Vor kurzem durfte ich einen unfreiwilligen Klinikaufenthalt hinter mich bringen. Verbunden damit war die Auflage kompletter Fremdernährung. Am Ende des ersten Tages explodierte ein solcher Hunger in meinem Magen, dass ich nur noch an Schweinhaxen mit Pommes, frittiert in arterienverklebendem Industriefett denken konnte. Doch nach und nach gewöhnte sich mein Magen an die flüssige Nahrung. Das Grummeln hörte auf.
Wieder Zuhause sollte ich Magen und Darm wieder langsam mit Schonkost versorgen. Auf der roten Liste standen Alkohol, Kaffee, Schwarztee, Käse über 50% Fett, faseriges Fleisch, Geräuchertes und vermutlich einiges andere mehr, das ich verdrängte, um es mir leichter zu machen. Nach und nach darf ich mir all diese Leckereien wieder zu Gemüte führen. Allerdings nicht mehr in der Masse wie zuvor.
Was sich auf den ersten Blick wie eine Hiobsbotschaft anhört, entpuppte sich beim zweiten Hinsehen als großartige Chance. Die vermeintliche Zwangsjacke führte zu einer Erweiterung meiner Wahlmöglichkeiten. Wer hätte gedacht, dass Porridge mit Kirschen oder Mangosauce so lecker schmeckt und dass vegane Aufstriche besser munden als sie aussehen? Und mit einer Johannisbeer-Schorle lassen sich ebenso erquickliche Partys feiern.
Ende der 60er Jahre: Der Psychologe Walter Mischel führt den berühmt gewordenen Marshmellow-Test durch: Kinder im Kindergartenalter werden für 15 Minuten mit einem Marshmallow alleine gelassen. Wenn sie widerstehen, bekommen sie im Anschluss einen weiteren. Die Ergebnisse: Es gibt drei Arten von Kindern:
- Die Selbstkontrollierten
- Die Impulsiven
- Die Schummler, die den Marshmellow aushöhlten und so taten, als hätten sie widerstanden.
Walter Mischel testete 13 Jahre nach dem ersten Test die jungen Erwachsenen erneut. Das Ergebnis: Kinder, die im Vorschulalter lange hatten warten können, waren als junge Erwachsene entschlossener, erfolgreicher in der Schule, waren resilienter und wurden sozial kompetenter beurteilt. Die Ungeduldigen hingegen waren emotional instabiler und schnitten in der Schule schlechter ab – obwohl sie nicht weniger intelligent waren.
Ein Trend, der sich fortsetzt. BJ Casey (2011) fand heraus, dass Ungeduldige Informationen schlechter filtern können und dadurch mehr Fehler machen.
Celeste Kidd (2012) variierte das Setting, indem sie eine Verlässlichkeitskomponente einbaute. Sie ließ die Kinder durch den Versuchsleiter verunsichern (er hielt Versprechungen nicht ein) oder eine Bindung aufbauen (er hielt ein Versprechen ein). Der Effekt: Die Verunsicherten hielten im Durchschnitt nur 3 Minuten durch, die Sicheren 12 Minuten.
Selbstdisziplin und Geduld sind folglich wichtige Faktoren für Karriere und Selbstzufriedenheit. Immerhin geht es nicht nur um den persönlichen Erfolg, sondern auch um die Impulskontrolle im Umgang mit Alkohol oder Essen. Selbstkontrolle befähigt in diesem Sinne zu mehr Wahlmöglichkeiten. Ich kann mich betrinken, weil’s Spaß macht, die Selbstkontrolle zu verlieren, muss ich aber nicht. Ich kann mir jeden Sonntag ein Schäufele reindrücken – schmeckt ja auch lecker! Muss ich aber nicht. Ich kann tagtäglich an meiner Karriere arbeiten, weil ich das Gefühl habe, mich damit selbst zu verwirklichen. Muss ich aber nicht. Ich kann auch an manchen Tagen meine Kinder fragen, ob ich etwas mit ihnen spielen soll oder ob wir spazieren gehen wollen – was ich im Anschluss an diesen Blogeintrag mache.
Da Einzelstudien über die Langzeitentwicklung der Marshmallow-Kinder auch zeigten, dass Selbstdiszipin in aller Regel erfolgreich, aber nicht unbedingt glücklich macht, übertriebene Selbstdiszipin macht so manchen Menschen einsam, ist es wichtig, sich genau diese Wahlmöglichkeit klar zu machen. Schließlich besitzt streng genommen ein Selbstdisziplin-Karriere-Junkie auch keine Selbstdisziplin mehr: Er oder sie kann sich einfach nicht mehr dagegen wehren, Tag um Tag an seinem ‘Höher, Schneller, Weiter’ zu arbeiten.
Literatur:
Walter Mischel – Der Marshmallow-Test