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Handlungsfähig bleiben in der Postmoderne

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1. Die Notwendigkeit einer Festlegung trotz widersprüchlichem Wissen

Der postmoderne Mensch glaubt, Handeln sei eine Funktion von Erkenntnis: Wer die Welt versteht, kann rational entscheiden. In der postmodernen Logik bricht diese Beziehung zusammen. Wissen wird unendlich, Gründe widersprechen sich, Perspektiven sind plural. Was bleibt, ist das Bewusstsein der eigenen Vorläufigkeit und damit eine Lähmung durch zu viel Wissen.

Dieses Phänomen hat vermutlich jede*r schon einmal erfahren: Wissen ist hilfreich, um gute Entscheidungen zu treffen. Doch ab einem bestimmten Punkt ist Wissen nicht mehr hilfreich und führt zu Zweifeln. Ein Beispiel aus der Entscheidungsforschung steht stellvertretend für diesen Effekt: Werden an einem Stand im Supermarkt drei Marmeladensorten zum Probieren angeboten, bleiben dort weniger Menschen stehen als an einem Stand mit sieben Sorten. Der Stand mit den drei Sorten führt allerdings zu mehr Verkäufen. Wie soll man sich auch bei sieben Sorten entscheiden?

Extrapolieren wir dieses Beispiel auf unsere Welt wird klar, dass in der Postmoderne jede Handlung auf unzählige Gründe trifft, die sich gegenseitig neutralisieren. Für alles gibt es ein „Ja, aber“. Jedes Argument ruft sein Gegenargument hervor:

  • Ja, wir sollten Frieden und Diplomatie fördern. Aber versteht Putin nicht nur das Argument der Waffen?
  • Ja, wir sollten Putin mit Waffen bekämpfen. Aber widerspricht das nicht der langfristigen Sehnsucht der meisten Menschen nach einem friedlichen Zusammenleben?

Alles scheint lediglich eine Frage der Verhandlung zu sein. In dieser Lage droht das Subjekt – überinformiert, selbstreflexiv und skeptisch – handlungsunfähig zu werden.

Der Philosoph Slavoj Žižek diagnostiziert genau hier das Paradox der Freiheit: Wir können alles begründen, aber gerade deshalb nichts wirklich tun. Handlungsfähigkeit entsteht, so seine These, nicht durch Wissen, sondern durch eine Setzung. Wir sammeln also nicht Wissen, um darauf aufbauend eine Entscheidung zu treffen. Sondern wir entscheiden uns auf der Basis mangelhaften oder widersprüchlichen Wissens, im vollen Bewusstsein, falsch liegen zu können.

Žižek greift hier auf eine Linie zurück, die von Kierkegaard über Sartre bis Lacan reicht: Der entscheidende Akt ist nicht rational begründet, sondern existentiell. Kierkegaard nannte ihn den „Sprung des Glaubens“, Lacan spricht vom acte, Badiou vom „Treueakt zum Ereignis“. In jedem Fall gilt: Der Moment der Festlegung ist ein Moment des Trotzes: Wir wissen nicht, ob wir richtig liegen, aber tun es dennoch, um uns gegen die Logik der Unsicherheit zu stellen.

Festlegung bedeutet also nicht, zu handeln, weil wir Recht haben, sondern um handlungsfähig zu bleiben. Erst unser Handeln zwingt in einer Kettenreaktion die Festlegung unseres Umfelds, was dem postmodernen Menschen schwer zu fallen scheint, weil er sich damit angreifbar macht. Sie ist jedoch ein zentraler Baustein als Ausweg aus einer postmodernen Beliebigkeit.

2. Formen der Festlegung

In einer pluralen, relativistischen Welt kann Festlegung verschiedene Formen annehmen, die sich nach Motiv und Funktion unterscheiden.

a) Existenzielle Festlegung auf Werte und Haltungen

Der Mensch legt sich fest, um nicht zu zerfallen: „Ich vertraue“, „Ich glaube“, „Und deshalb handle ich“. Solche Entscheidungen sind Akte der Selbstvergewisserung. Ohne sie bleibt das Subjekt ein reflektierendes, aber ohnmächtiges Wesen. Hier geht es nicht um Wahrheit, sondern um Stabilität. Der Akt selbst schafft den Grund, auf dem er steht. In diesem Sinne können wir uns alle festlegen, indem wir sagen: Ich glaube an die Solidarität. Ich vertraue meinen Kolleg*innen. Ich glaube daran, dass ich im Team mehr erreichen kann als alleine. An dieser Stelle finden wir auch unsere Hoffnungen wieder. Obwohl es naiv erscheint, an das Gute im Menschen zu glauben, erscheint es das einzig Sinnvolle zu sein in einer Welt voller Krieg und Hass. Weil wir ansonsten bereits aufgegeben hätten. Andererseits ist das Warten auf eine endgültige Beweisführung, ob der Mensch im Grunde gut oder schlecht ist, ebenfalls naiv, weil es diesen Beleg niemals geben wird. Existenzielle Festlegungen bieten damit einen Ausweg aus dem dialektischen „Sowohl, als auch“.

b) Politische Festlegung auf Meinungen

Neutralität ist feige. Eine politische Festlegung – etwa „Ich setze mich für ein nachhaltiges Wirtschaften ein“ – ist niemals vollständig begründbar, aber sie ist notwendig, weil eine Nicht-Positionierung ebenfalls eine passive Positionierung darstellt, indem die bestehenden Umstände unterstützt werden, ohne zu handeln. Die Festlegung wird zum Akt der Verantwortung und fördert kontroverse Diskussionen.

c) Ironische Übertreibung von Positionen

Gerade im Bewusstsein, dass alles im agilen Fluss ist und sich beständig verändert, kann man sich (temporär) ironisch festlegen: als Spiel, Stil oder Pose. Hier wird die Postmoderne mit ihren eigenen Mitteln überboten. Durch Übertreibung einer Überzeugung wird die Oberflächlichkeit einer ernsthaften und durchaus sinnvollen Ambivalenz als Gesprächsgrundlage entlarvt.

In einer Welt, die aktuell wieder zurück pendelt zu einer strengen, klar hierarchischen Führung, zeigt sich auch die Sehnsucht nach Eindeutigkeit. Auf der anderen Seite ist es ebenso übertrieben, Mitarbeiter*innen an allem zu beteiligen, so wie es Eltern machen, die ihre Kinder in alle Entscheidungen mit einbeziehen und sie damit überfordern. Beides lässt sich ironisch übertreiben und dadurch bloß stellen:

  • Wenn du hierarchisch führen willst, während deine Mitarbeiter*innen im Homeoffice sitzen: Rufst du dann im 30-Minuten-Takt an und fragst nach Ergebnissen? Es wäre sicherlich auch hilfreich, ihnen Essensvorschläge zu machen, damit ihre Leistung konstant bleibt.
  • Wenn du auf Augenhöhe führen willst: Lässt du dann deine Mitarbeiter*innen abstimmen, welche Kaffeesorte beim nächsten Mal eingekauft werden soll und stellst eine Liste auf, dass alle über das Jahr verteilt gleich oft mit dem Einkaufen dran sind? Wobei eine Liste aufzustellen evtl. schon zu hierarchisch ist. Vielleicht sollten wir erst diskutieren, ob eine Liste das richtige Tool ist?

3. Festlegung als Provokation

In all diesen Formen liegt eine provokative Dimension. Die Festlegung irritiert jene, die im Schwebezustand der Postmoderne verharren wollen. Wer sich festlegt, stört den Diskurs der offenen Möglichkeiten, der oft nichts anderes ist als die Ideologie der Passivität. Eine entschiedene Geste – ethisch, politisch oder ironisch – zwingt andere, Stellung zu beziehen: Bist du dafür oder dagegen?

Vor diesem Hintergrund lassen sich auch manche radikale Aussagen als Einladung zur Selbstpositionierung und Diskussion wahrnehmen. Mir scheint beinahe, Politiker*innen oder allgemein Menschen in der Öffentlichkeit wie Marie Agnes Strack-Zimmermann, Oskar Lafontaine, Sarah Wagenknecht oder Alice Schwarzer hätten Slavoj Zizek gelesen.

Im Gegensatz zur landläufigen Wahrnehmung gerade in gesellschaftlichen Kreisen, denen ein gewaltfreier Diskurs wichtig ist, ist eine Festlegung, wenn sie auf gegenseitigem Respekt basiert, kein Hindernis von, sondern förderlich für Diskussionen. In diesem Sinne stehen Entscheidungen nicht am Ende einer Reflexion, sondern am Anfang:

  1. Individuelle Vor-Reflexion
  2. Provokation durch Festlegung
  3. Respektvoller Austausch
  4. Gemeinsame Entscheidung

Stärken von Extra- und Introvertierten in Veränderungen

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Nicht nur in Veränderungen, sondern unserer Welt allgemein werden introvertierte, stille, zurückhaltende, langsame Menschen oft übergangen. Dabei könnten sie gerade in Veränderungsprozessen die Kompetenzen von Extravertierten ideal ergänzen.

Die Stärken Introvertierter:

  • Reflexion & Analyse: Introvertierte denken über Ansatzpunkte und Konsequenzen von Veränderungen gerne gründlich nach und wägen Risiken und Chancen sorgfältig ab, bevor sie handeln.
  • Empathisches Zuhören: Sie geben anderen Raum, ihre Sorgen zu äußern und entschärfen dadurch Spannungen.
  • Stabilität & Kontinuität: In unsicheren Zeiten strahlen sie Ruhe aus, da sie weniger von äußerer Dynamik abhängig sind.
  • Fokus auf Qualität: Sie treiben nachhaltige Veränderungen voran, weil sie lieber in die Tiefe gehen, als oberflächlich nach schnellen Lösungen zu suchen.

Die Gefahr dabei: Unreife Introvertierte reflektieren zu lange und kommen dadurch vom Hundertsten ins Tausendste. In manchen Situationen muss jedoch schnell gehandelt werden.

Die Stärken Extravertierter:

  • Kommunikation & Motivation: Extravertierte sind mitreißender als Introvertierte und begeistern damit andere für Veränderungen mit klaren Ansagen. Gerade wenn Risiken und Konsequenzen noch unklar sind, ist es wichtig, dennoch ins Handeln zu kommen.
  • Schnelle Umsetzung: Sie sind entscheidungsstark, probieren gern Neues aus und forcieren dadurch die Dynamik und Geschwindigkeit in Veränderungen. So schaffen sie Fakten, mit denen im Anschluss weitergearbeitet werden muss, was insbesondere in Krisen oftmals besser ist als nichts zu tun.
  • Netzwerken: Sie bauen Brücken zwischen Teams, holen Stakeholder ins Boot und schaffen Akzeptanz über das eigene Team hinaus oder bei Kunden.
  • Energie & Sichtbarkeit: Ihre Präsenz und Agilität bietet anderen Orientierung und macht bereits kleine Veränderungen sichtbar, was wiederum die Motivation zum Weitermachen erhöht.
  • Flexibilität: Sie passen sich schnell an neue Gegebenheiten an und gehen leichter mit Unsicherheiten um.

Die Gefahr dabei: Unreife Extravertierte laufen Gefahr, ohne Rücksicht auf andere und / oder Risiken vorschnell Fakten zu schaffen, die sich nicht mehr rückgängig machen lassen.

Deshalb ist es wichtig, gerade in Veränderungen die Stärken beider zu berücksichtigen:

  • Introvertierte sind wertvoll für Substanz, Reflexion und Stabilität.
  • Extravertierte sind wertvoll für Dynamik, Kommunikation und Anschlussfähigkeit.

Da in vielen Organisationen extravertierte Verhaltensweisen wie laut, schnell, sichtbar oder durchsetzungsstark als kompetent gelten und Introvertierte dadurch nicht nur untergehen, sondern oft auch als verschroben oder in Veränderungsprozessen als Bremser*innen und Blockierer*innen gelten, sollten v.a. in langfristigen Veränderungen, für die Nachhaltigkeit wichtig ist, Introvertierte mehr Raum bekommen:

1. Strukturelle Ansätze

Meeting-Abläufe anpassen

  • Sofern nicht ohnehin Standard, Informationen vorab verschicken, damit Introvertierte sich vorbereiten können.
  • Stumme Brainstormings bzw. Entscheidungstools nutzen, bspw. Ideen zuerst schriftlich sammeln, bevor die Diskussion startet.
  • Reduzierung von Großgruppendiskussionen, bspw. indem vor der Sammlung von Ideen für Entscheidungen in Kleingruppen diskutiert wird.
  • Redezeiten bewusst verteilen, beispielsweise durch eine stringente Moderation oder klare Redeanteile.
  • Diskussionsrunden als Prozess aufbauen:
  1. Leises Brainstorming (jede*r für sich)
  2. Austausch in der großen Runde
  3. Schnell umsetzbare Ideen zur Lösung eines Problems aufschreiben.
  4. Entschleunigte Reflexionsrunde, was langfristig umgesetzt werden soll.

Digitale Tools nutzen

  • Chats, anonyme Feedback-Tools oder Whiteboards ermöglichen Introvertierten ihre Gedanken auch ohne lautes Auftreten einzubringen.

Rollenvielfalt sichtbar machen

  • Nicht nur extravertierte Veränderungsmutige als Promotoren in Changeprozessen einsetzen, sondern auch introvertierte Analysten, die mit Tiefe und Expertise Einfluss nehmen können.

2 Führung & Kultur

Wertschätzung für ruhige Stärken

  • Führungskräfte sollten aktiv nach den Gedanken der Leiseren und Langsameren fragen und deren Beiträge genauso hervorheben wie die der Lauten und Schnellen.
  • Anteil introvertierter Mitarbeiter*innen an Erfolgen sichtbar machen.

Psychologische Sicherheit fördern

  • Räume schaffen, in denen man auch in kleiner Runde oder schriftlich Input geben kann.
  • Fehlerfreundlichkeit betonen, damit nicht nur die Lauten Risiken eingehen.

Feedback- und Entscheidungsprozesse anpassen

  • Entscheidungsprozesse wo es möglich und sinnvoll ist entschleunigen, da Introvertierte von Bedenkzeit ohne Zeitdruck profitieren.

3 Individuelle Entwicklung

Stärken Introvertierter bewusst nutzen

  • Aufgaben an Introvertierte verteilen, die eine vertiefte Analyse, strategisches Denken, empathisches Zuhören und qualitatives Feedback erfordern.

Kommunikationstraining für beide

  • Introvertierte ermutigen, ihre Gedanken klar und prägnant zu formulieren, ohne extravertiert liefern zu müssen.
  • Extravertierten beibringen, sich auch mal zurück zu nehmen, indem Verständnis für die Langsamen und Leisen vermittelt wird.

Dadurch werden aus unreifen Introvertierten und Extravertierten reife Persönlichkeiten, die sowohl ihre Schwächen als auch ihre Stärken kennen.

Nonkonformismus als konstruktive Kritik

Derzeit gibt es eine Drift an die Ränder: Studien zeigen (u.a. die aktuelle Shell-Studie), dass diejenigen, die viel zu verlieren haben oder sich unsicher fühlen, bspw. Jugendliche in der Findungsphase, Angestellte oder allgemein die Mittelschicht, tendieren zu Konformismus. An den gesellschaftlichen Rändern nimmt der Widerstand zu.

Auch die Querulanten im Team, die ohnehin schon schräg angesehen werden, werden auf die ein oder andere Art widerständiger. Damit wird jedoch das wichtige Instrument der Nonkonformität als konstruktive Kritik oder – mein Thema – utopischer Ideen für eine bessere Zukunft aus der Hand gegeben.

Auf den Punkt gebracht haben wir dann 7-8 Personen im Team, die konform mitgehen, weil es gerade in turbulenten Zeiten ohnehin viel Kraft kostet, die vorhandenen Aufgaben zu schaffen, während 2-3 Personen widersprechen, blockieren oder sich am nächsten Tag krank melden. Auch damit werden Innovationen torpediert. Von der Wir-Resilienz ganz zu schweigen.

Eine Lösung besteht darin, Nonkonformität nicht mehr als Sand im Getriebe zu betrachten, sondern als Regulator im Sinne einer konstruktiven Kritik an bestehenden Umständen und einer angestrebten Zukunft.

Aus diesem Gedanken heraus entstand – mit ein wenig Hilfe von Chatgpt, Zwinkersmiley – der folgende Nonkonformitäts-Strategien-Test. Viel Spaß damit!

Warum es in Konflikten weniger um persönliche Veränderungen geht, sondern um den intersubjektiven Austausch

In Mediationen hat häufig mindestens eine Partei die Angst, sich verändern zu müssen und damit verbunden oft eine vehemente Abwehr-Haltung:

„Ich bin eben so, wie ich bin. Und wenn Du damit nicht klar kommst, ist das doch nicht mein Problem!“

Blöderweise sagt das Gegenüber genau dasselbe, weshalb eine Annäherung unmöglich erscheint. Aus diesem Grund ist es hilfreich, den Mediand*innen zu verdeutlichen, dass sie sich (beinahe) gar nicht persönlich ändern müssen. Sie können ihren Charakter und ihre Eigenarten gerne behalten. Mediationen sind schließlich keine Therapiestunde oder Coachings (vgl. Konfliktcoaching). Für ein besseres Miteinander geht es lediglich darum, dieses Miteinander, d.h. die gemeinsame Kommunikation und das gemeinsame Handeln zu verbessern.

Aus diesem Gedanken heraus entwickelte ich die KoHa-Matrix:

Die Matrix als Prozess betrachtet bietet Kolleg*innen, die regelmäßig aneinander geraten (oder einem gesamten Team) einen 4-stufigen Ablauf:

  1. Schweigen: Was wird zu selten angesprochen, weil es jede/r mit sich selbst ausmacht?
  2. Reden: Wie wollen wir miteinander kommunizieren?
  3. Arbeiten: Wie definiert jede/r „einen guten Job erledigen“?
  4. Zusammenarbeiten: Wie können wir unsere Zusammenarbeit verbessern?

Noch deutlicher werden sowohl der Aushandlungsprozess als auch die Autonomie jedes/r Einzelnen, wenn wir das Modell als Wechselspiel zwischen Ich bzw. Du und Wir betrachten:

Für eine gute Zusammenarbeit muss sich charakterlich niemand verändern. Es ist sogar hilfreich, dass jede/r seine Eigenheiten behält, weil es ansonsten keine Synergieeffekte gäbe. Es braucht lediglich tragfähige Vereinbarungen für ein besseres Miteinander im intersubjektiven Austausch.

10 Erkenntnisse über Verbundenheit

  1. Solidarität gleicht Handicaps aus: Vor 20 Millionen Jahren hatten Schimpansen, Bonobos und Gorillas gegenüber ihren Vorfahren einen großen Nachteil: Ihnen fehlten scharfe Eckzähne und Klauen als körperliche Werkzeuge zur Verteidigung gegenüber Feinden. Dieses Handicap machte den sozialen Zusammenhalt untereinander notwendig.
  2. Altruismus ist natürlicher als Egoismus: Anderen zu helfen ist natürlicher als uns gegen andere durchzusetzen. Dies zeigt sich alleine schon an diversen Studien mit Kleinkindern, die nicht lange nachdenken, ob sie einem hilfsbedürftigen Forscher helfen wollen oder nicht. Wer anderen nicht hilft, ist dazu aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage. Entweder er fühlt sich zu schwach. Oder er lebt in einem sehr individualistischen System, in dem Helfen als nicht sinnvoll erachtet wird, weil die Menschen sich selbst aus ihrem Elend befreien sollten. Oder aber er wurde traumatisiert. Ein Beispiel dafür sind Migranten, die besonders laut gegen nachziehende Migranten wettern. Sie haben es geschafft, wissen jedoch, wie schwer es war. Beobachten sie nun Neuankömmlinge fällt es ihnen schwer, sich in deren Lage zu versetzen, ohne retraumatisiert zu werden.
  3. Verbundenheit entsteht durch Ziele: Menschen in einem Bus sind idR. nicht miteinander verbunden. Erst durch einen Ausflug oder einen Unfall entsteht Verbundenheit durch ein gemeinsames Ziel und gegenseitige Abhängigkeiten.
  4. Disstress + Definition einer guten versus schlechten Gruppe = Tribalismus: Stress führt nicht automatisch zu Egoismus. Meist führt Stress dazu, sich gegenseitig zu helfen. Erst die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Subgruppen fördert Spaltungen und selektiven Altruismus. Umso wichtiger sind in Organisationen mit mehreren Subgruppen Organisationsziele, die auch die Subgruppen miteinander verbinden.
  5. Dauerhafte Verbindungen lassen Gehirnzellen wachsen: Bei Paaren fördert Monogamie die Entwicklung des Gehirns, sofern sie sich im Rahmen ihrer gegenseitigen Abhängigkeit stetigen Anpassungsprozessen aussetzen. Sie achten dann darauf, wie es ihrem Gegenüber geht, passen sich an und lernen voneinander. Bei Polygamie entwickelt sich das Gehirn (meistens) weniger stark, weil bei Schwierigkeiten Partner*innen schneller gewechselt werden. Dadurch finden weniger Anpassungsprozesse und ein gegenseitiges Lernen statt. Stattdessen orientiert sich der Mensch stärker an seinen eigenen, bereits vorhandenen Eigenschaften, Vorlieben und Kommunikationsmustern.
  6. Kleine Gruppen ermöglichen individuellere Verbindungen: In kleinen Gruppen werden Menschen stärker als Individuen wahrgenommen. Je größer die Gruppe ist, desto wichtiger werden Abgrenzungen durch Geschlecht, Meinungen, Eigenschaften, Fähigkeiten oder Auftreten.
  7. Stufen der Empathie: Es gibt drei Stufen der Empathie: Mitgefühl, Besorgnis und Perspektivenübernahme.
  8. Wer zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, ist unempathisch: Wir helfen anderen Menschen, wenn wir deren Emotionen in einer belastenden Situation nachempfinden können (Mitgefühl). Stellen wir uns jedoch vor, wie es uns selbst in dieser Situation ginge, hindert uns das an einer Hilfe. Wir sind dann zu sehr mit uns selbst beschäftigt. Der Satz „Wie würde es dir gehen, wenn du an meiner Stelle wärst?“ könnte daher kontraproduktiv sein. Sinnvoller wäre: „Kannst du dir vorstellen, was ich dabei empfinde?“ (Mitgefühl) oder „Versuch bitte die Situation mit meinen Augen zu sehen.“ (Perspektivenübernahme)
  9. Synchronisierte Gehirne: Arbeiten Menschen an etwas Gemeinsamem, synchronisieren sich ihre Gehirne. Das gleiche gilt für gemeinsames Meditieren. Oder wenn sie als Paar bezeichnet werden, selbst wenn sie noch kein Paar sind.
  10. Verbindungen fördern mit Gesprächsstoff: Neben den üblichen Möglichkeiten Verbindungen zu fördern (Austausch, gemeinsame Aktivitäten), gibt es in Organisationen die Variante, für Gesprächsstoff zu sorgen, indem jemandem im Team heimlich ein Geschenk gemacht wird, einmal im Monat für das gesamte Team von einem unbekannten, guten Geist Brezeln hingestellt werden, jemand eine Dankbarkeitskarte ohne Absender bekommt oder derselbe Geist am Kaffeeautomaten für die nächste Person bezahlt und eine Karte hinterlässt, auf der steht: „Ihr Getränk wurde bereits bezahlt. Es wäre schön, wenn Sie für die nächste Person bezahlen würden, um diese Nettikette nicht abreißen zu lassen. Danke“

Damit ließe sich Verbundenheit auf folgende Formel reduzieren:
Verbundenheit = Gemeinsames (positives oder negatives) Ziel + Abhängigkeiten (Kompetenzen, Erfahrungen, Wissen, Rollen, Verantwortungsteilung, Tugenden) + Raum und Zeit für Austausch – Persönliche Traumatisierungen

Literatur: Lynne McTaggart: The Bond – Über die Wissenschaft der Verbundenheit (2017)