Warum wir die Bindung jüngerer Generationen an Unternehmen komplett neu denken sollten

Zusammenfassung: Wer jüngere Generationen verstehen will, um entsprechende Schlüsse für Bindungsangebote in Unternehmen zu ziehen, kommt an zwei Erkenntnissen nicht vorbei:

  1. Außenwirkung: Die Identität junger Menschen ist so stark wie noch nie von einer digitalen Außenwirkung geprägt.
  2. Fomo: Gleichzeitig haben sie aufgrund des Überangebots an Möglichkeiten das steitge Gefühl, etwas zu verpassen (fomo = fear of missing out), sobald sie etwas als sinnlos erleben oder sich festlegen sollten.

Bringen wir diese beiden Erkenntnissen zusammen, sind junge Menschen einerseits durch ihre Außenorientierung auf der Suche nach Vernetzung, Solidarität oder Bindung, haben andererseits jedoch Angst davor.

Aus diesem Grund schrecken klassische Unternehmensangebote von Karriereleitern bis hin zu Grillabenden viele junge Menschen eher ab. Bindungsangebote von Unternehmen sollten daher komplett neu gedacht werden.

A. Selbstfindung vs. Außenorientierung

Die Generation X (geboren ca. 1965–1980) wuchs in einer Phase der Individualisierung und Selbstverwirklichung auf. Spätestens in den 90ern wurden Ideen aus der Psychotherapie, Selbsthilfe, Identitätsarbeit und „Innere Kind“-Diskurse massenwirksam. Gleichzeitig fand die Maxime des Neoliberalismus, etwas aus sich zu machen, breiten Anklang, nicht zuletzt in Ich-AGs.

Die Generationen Y, Z und Alpha wuchsen in einer Welt auf, in der die eigene soziale Identität orientiert an TikTok-Trends in Chats, Communities oder Online-Freundeskreisen im stetigen Austausch entsteht. Der Raum zur Selbsterkundung ist wesentlich geringer als noch in den 90ern. Identität wird weniger intern erarbeitet, sondern stetig synchronisiert mit relevanten Bezugsgruppen.

Was oft als schamlos wahrgenommen wird, z.B. eine sehr direkte Selbstdarstellung auf Social Media Kanälen, ist letztlich ein Mittel, Anschluss zu finden oder gesehen zu werden, immer auf Suche nach der eigenen Identität.

Gleichzeitig nimmt die gefühlte Einsamkeit junger Menschen zu. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn drei Punkte betrachtet werden:

  1. Digitale Nähe ist nicht automatisch emotionale Nähe: Junge Menschen sind ständig mit anderen Menschen in Austausch. Dennoch fühlen sich viele unsicher gebunden. Sie pflegen viele Kontakte, haben aber nur wenige wirklich vertraute Beziehungen. Sie sind immer erreichbar, aber selten tief im Kontakt mit anderen.
  2. Höhere Erwartungen: In einer Kultur der ständigen Selbstoptimierung und des Nach-oben-Vergleichens (Wer ist besser? Wer hat mehr? Wem geht es besser?) kommt schnell das Gefühl auf, nicht gut (fleißig, hübsch, …) genug zu sein.
  3. Der Verlust stabiler sozialer Milieus: Früher war die Familie vor Ort. Es gab einen Sportverein. Man ging in die Kirche, kannte seine Nachbarn und hatte feste Arbeitswelten. Heute bestimmt für viele städtisch und v.a. akademisch geprägte junge Menschen Mobilität das Leben. Die Berufs- und Lebenswege sind flexibler. Jobs sind prekärer. Das Homeoffice macht es schwerer, Kolleg*innen kennen zu lernen.

Zudem wird Alleinsein heute negativer bewertet. Früher gehörte es zum Alltag vieler Menschen dazu. Heute wird Alleinsein im Kontrast zu einer ständigen digitalen Präsenz als viel störender wahrgenommen: Wer permanent sieht, wie gut es anderen geht, bewertet sein eigenes Alleinsein als negativer als früher. Dabei wird ausgeblendet, dass auch andere, die sich offensiv online präsentieren, nicht unbedingt glücklicher sind.

B. Moderne Generationen haben nicht weniger Bindungsbedürfnis, sondern mehr Bindungsangst

In den Generationen Y, Z & Alpha finden wir zwei parallele Bewegungen:

  1. Hohe Sehnsucht nach Verbindung: Die Sensibilität für emotionale Nähe ist hoch. Der Wunsch nach gemeinschaftlichen Werten ist ebenso groß wie das Interesse an Nähe und Intimität. Privates wird stärker geäußert als früher.
  2. Gleichzeitig gibt es eine große Angst vor Abhängigkeit oder Festlegung: Jüngere Generationen sind geprägt durch hohe Scheidungsraten in der Elterngeneration, Patchwork-Familien und damit frühen Erfahrungen mit unklaren bis instabilen Strukturen. Die ökonomische und ökologische Situation (Mieten, Arbeitsmarkt, prekäre Jobs, Klimawandel, Kriege) führen zu einer grundsätzlichen Verunsicherung. Dadurch entsteht eine große Angst, falsche Lebensweg-Entscheidungen zu treffen, sowohl in der Arbeit als auch privat.

Im Grunde hat sich der Mensch als soziales Tier nicht verändert. Er sucht nach wie vor nach Nähe und Bindung. Verändert hat sich jedoch das soziale Umfeld. Im Angesicht eines offen zur Schau getragenen Überangebots fühlen sich Entscheidungen riskanter als früher an. Dadurch entsteht das bekannte Fomo (fear of missing out)-Gefühl: Sobald ich mich für etwas entscheide, habe ich Angst, etwas anderes zu verpassen:

  • Es gibt sicherlich noch andere tolle Beziehungen.
  • Sich sexuell auszuprobieren gehört im Grunde zur Selbstfindung dazu.
  • Es gibt so viele Orte auf der Welt zu entdecken.
  • Warum länger in einem Job beiben, wenn ich was anderes ausprobieren kann?

Flexibilität wird zum Wert an sich, nicht weil man sich nicht binden will, sondern weil man sich nicht festlegen kann, ohne das Gefühl zu riskieren, etwas zu verpassen oder sich falsch zu entscheiden. Dadurch wird vieles oberflächlich angerissen, aber nur selten etwas zu Ende gebracht. Insofern wirkt ein gutes Gefühl in einer Beziehung oder einem Job schon beinahe bedrohlich, weil es einen Wechsel verhindern könnte.

Für Unternehmen bedeutet das: Häufige Berufswechsel sind keine mangelnde Loyalität, sondern die Angst davor, zu loyal zu sein und am Ende enttäuscht zu werden. Gleichzeitig ist dieses Wechselverhalten ein Versuch, in einer instabilen Umwelt ein Stück Kontrolle zurückzugewinnen. Wem es an innerer Stabilität fehlt, sucht im Außen nach einer Bestätigung seiner Selbst. Die Formel dazu lautet:

Hohes Bedürfnis nach Verbundenheit + geringes Selbstvertrauen = brüchige Bindungsfähigkeit

C. Die Konsequenzen für Unternehmen

1. Herstellung psychologischer Sicherheit

Da viele Mitarbeitende bindungsunsicher oder übervergleichend sozialisiert sind, gilt es ein Umfeld zu schaffen, das Sicherheit vermittelt, ohne Abhängigkeit zu erzeugen. Dieser Unterschied ist essentiell. Viele Unternehmen machen immer noch Angebote mit der Absicht, Mitarbeiter*innen zu binden. Das jedoch wird als unlauter und einengend wahrgenommen und entsprechend rigoros abgelehnt. Würden die Angebote darauf abzielen, dass jüngere Menschen gut in ein Team integriert werden und ihren Job selbstsicher erledigen können, ohne abhängig machende Hintergedanken, steht der aktuelle Moment im Fokus. So paradox es klingt, aber Bindung funktioniert heutzutage leichter, wenn sie nicht im Mittelpunkt steht.

Das bedeutet konkret:

  • Vergleichbarkeit in sichere Bahnen lenken: Klare Erwartungen an die Arbeit, klare Prioritäten, realistische Arbeitslast, Kriterien einer guten Arbeit bieten Orientierung in der Vergleichbarkeit mit anderen.
  • Unsicherheit reduzieren: Mentoring-Programme, regelmäßige Feedback-Gespräche, konsistente Regeln, mentale Gesundheitsprogramme und ein fairer Umgang mit Fehlern bieten Sicherheit.
  • An richtigen Ort sein und nichts verpassen: Gelebte Werte und sinnvolle Tätigkeiten, aber auch stringent geplante Meetings fördern das Gefühl, am richtigen Ort zu sein und verhindern das Fomo-Gefühl, etwas zu verpassen.
  • Soziale Stabilität: Integrative, dauerhaft stabile Teams, berechenbare Prozesse, echte Gemeinschaft ohne Fassade und partizipative Entscheidungsprozesse fördern die soziale Sicherheit.

Für jüngere Menschen gilt mehr denn je: Auch wenn oft finanzielle Gründe angeführt werden, wird entweder wegen unempathischen Chefs, einem schlechten Teamsetting oder Unsicherheit in der Arbeit gekündigt.

2. Strukturierte Flexibilität

Jüngere Generationen fordern Remote-Arbeit, flexible Arbeitszeitmodelle, projektorientiertes Arbeiten und einen flexible berufliche Entwicklung anstatt starrer Karriereleitern. Diese Hyperflexibilität bringt jedoch gleichzeitig durch die Tendenz zu Unsicherheit und sozialen Vergleichen ein hohes Maß an Distress mit.

Aus diesem Grund braucht es:

  • flexible, aber klare Regeln
  • transparente Workflows
  • definierte und begrenzte Kommunikationszeiten, insbesondere freie Wochenenden
  • abgestimmte Erreichbarkeiten
  • Fokuszeiten ohne Meetings
  • Pausen- und Ruheinseln

Der Trend bei jüngeren Menschen geht ohnehin wieder mehr in Richtung Work Life Balance statt Work Life Blending. Aktuell scheint noch ein Corona-Jahre-Nachhol-Effekt hinzuzukommen: „Arbeiten ist OK, aber ich will auch feiern gehen. Deshalb gehören Feier(!)abend und Wochenende mir.“

3. Investition in die psychologische Kompetenz der Führungskräfte

Moderne Organisationen brauchen Führungskräfte mit psychologischem Grundverständnis, Konfliktkompetenz, Wissen über Bindungs- und Teamentwicklungsdynamiken, Mentoring- und Coaching-Kompetenzen.

Menschen mit unsicheren Bindungsmustern reagieren empfindlicher auf:

  • unerwartete Kritik
  • unklare Rollen
  • chaotische Projektverläufe
  • abwesende oder emotional distanzierte Führung
  • Konkurrenzdruck
  • Überforderung

4. Das Bedürfnis nach sinnvoller Gemeinschaft bedienen

Junge Menschen wollen (meist) keine Grillpartys mehr mit ihrem Chef, wenn sie stattdessen mit ihren richtigen Freunden abhängen könnten (Fomo!). Sinnvoller ist es, Workshops zur gemeinsamen Reflexion und Verbesserung der Arbeit und Zusammenarbeit durchzuführen, bspw, im Rahmen bezahlter Teamtage. Zudem erzeugen klassische Teamevents sozialen Druck. After-Work-Partys oder Bowlingabende werden oft nicht nur als unauthentisch, verpflichtend und übergriffig in die private Zeit erlebt, sondern auch als sozial riskant: „Über was soll ich mich mit meiner Chefin unterhalten?“ Das wird v.a. von unsicher gebundenen, introvertierten und stark außenorientierten jungen Menschen als enorm stressreich erlebt. In solchen Momenten vermischen sich die Erwartungen an die arbeitende und private Person: „Was, wenn ich unsympathisch wirke? Hat das Auswirkungen auf meine Arbeitsverhältnis oder sogar auf Zeugnisse?“ Die daraus folgende emotionale Überforderung führt nicht selten zu einem Rückzug als Schutzmechanismus, der von Chefs oft als mangelndes Interesse gedeutet wird.

Dennoch erfordert die Außenorientierung junger Menschen soziale Resonanzräume. Sinnvoller als After-Work-Veranstaltungen, bei denen Privates und Berufliches vermischt werden sind „Veranstaltungen“, bei denen es um die Sache geht und nicht um die Person:

  • integrative Onboarding-Prozesse
  • gemeinsame als sinnvoll empfundene Rituale
  • Kultur der gegenseitigen Unterstützung
  • regelmäßige Teamtreffen (v.a. in Präsenz)
  • soziale Aktivitäten als Angebot, nicht als Zwang
  • gemeinsames Lösen komplexer Aufgaben
  • Arbeiten im Tandem
  • selbstorganisierte Workshops
  • Aufteilung großer Meetings in Kleingruppen