gibt es auch im (Arbeits-)Alltag: Beim Spaziergang durch den Wald, beim Schlendern durch einen Supermarkt, in Diskussionen und Gesprächen oder beim Smalltalk mit Kolleg*innen auf dem Gang. Warum nicht nach einem Termin eine U-Bahn-Station früher aussteigen und durch die Straßen schlendern? Warum nicht bei der Frage, wo es zum Mittagessen hingehen soll, andere entscheiden lassen?

Was also hindert uns daran, einfach mal für ein paar Minuten nichts zu entscheiden und uns treiben zu lassen?

Wie umgehen mit dem Motivationsknick junger Mitarbeiter*innen?

Es steht schlecht um die Motivation vieler Mitarbeiter*innen. So zumindest lautet die ein oder andere Aussage in meinen Führungstrainings. Das Thema Motivation war lange Zeit kein wirkliches Thema. Jetzt steht es allerdings wieder ganz oben auf der Agenda oder auch auf der Frustrationsliste vieler Führungskräfte (siehe auch hier).

Grund genug, sich dieses schwierige Thema genauer anzusehen. Warum also sind viele Mitarbeiter*innen eher unmotiviert?

Ein Schlüssel zu möglichen Lösungsansätzen bietet uns der Begriff des Willens. Wer in einem Lexikon für Synonyme den Begriff Willen eingibt, stößt neben dem Begriff der Motivation auf eine Vielzahl anderer Begriffe. In eine Ordnung gebracht, könnte diese so aussehen:

Ein Mensch setzt sich erst handelnd in Bewegung, wenn er …

  1. … einen inneren Antrieb hat, etwas zu tun. Er braucht also Energie, Motivation, Lust und das Potenzial dazu. Ob ich einen inneren Antrieb habe oder wenn nicht, warum das so ist, ist eher spürbar als bewusst.
  2. Als zweites braucht er eine Bewusstheit über seine möglichen Handlungen. Er kann sich seine Wünsche vorstellen, eine Vision von einer veränderten Zukunft haben und einen entsprechenden Plan zur Umsetzung aufstellen.
  3. Bei der Umsetzung seines Willens braucht er Beharrlichkeit, Ausdauer und Geduld, insbesondere um innere, oftmals unbewusste Widerstände wie Aufschieberitis oder Zweifel anzugehen. Oft braucht es auch ein Gespür für den passenden Moment.
  4. Und schließlich verlangt die Durchsetzung des eigenen Willens im Umgang mit äußeren Widerständen Mut, Durchsetzungskraft und evtl. Verhandlungsgeschick.

Oder wie es der Philosoph Peter Bieri formuliert: Es braucht den Wunsch etwas zu tun, die Überzeugung, dass ich es tun kann, die Überlegung, wann ich meinen Wunsch in die Wirklichkeit umsetzen kann und die Bereitschaft zu handeln, wenn sich die Gelegenheit ergibt.

Übertragen wir diese vier verschiedenen Ansätze auf unmotivierte Mitarbeiter*innen, stellt sich die große Frage, woran das, was wir bislang der Einfachheit halber Motivation nannten eigentlich scheitert:

  1. Fehlt es grundsätzlich an der Energie, ins Handeln zu kommen? Wenn ja, woran liegt das?
  2. Liegt es an einer konkreten Vision, die dem Handeln vorausgehen sollte, um es zu einem gewollten Handeln zu machen?
  3. Liegt es am Durchhaltevermögen, etwas Angefangenes so sehr zu wollen, dass es auch zu Ende gebracht wird?
  4. Oder liegt es an der Durchsetzungskraft, das Gewollte gegen äußere Widerstände zu verteidigen?

Am vierten Punkt scheint es mir nicht zu liegen. Gerade junge Menschen lernen i.d.R. in der Schule mehr als früher, wie man oder frau für sich einsteht und sich und seine Pläne gut verkauft. Konzentrieren wir uns daher auf die anderen drei Punkte:

  1. Während frühere Generationen noch eine Aufbruchstimmung mitbrachten (Stichworte: Ich-AGs, das Internet demokratisiert die Welt, usw.), hat die Energie in den letzten Jahren stark gelitten. Die Nachrichten suggerieren uns überdeutlich, dass die Welt als Gesamtes nicht mehr zu retten ist. Das Prinzip, dass nur schlechte Nachrichten gute Nachrichten sind, wurde in der Digitalisierung perfektioniert. Das jedoch prägt die Stimmung junger Menschen enorm: Warum soll ich mich bemühen, wenn wir sowieso am Abgrund stehen? Eine Es-gibt-keine-Alternative-Politik und Algorithmen, die uns im Sinne eines quasi unvermeidlichen Determinismus Entscheidungen abnehmen, sind hierbei sicherlich nicht hilfreich.
  2. An dieser Stelle muss der Begriff der Bürokratie fallen. Selbst wenn die Energie zu einer Handlung vorhanden ist, merken Mitarbeiter*innen schnell, ob echte, willensgesteuerte Handlungen überhaupt möglich bzw. gewollt sind. Macht ein Unternehmen beispielsweise eine Mitarbeiterumfrage, während anschließend weder eine Rückmeldung noch Veränderung erfolgen, hat es sich mit der Motivation in der Belegschaft schnell erledigt. Wenn der Satz „die betrieblichen Umstände ließen es nicht zu“ regelmäßig als Argument eingesetzt wird, braucht es auch kein Lamentieren über eine mangelnde Motivation.
  3. Auch hier hat sich über die Jahrzehnte hinweg etwas Entscheidendes verschoben. Viele unge Menschen wollen heute nicht mehr wie früher in die Tiefe einer Tätigkeit eindringen. Es reicht ihnen oftmals, Tätigkeiten grob zu verstehen. Die Beharrlichkeit, die ältere Generation noch hatten, hat offensichtlich deutlich gelitten.

Was also lässt sich dem entgegen setzen:

Handlungsfeld Innerer Antrieb

  • Eine differenzierte Sichtweise: Vielleicht geht die Welt wirklich eines Tages unter. Dennoch macht es einen Unterschied, ob das Morgen ist oder in 50 Jahren. Auf Unternehmen übertragen macht es auch einen Unterschied, ob wir uns engagieren oder nicht. Hier lässt sich beispielsweise mit der Szenariotechnik arbeiten: Was wäre, wenn wir komplett unmotiviert sind? Was wäre, wenn wir uns gerade mal so engagieren? Und was passiert, wenn wir uns mächtig ins Zeug legen? Welche Szenarien sind dann wahrscheinlich? Selbst wenn die Spielräume gering sind: Die Zukunft ist nicht vorbestimmt.
  • Fokus auf Mögliches: Gleichzeitig macht es einen Unterschied, ob ich mich – bis zum Weltuntergang – dennoch engagiere oder nicht. Wenn schon nicht für die eigene Würde, so macht es zumindest bei der Erfüllung von Aufgaben einen Unterschied, ob ich mich auf das konzentriere, das mich frustriert oder darauf, was sofort und ohne Unterstützung anderer umgesetzt werden kann.
  • Der persönliche Unterschied, der einen Unterschied macht: Führungskräfte sollten in diesem Sinne auch Mitarbeiter*innen selbst ab und an die Rückmeldung geben, dass es einen positiven Unterschied macht, dass sie da sind.
  • Gut sein versus richtig gut sein: Der Impuls junger Menschen, viel Neues kennen zu lernen und daher schneller zu wechseln zwischen Tätigkeiten und Jobs ist vor dem Hintergrund ihres Aufwachsens mit digitalen Medien nachvollziehbar. Gerade deshalb sollte ihnen die Frage gestellt werden, was sie wirklich wollen: Gut sein oder wirklich gut sein? Wer gut ist, kann eine Aufgabe gut erfüllen. Wer jedoch wirklich gut ist, wird mit höherer Wahrscheinlichkeit Karriere machen. Auch wenn die Lust zu Führung und Karriere bei vielen jungen Menschen nicht mehr vorhanden ist, vielleicht lässt sie sich dennoch bei der ein oder dem anderen wieder erwecken. Immerhin macht es einen riesigen Spaß, eine Tätigkeit wirklich zu durchdringen. Das wiederum erfordert nun mal Blut, Schweiß und Tränen.

Handlungsfeld Ideen der Mitarbeiter*innen

  • Bürokratie abbauen: Wenn jüngere Menschen fragen, warum etwas so getan werden muss wie es getan wird, braucht es für die Antwort darauf mindestens ein gutes Argument. Andernfalls könnte es sich um eine Regel handeln, die sich überlebt hat. Solche Regeln lassen sich auch systematisch überarbeiten mit der Kill-a-stupid-rule-Methode (externer Link).
  • Ideen ernst nehmen: Führungskräfte sollten ihre Mitarbeiter*innen nur nach deren Meinung fragen, wenn sie die Antworten auch verwerten. Natürlich ist Mitarbeit kein Wunschkonzert. Führungskräfte sollten sich deshalb sehr gut überlegen, wo ein Mitdenken wirklich erwünscht und möglich ist und wo nicht.
  • Konzepte der Mitgestaltung nutzen: Mitarbeiter*innen wollen i.d.R. nicht bei allem mitsprechen, sondern lediglich ein wenig. Wenn es jedoch möglich und gewollt ist, braucht es strukturierte Konzepte, um einen tragfähigen Gruppenkonsens zu finden. Eine solche Methode ist das Systemische Konsensieren (externer Link). Das Systemische Konsensieren nutze ich u.a., wenn es in Teams um die Nutzung von Räumlichkeiten geht.

Handlungsfeld Durchhaltevermögen

  • Beharrlichkeit trainieren: Beharrlichkeit, Durchhaltevermögen und Ausdauer lassen sich auch im Alltag trainieren, begonnen bei Kleinigkeiten, beispielsweise solange bei einer Aufgabe zu bleiben, bis ein zuvor eingestellter Wecker klingelt, Stichwort: Pomodoro-Technik. Solche Techniken sind häufig Teil von Zeitmanagement-Trainings, die im Zuge der Motivationsthematik in den letzten Jahren eine Renaissance bekamen.
  • Präsente Führung: Die Präsenz in der Führung hat durch das Homeoffice stark gelitten. Derzeit gibt es jedoch den Trend, zurück an den Arbeitsplatz zu kommen, v.a. weil die Beteiligten merken, dass die Bindung auf Distanz zu sehr leidet. Dies bietet auch Führungskräften die Möglichkeit, wieder mehr physische Präsenz zu zeigen, indem sie mit echter Neugier insbesondere junge Mitarbeiter*innen begleitet. Dies erfordert sicherlich bei dem ein oder anderen Fall eine Menge Geduld, zahlt sich jedoch langfristig aus.

Wie sehen also: Unmotivierte Mitarbeiter*innen sind zwar anstrengend, es gibt jedoch eine ganze Menge Möglichkeiten, damit umzugehen.

Literatur:

Peter Bieri – Das Handwerk Freiheit

Piero Ferrucci – Werde was du bist