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Umgang mit Low-Performern

Die Frage, wie mit Low-Performern umgegangen werden soll, taucht in letzter Zeit in meinen Seminaren wieder häufiger auf. Sicherlich: Für Führungskräfte war es immer schon ärgerlich, dass manche Mitarbeiter*innen weniger leisteten als andere. Doch in Zeiten hoher Fluktuation, vermeintlich geringer Arbeitsmoral und damit einhergehend einer Dauerbelastung für alle anderen, spitzt sich das Thema weiter zu. Die Schere – so scheint es – geht immer weiter auseinander: Die einen ruhen sich aus. Die anderen arbeiten umso mehr. Der Ärger auf Minderleister ist dahingehend verständlich. Dennoch gilt es, die ersten Impulse des Ärgers beiseite zu schieben und einen kühlen Kopf zu bewahren.

Ursachen verstehen

Low Performer lassen sich grundsätzlich in zwei Kategorien einteilen:

  • Nicht Können: Wer nicht kann wurde evtl. schlecht eingearbeitet, ist falsch am Platz, ist schüchtern oder ihm/ihr fehlen Kompetenzen.
  • Nicht Wollen: Wer nicht will ist von Haus aus demotiviert, legt mehr Wert auf Freizeit oder wurde gekränkt. Er oder sie würde evtl. gerne etwas anderes tun, fühlt sich zu wenig gefo(e)rdert oder wurde bei einer Beförderung zurückgewiesen.

Low Performer frühzeitig erkennen

Nicht Können

Wer nicht mehr leisten kann zeigt meist ein fehlerhaftes Arbeiten mit ähnlichen Fehlern über einen längeren Zeitraum hinweg. Die Beschwerden von Kund*innen oder Kolleg*innen häufen sich. Mitarbeiter*innen, die unabsichtlich weniger leisten, sind meist unsicher.

Nicht Wollen

Wer nicht mehr leisten will zeigt meist überdurchschnittlich hohe Fehlzeiten über einen langen Zeitraum. Häufig zeigt sich auch ein starker, unerwarteter Leistungsabfall, was auf eine Kränkung hinweisen kann, etwa weil eine Beförderung zurückgewiesen wurde. Er oder sie zeigt ein unpassendes Verhalten oder Auftreten im Unternehmen, hält sich nicht an kommunikative Regeln oder Dresscodes, ist unkooperativ und hilft Kolleg*innen nicht oder nur ungern. Zudem verweigert er oder sie die Ausführung von Arbeitsaufträgen, wo es möglich ist.

Umgang mit Low Performern

  1. Ursachenforschung: Als erstes ist es wichtig, die Ursachen zu kennen. Nur dann kann adäquat reagiert werden. Dies funktioniert am besten im Rahmen eines Mitarbeitergesprächs, um als Führungskraft nicht aufgrund des Hören-Sagens zu urteilen. Kann oder will die Person nicht? Sind die Gründe privater oder beruflicher Natur? Liegt es an veränderbaren Kompetenzen? Handelt es sich um einen plötzlichen oder langfristigen Leistungsabfall?
  2. Lösungen finden: Erst wenn die Ursachen für die mangelnde Leistung geklärt sind, können passende Maßnahmen eingeleitet und/oder angeboten werden. So kann es durchaus sein, dass ein vermeintliches Nicht-Wollen weniger böswillig ist als zuerst gedacht. Was ist bspw. mit einer Mitarbeiterin, die ihre Kräfte schonen will, weil sie sich zuhause um einen depressiven Mann und zwei Kinder kümmern muss? Mitarbeiter*innen, die nicht können, lassen sich – sofern möglich und sinnvoll – eine Umbesetzung an einen passenderen Arbeitsplatz, ein Coaching, eine Weiterbildung, ein Mentoring oder der Austausch mit Kolleg*innen im Sinne einer Kollegialen Beratung anbieten. Bei Mitarbeiter*innen, die nicht wollen, lassen sich – sofern möglich und sinnvoll – Feedbackgespräche, Teambildungsmaßnahmen zur Erhöhung der Bindung im Team, eine Arbeitszeitreduzierung oder Maßnahmen zur Unterstützung der Work Life Balance-anbieten.
  3. Sanktionsmöglichkeiten: Sollte all das nicht funktionieren, ist es wichtig – insbesondere bei der Nicht-Wollen-Fraktion – sowohl die Vorkommnisse, als auch die Gespräche und Angebote sauber zu dokumentieren, falls es später – im Zuge von Abmahnungen oder einer Kündigung – zu einem Rechtsstreit kommt. Eine Alternative, die im Falle einer Unkündbarkeit am häufigsten gezogen wird, ist die interne Versetzung an eine Stelle, an der kein großer Schaden entstehen kann, bspw. ohne Kundenkontakt.

Wie erwähnt, steht und fällt der Umgang mit Low Performern jedoch mit einer sauberen Analyse im Rahmen eines offenen 4-Augen-Gesprächs mit der Führungskraft.

Gibt es eine Resilienz-Formel?

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Warum überstehen manche Menschen, bspw. Soldaten nach einem Einsatz, scheinbar unbeschadet große Belastungen und andere nicht? Woran liegt das?

Eine glasklare Resilienz-Formel gibt es nicht und wird es vermutlich auch niemals geben. Dazu ist die Frage zum Umgang mit großen Belastungen zu komplex. Dennoch lassen sich aus der Forschung einige Aspekte zu einer Art Formel zusammenfassen.

Die zentrale und vermutlich wichtigste Erkenntnis lautet: Resilienz ist keine statische Fähigkeit und kein Talent. Resilienz ist dynamisch. Wir können sie wie einen Muskel trainieren und uns damit auf kommende Belastungen vorbereiten. Tatsächlich lassen sich Menschen, die kaum Stress empfinden nicht automatisch als resilient bezeichnen, da uns erst die Konfrontation mit negativem Stress zeigt, ob ein Mensch resilient ist oder nicht. Dabei gilt der Grundsatz: Leichte, bewältigbare Belastungen fördern unsere Resilienz. An großen Belastungen können wir zerbrechen. Der Satz von Nietzsche „Was uns nicht umbringt, macht uns stärker“ stimmt zwar, ist jedoch – wie so oft bei knalligen Sprüchen – in der Realität etwas komplizierter.

Was also sollte in eine Art Resilienz-Formel mit hinein:

  1. Wahrscheinlichkeit und Einschätzung der Bedrohung: Resiliente Menschen schätzen das Auftreten einer Bedrohung optimistisch-realistisch ein. Sie gehen zwar im Zweifel davon aus, dass eine Bedrohung wirklich stattfindet, dass sie uns jedoch nicht überrollt. Dabei reflektieren sie auch, inwiefern eine äußere Bedrohung wirklich zu einer inneren Bedrohung wird. Nehmen wir als Beispiel die Attacke einer cholerischen Chefin. Eine Demütigung vor der gesamten Belegschaft wird erst zu einer inneren Bedrohung, wenn Sie sich selbst auch tatsächlich als inkompetent einschätzen und / oder sich in Ihrer Ehre gekränkt fühlen. Empfinden Sie den Angriff als ungerecht und haben zudem die (wenn auch nur heimliche) Unterstützung Ihrer Kolleg*innen, sind Sie zwar vermutlich dennoch wütend. Dennoch lässt es sich leichter mit einer solchen Attacke umgehen.
  2. Austausch: Zudem ist es bei Bewertungen von Bedrohungen hilfreich, sich mit anderen Menschen auszutauschen, um einen objektiven Blick auf die Situation zu gewinnen oder sich sogar Vorbilder für die Bewältigung der Bedrohung zu holen.
  3. Selbstwirksamkeitserwartung: Nach der Bewertung der Belastungssituation stellt sich die Frage der Einflussmöglichkeiten. Resiliente Menschen gehen nicht unbedingt davon, dass alles gut wird. Sie gehen jedoch davon aus, dass sie etwas tun können, um die Situation zumindest zu erleichtern, dass es also einen Unterschied macht, ob sie handeln oder nicht. Gleichzeitig akzeptieren sie, dass ihr Einfluss in einer komplexen Situation begrenzt ist. Diese Vorgehensweise folgt der Devise „Handeln statt Hadern“: Wer handelt, weiß im Nachhinein, ob er Erfolg damit hatte oder ob er aus seinem Misserfolg etwas lernt. Wer nicht handelt, macht sich mit einer größeren Wahrscheinlichkeit im Anschluss Vorwürfe.
  4. Persönliche Chance: Bei allem Stress sind mit Belastungen auch immer Chancen verbunden. Resiliente Menschen betrachten Belastungen entsprechend nicht nur als Bedrohung, sondern auch als Chance sich zu beweisen, an der Herausforderung zu wachsen und/oder anderen zu helfen.
  5. Netzwerk: Sollte die Situation belastender sein als gedacht, greifen resiliente Menschen auf ein Netzwerk aus nahen und fernen Unterstützer*innen zurück.
  6. Entspannen, wenn der Stress nachlässt: Resiliente Menschen bleiben gegenüber Bedrohungen nicht cool. Sie werden i.d.R. genauso aktiviert wie nicht-resiliente Menschen. Sie haben jedoch die Fähigkeit, sich wieder schneller zu beruhigen, beispielsweise mit Achtsamkeitstrainings.
  7. Extinktion: Resiliente Menschen verlieren sich nach einer belastenden Situation nicht in Ängsten vor möglichen neuen Bedrohungen, sondern konfrontieren sich frühzeitig mit ähnlichen Situationen. Getreu dem Motto: Wenn du vom Pferd fällst, steig gleich wieder auf.

Zusammengefasst lassen sich diese 7 Aspekte einer resilienten Persönlichkeit im Angesicht einer Bedrohung in 7 Fragen fassen:

  1. Was an der Situation empfinde ich als persönlich bedrohlich?
  2. Wie sehen es andere?
  3. Was kann ich konkret tun, um einen Unterschied zu machen?
  4. Was kann ich daraus lernen?
  5. Auf wen kann ich mich verlassen, wenn ich nicht weiter weiß?
  6. Wie kann ich mich wieder beruhigen, um ein und dieselbe Situation nicht immer wieder im Geiste durchzuspielen?
  7. Was kann ich tun, um langfristig besser mit solchen oder ähnlichen Herausforderungen umzugehen?

Literatur:

Raffael Kalisch – Der resiliente Mensch. Wie wir Krisen erleben und bewältigen. Neueste Erkenntnisse aus Hirnforschung und Psychologie. 2017. berlin-Verlag

Trotz dem weiter machen

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In Krisen und unter Dauerbelastungen, bspw. bei einer dauerhaften Unterbesetzung, gelten andere Regeln:

  • Es wird mehr improvisiert als geplant.
  • Wir sollten uns auf das konzentrieren, was machbar ist.
  • Der erhöhte Aufgaben- und Zeitdruck erfordert eine Abkehr von einem übergroßen Perfektionismus. Es braucht daher eine manchmal schmerzhafte Prioritätensetzung.
  • Und auch große Visionen haben es schwer, wenn die Zukunft unsicher ist. Stattdessen wird auf Sicht gefahren, um die schlimmsten Verluste zu vermeiden.

Gerade in Krisenzeiten brauchen wir daher mehr Austausch als sonst (siehe auch https://www.m-huebler.de/warum-ziele-keine-zuversicht-und-motivation-mehr-vermitteln-und-was-wir-in-krisen-stattdessen-brauchen).

Doch reicht das aus? Oder brauchen wir als Mensch nicht auch Ziele, um nicht depressiv zu werden? Brauchen wir nicht trotzdem, bzw. trotz dem ganzen Drama um uns herum und der damit verbundenen Ungewissheiten Visionen und Ziele von einer besseren Welt, oder im Kleinen von einem vollständig besetzten Team? Brauchen wir nicht trotzdem das Vertrauen darauf, dass es eines Tages wieder besser wird?

Die Erfahrung, dass Ziele uns helfen, um stabil zu bleiben, kennt vermutlich jede*r. Man freut sich, die Masterarbeit endlich abgegeben zu haben … und fällt kurz darauf in ein tiefes, schwarzes Loch. Das Projektteam hat so gut zusammengearbeitet und dann, kurz nach Projektende, geht das Gezänke los. Wohl dem, der seinem Team ein weiteres Projekt präsentieren kann.

Das reine Weitermachen scheint eine ganze Zeit lang gut zu gehen. Letztlich sind aber Visionen und Ziele für unsere Psyche wie Nahrung für unseren Körper.

Die gesellschaftliche Stimmung spricht aktuell eine andere Sprache:

  • Viele junge Menschen wollen keine Kinder mehr in die Welt setzen. Goodbye Projekt Familiengründung.
  • Ein Haus zu bauen kann sich kaum noch jemand leisten.
  • Große Projekte stehen ohnehin im Verdacht, zu viele Umweltressourcen zu verschwenden.
  • Die nächste Urlaubsreise sollte auch bitteschön im Rahmen bleiben, um ressourcenschonend auszufallen. Andernfalls droht Reisescham.
  • Auch Karriere zu machen bzw. eine Führungsposition anzustreben erscheint vielen jungen Menschen nicht mehr attraktiv zu sein.

Ich hatte an anderer Stelle (https://www.m-huebler.de/wie-umgehen-mit-dem-motivationsknick-junger-mitarbeiterinnen) bereits über die 4 Phasen der Motivation geschrieben:

  1. Energie haben
  2. Sich ein Ziel setzen
  3. Durchhalten
  4. Das eigene Ziel gegen Widerstände verteidigen

Dabei stellt sich die Frage, woran es liegt, dass wir nicht mehr groß denken:

  • Haben wir nach der Pandemie, einem Krieg nach dem anderen, Diskussionen über das Klima, usw. keine Energie mehr für große Ideen?
  • Gibt es tatsächlich einen moralischen Vorbehalt gegen große Visionen, zumindest wenn sie nicht umweltschonend und nachhaltig sind?
  • Fehlt uns die Geduld und Beharrlichkeit unsere Ziele auch langfristig zu verfolgen?
  • Haben wir verlernt, für unsere Ideen, die zu Beginn oft noch klein und zerbrechlich sind, einzustehen?

Der Trotz hat einen schlechten Ruf. Er gilt als kindlich und naiv. Es lohnt sich nicht, sich trotzig für etwas einzusetzen, das ich ohnehin nicht haben kann. Wer klug und erwachsen ist, tut so etwas nicht. Aber vielleicht brauchen wir genau diesen kindlichen Trotz, verbunden mit der kindlichen Energie, an positive Visionen zu glauben, gerade weil derzeit vieles dagegen spricht:

  • An Frieden glauben, auch wenn wir wissen, dass es immer wieder Krieg geben wird.
  • An der Einigkeit im eigenen Team arbeiten, auch wenn es immer wieder Streit gibt.
  • Projekte verfolgen, die zumindest eine kleine Chance haben, verwirklicht zu werden. Und wenn sie scheitern, können wir zumindest etwas daraus lernen.

Vielleicht hatte Albert Camus recht, als er schrieb: Man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen. Er weiß, dass der Stein niemals oben bleibt. Die Entropie, d.h. der Zerfall, ist immer stärker als der Aufbau. Vertrauen ist immer schneller verspielt als wieder hergestellt. Ich muss also wie die Rote Königin bei Alice im Wunderland rennen, um zumindest auf der Stelle zu bleiben.

Das ist anstrengend, kein Frage. Wäre es nicht angenehmer, seine Energie zu schonen, wenn wir schon wissen, dass wir unsere Ziele ohnehin selten so erreichen wie wir sie geplant hatten? Wäre es nicht weniger frustierend, uns mit Netflix, Amazon Prime und Disney+ „zu Tode zu amüsieren“ (Neil Postman)?

In der Psychologie gibt es den Begriff der „Psychischen Homöodynamik“: Wenn wir scheitern, verarbeiten wir diese Erkenntnis. Versuchen wir es gar nicht erst, wissen wir nicht, ob es funktioniert hätte oder nicht. Deshalb machen langfristig selbst gescheiterte Projekte glücklicher als Projekte, die wir zwar als Ideen hatten, aber nie in Angriff nahmen.

Auch wenn ich keine Studien dazu kenne, liegt es aufgrund des Zusammenhang zwischen unserer Psyche, unseres Gehirns und Immunsystems nahe, dass verfolgte Ziele nicht nur glücklich machen, sondern uns auch gesund halten. Denken wir uns also Sisyphos nicht nur als glücklich, sondern auch als gesunden Menschen.

Literatur:

Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos

Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode

Christian Schubert: Was uns krank macht – was uns heilt. Aufbruch in eine neue Medizin.

Christian Schubert: Das Unsichtbare hinter dem Sichtbaren: Gesundheit und Krankheit neu denken.

Lutz Bannasch und Beate Junginger: Gesunde Psyche, gesundes Immunsystem: Wie Psychoneuroimmunologie gegen Stress hilft.

Sich treiben lassen als Entspannungsmethode

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Vielbeschäftigte Macher*innen tun sich oft schwer damit, einfach mal nichts zu entscheiden. Denn in vielen vermeintlich harmlosen Situationen treffen sie dann doch eine Entscheidung: Welche Musik wähle ich zum Entspannen aus? Wo wollen wir zum Essen hingehen? Wo will ich spazieren gehen? Was kaufe ich zum Kochen ein? Wir lassen uns auch nicht mehr vom Fernseher berieseln, sondern entscheiden im Minutentakt, welche Filmchen wir uns im Internet ansehen wollen. Egal, wohin man blickt, überall Entscheidungen. Entscheidungen jedoch erfordern Energie, ein Nachdenken über und eine Fokussierung auf die aktuelle Situation, eine mindestens unbewusste Beschäftigung damit, wer ich bin oder sein will und oft auch die Kraft, sich gegen Widerstände zu behaupten. Und: Wer entscheidet, übernimmt auch die Verantwortung, wenn etwas schief geht.

Es ist also gar nicht so einfach, von den täglich tausenden Entscheidungen Abstand zu nehmen, um seinen Gedanken ein wenig Ruhe zu gönnen.

Eine Möglichkeit dazu bietet das „Sich treiben lassen“. Stellen Sie sich vor, Sie verbringen ein paar Tage in einer spannenden Stadt. In Prag vielleicht oder Florenz. Sie checken in Ihr Hotel ein, machen sich frisch und tauchen anschließend gut gelaunt ein in die Menschenmenge. Sie haben jedoch überhaupt kein Ziel und keinen Plan, was Sie sich ansehen wollen. Daher stört es Sie auch nicht, sich mit dem Strom treiben zu lassen. Fällt Ihnen ein schönes Gebäude auf oder ein Denkmal, treten Sie aus dem Strom heraus und bleiben stehen. Dann reihen Sie sich wieder ein. Gefällt Ihnen eine romantische Gasse, folgen Sie Ihrem inneren Impuls. Haben Sie Hunger, erkunden Sie die Gegend nach einem Imbiss oder Restaurant.

Hätten Sie klare Ziele und einen klaren Besichtigungsplan, müssten Sie ständig darauf achten, die richtige Straße zu erwischen und oft auch gegen den Strom anschwimmen. So jedoch können Sie sich ganz entspannt treiben lassen, bis Sie genug davon haben.

Würden Sie sich den ganzen Tag treiben lassen oder sogar mehrere Tage, wäre das sicherlich zum einen ebenso anstrengend, zum anderen vermutlich frustrierend. Immerhin haben Sie die weite Reise unternommen, um sich ein paar spezifische Sehenswürdigkeiten anzusehen. Aber für ein paar Stunden die Kontrolle abgeben … Warum nicht?

Solche „Sich treiben lassen“-Situationen gibt es auch im (Arbeits-)Alltag: Beim Spaziergang durch den Wald, beim Schlendern durch einen Supermarkt, in Diskussionen und Gesprächen oder beim Smalltalk mit Kolleg*innen auf dem Gang. Warum nicht nach einem Termin eine U-Bahn-Station früher aussteigen und durch die Straßen schlendern? Warum nicht bei der Frage, wo es zum Mittagessen hingehen soll, andere entscheiden lassen?

Was also hindert uns daran, einfach mal für ein paar Minuten nichts zu entscheiden und uns treiben zu lassen?

Das eigene Ich als Heimatquelle in Zeiten des Wandels

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In einer alten Geschichte überqueren zehn Narren einen Fluss. Auf der anderen Seite angekommen zählen sie durch, ob es alle geschafft haben. Der erste Narr kommt jedoch nur auf neun, weil er sich selbst vergisst. Dem zweiten ergeht es ebenso. Sie sind schon ganz verzweifelt, weil sie glauben, einen von ihnen verloren zu haben. Da kommt ein Wanderer des Weges, erkennt, welchen Fehler sie gemacht haben und zählt die Narren seinerseits laut durch. Die Narren verstehen zwar ihren Fehler nicht so richtig, sind jedoch erleichtert, dass sie wieder alle beisammen sind.

Auf der Suche nach unserem Selbst

So ähnlich ergeht es uns allen. Wir besitzen einen Käfig voller Narren, vergessen jedoch, dass wir noch eine weitere Instanz als Chef dieser Narren haben (sollten). Diese Instanz wird unser Ich oder unser Selbst genannt. Und die Narren sind unsere Gefühle, Emotionen, Stimmungen, Gedanken oder komplexer innere Teilpersonen oder Antreiber.

Identifizieren wir uns in einzelnen Situationen vollkommen mit unseren einzelnen Narren, vergessen wir, dass diese nur einen Teil von uns ausmachen. Deshalb empfiehlt die Psychosynthese (nach Roberto Assagioli) eine Disidentifikation mit unserer einzelnen Erlebensmodalitäten, um uns in einem zweiten Schritt mit unserem Selbst zu identifizieren.

Wir disidentifizieren uns von unseren Narren, indem wir sie wahrzunehmen, ohne mit ihnen eins zu werden:

  • Ich habe körperliche Empfindungen (Schmerzen, Verspannungen, Unruhe, …), aber ich bin nicht meine körperlichen Empfindungen.
  • Ich habe Gefühle (Wut, Angst, Enttäuschung, …), aber ich bin nicht meine Gefühle.
  • Ich habe Gedanken, aber ich bin nicht meine Gedanken.
  • Ich habe Wünsche, aber ich bin nicht meine Wünsche.

Unser Selbst würde stattdessen sagen: Ich bin. Ich bin da. Ich bin präsent. Ich nehme wahr. Ich beobachte.

Bei der Identifikation mit dem Selbst ergibt sich jedoch ein Problem: Unser Selbst kann lernen, unsere inneren Narren mit Abstand zu beobachten („Aha, da ist also eine Wut“), es kann sich jedoch nicht selbst beobachten. Wir kommen unserem Selbst also nur mehr oder weniger indirekt auf die Spur, indem wir das aus dem Weg räumen, was nicht zu unserem Selbst gehört.

Unser Wille als Kern unseres Ichs

Stellen wir uns dazu einen Fluss vor, der automatisch seinen Weg sucht, wenn er nicht daran gehindert wird. Dieser Fluss hat einen Willen, eine Bestrebung, Motivation und Energie. Er hat den Antrieb, genau wie unser Selbst, sich eine Spur durch die Natur zu bahnen. Er verfolgt geduldig und beharrlich sein ganzes Leben lang seinen Weg. Sein Wille ist manchmal schwach, wenn sein Wasser beinahe versiegt. In anderen Zeiten ist sein Wille stark, wenn er zu einem reißenden Strom wird. Der Fluss untersteht gleichzeitig stetigen Veränderungen und doch ist das Wasser in ihm immer dasselbe. Es kommt stetig aus derselben Quelle.

In der Psychosynthese wird davon ausgegangen, dass unser Ich ein stabiler Teil unseres Wesens ist, während alles andere in uns einem stetigen Wandel unterzogen wird. Unser Selbst war schon immer da und wird uns trotz aller Veränderungen und Anpassungen als innere Heimatquelle dienen.

Wenn ich persönlich an meine Kindheit zurückdenke, war ich schon immer neugierig, eher zurückhaltend als mutig, hilfsbereit, ausgestattet mit einem großen Gerechtigkeitssinn und eher langsam und geduldig.

In der Grundschule hatte ich einen türkischen Freund. Ich erinnere mich sogar noch an seinen Namen: Ismail, wie in Moby Dick. Eines Tages auf dem Nachhauseweg wurde er von zwei „Schulkameraden“ verbal-rassistisch angemacht. Ich meinte nur, sie sollten ihn in Ruhe lassen, weil er mein Freund ist. Ich erinnere mich auch, dass ich nicht verstanden habe, warum er anscheinend stinken solle. Ich hatte damals keine Ahnung von Rassismus. Doch hier war ich einmal mutig. Ansonsten hielt sich mein Mut bspw. gegenüber Lehrer*innen eher in Grenzen. Ich war schon damals der stille Beobachter, der so lange abwartet, bis es fast schon zu spät ist um einzugreifen. Ich war schon als Kind der Typ, der draußen steht, während andere sich balgen.

Wie also könnte der Wille meines Ichs aussehen? Ich denke, mein größtes Bestreben besteht in der Harmonie der Menschen untereinander. Auf dem Weg dorthin darf durchaus gestritten werden. Ich will keinen Burgfrieden oder eine Pseudoharmonie, sondern eine langfristige, ehrliche Harmonie, bei der jeder Mensch sich ernst- und wahrgenommen fühlt.

Zu entdecken, dass Harmonie über einen gesunden Streit führen kann, oft sogar muss, hat jedoch in meinem Fall einige Jahrzehnte gebraucht.

Den eigenen Willen erkennen lernen

Den eigenen reinen Willen zu erkennen ist folglich nicht gerade einfach, weil sich uns stattdessen viele periphere Willensfragmente aufdrängen. Oftmals glauben wir unserem Willen zu folgen. Dabei folgen wir lediglich inneren Mustern und Prägungen, Stimmungen oder äußeren Erwartungen.

Umso wichtiger ist es, den eigenen Willen immer wieder zu überprüfen:

  • Mache ich oft eher das, was andere von mir wollen anstatt dem eigenen Willen nachzuspüren?
  • Handle ich impulsiv, weil ein inneres Muster („Sei stark, mach schneller, sei perfekt, sei beliebt“) in mir angetriggert wird (siehe auch: https://www.m-huebler.de/erlauber-ausnahmen-von-der-regel)?
  • Handle ich oft aus Wut, Angst, Enttäuschung, Ekel, … heraus?
  • Lasse ich mich leicht ablenken?
  • Mache ich das, was leicht erscheint, anstatt das, was ich wirklich will?
  • Handle ich (nicht), weil ich zu träge oder müde bin?
  • Mache ich mir zu viele Gedanken, bevor ich handle und mache dann im Zweifel lieber gar nichts?

Unser Selbst zu entdecken ist eine spannende Aufgabe, die uns – gerade in turbulenten Zeiten – eine immense Sicherheit bietet. Denn wer weiß, was ihm oder ihr wirklich wichtig ist im Leben, lässt sich nicht (mehr) so leicht aus der Ruhe bringen.

Literatur

Ken Wilber – Wege zum Selbst

Piero Ferrucci – Werde was du bist