Wie können Teams bei unterschiedlichen Meinungen trotzdem zusammen arbeiten?
Seit der 3G-Regel in Unternehmen häufen sich die Hinweise auf ein hohes Konfliktpotential in der Arbeit. Sind jedoch Konfliktgespräche zum Thema Corona, wenn es um Abstandsregeln, Masken und insbesondere um Impf- oder Testverweigerungen geht, überhaupt möglich?
Grundsätze einer Mediation und eines Konfliktgesprächs
Bevor ich aus Mediationssicht eine Antwort auf diese Frage gebe, sollten wir einen Blick auf die Ziele eines Konfliktgesprächs richten. Ich fokussiere mich dabei auf drei Punkte:
- Offenheit: Ein Konfliktgespräch sollte – wie grundsätzlich jedes Gespräch – ergebnisoffen sein. Natürlich kommt am Ende jeden Gesprächs ein Ergebnis heraus, mit dem die beteiligten Parteien leben müssen. So kann es dazu führen, dass Mitarbeiter*innen nicht bereit sind
- Verstehen: In der Mediation gilt der Grundsatz einer Allparteilichkeit. Allparteilichkeit bedeutet, Personen aus ihrem Kontext heraus zu verstehen. Ich selbst würde vermutlich anders handeln. Ich kann jedoch zumindest zu versuchen, die Beweggründe einer Person aufgrund ihrer biografischen Erfahrungen zu verstehen.
- Einigung: Eine Einigung ist erst möglich, wenn ein gegenseitiges Verstehen stattfindet. Die Lösungen nach einer Phase des gegenseitigen Verstehens sind oftmals überraschend. Meist geht es auch wesentlich schneller als erwartet.
Konfliktlösungen mit Mitarbeiter*innen zu Corona-Themen
Wenn wir uns diese Grundbedingungen ansehen, wird deutlich, dass es schwierig bis unmöglich erscheint, Konfliktlösungen zu Corona-Themen gemeinsam zu erarbeiten im Sinne einer Win-Win-Situation. Stattdessen dominieren sowohl medial als auch politisch erwünschte oder unerwünschte Bilder von der einen und von der anderen Seite der Konfliktparteien. Bekanntermaßen geht dies nicht nur in eine moralische Richtung, sondern auch eine juristische. Es geht hier strukturell betrachtet also nicht nur um Meinungsverschiedenheiten, über die moralisch unterschiedlich geurteilt werden könnte, sondern v.a. um rechtliche Vorgaben. Tragfähige Lösungen im Sinne eines Aufeinanderzubewegens zweier oder mehrerer Parteien sind daher nicht möglich. Und damit rücken auch Heilungen und Einigungen in weite Ferne.
Konfliktverschiebungen
Wenn Konfliktlösungen nicht möglich, aber die Meinungsverschiedenheiten dennoch vorhanden sind, was passiert dann mit dem Frust der Kontrahent*innen?
Zum einen finden Konfliktverschiebungen statt. Schauen wir uns solche Verschiebungen an einem typischen Beispiel aus meiner Mediationspraxis an: Ein Mitarbeiter kann oder will sich nicht impfen lassen. Er weiß, dass er sich dann vor Ort täglich testen lassen muss. Seine Arbeit erlaubt es, aus dem Homeoffice zu arbeiten. Da er jedoch der einzige im Team ist, empfinden dies die anderen Kolleg*innen als ungerecht, weil er viele Aufgaben aufgrund der Ferne nicht mitbekommt. Warum also verweigert er die Testungen?
Auch wenn die genauen Umstände im Einzelfall vielleicht bekannt sind, erlebe ich es in meiner Praxis auch bei anderen Themen sehr häufig, dass Führungskräfte eher zu wenig als zu viel von den Hinter- und Beweggründen ihrer Mitarbeiter*innen wissen. Daher plädiere ich grundsätzlich erst einmal für die Offenheit und Neugier des Wissenwollens. Ich muss nicht gut finden, warum mein*e Mitarbeiter*innen dies oder jenes tun. Interesse dafür sollte ich jedoch mitbringen.
Was könnte sich nun hinter unserem Beispiel verbergen:
- Wohlwollend formuliert könnte es sein, dass er sich unwohl fühlt in einem Team, in dem er der einzige Ungeimpfte ist und sich erklären muss.
- Eventuell kann er sich aufgrund einer schwerwiegenden Krankheit nicht impfen lassen. Gleichzeitig ist es ihm unangenehm darüber zu sprechen.
- Es könnte auch sein, dass er die aktuelle Situation als ungerecht empfindet und die einzige Macht nutzt, die ihm bleibt: Der stoische Ungehorsam bzw. die Verweigerung des Testens. Eine Nichthandlung als Machtdemonstration.
Mir geht es hier nicht um logisch nachvollziehbare Hintergründe, sondern darum, was in den Menschen emotional vorgeht, welche Bedürfnisse sie haben und welche Wege sie bewusst oder unbewusst einschlagen, um ihren Bedürfnissen gerecht zu werden.
Interessanterweise stieg die Krankenquote zu Beginn der 3G-Regelung für Unternehmen bei den Berliner Verkehrsbetrieben stark an, sodass sogar S-Bahnen ausfielen. Auch Krankheit – simuliert oder entwickelt – ist eine typische Verschiebung von ungeklärten Konflikten auf die Körperebene.
Weitere typische Aggressionsverschiebungen sind:
- Innere Kündigung
- Passive Aggressionen: Die Menschen sind dann oberflächlich überfreundlich und beschwichtigend. Unter der Oberfläche werden jedoch Aktionen sabotiert, Termine verschleppt oder Gerüchte in Umlauf gebracht.
- Auf einer aktiven Ebene wird genörgelt, gegrantelt oder es kommt sogar zum Mobbing.
Filterblasenbildung
Egal in welcher Situation: Jeder Mensch hat Bedürfnisse nach körperlicher oder finanzieller Sicherheit, sozialer Anerkennung und Wertschätzung. Jeder Mensch sucht nach einem Platz in der Welt und möchte ernst genommen werden. Nur die Wege, wie wir Menschen dies erreichen wollen, sind unterschiedlich. Gibt es keine Möglichkeit, seine Bedürfnisse zu befriedigen, werden Notfallpläne aktiviert. Die bedrohten Menschen gehen in Gegenwehr, wie wir dies von Nörglern oder Blockierern kennen, stellen sich tot und hoffen, dass es nicht so schlimm wird oder flüchten. Das Homeoffice in unserem Beispiel ist in diesem Sinne eine Art Flucht als mehr oder weniger aggressive Notwehr – zumindest aus Sicht der agierenden Person.
Gleichzeitig sind die Bedürfnisse immer noch unbefriedigt, was häufig zu einer starken Fokussierung auf Gleichgesinnte führt. Die Person wird sich – außer sie ist ein radikaler Einzelgänger – ähnlich denkende Menschen suchen und sich mit diesen im realen oder virtuellen Leben austauschen. Dadurch wird sie jedoch immer mehr in ihrem Denken bestätigt. Die Angst vor einer Impfung wird also größer. Die Wut auf die Andersdenkenden und die Bestätigung im Recht zu sein ebenso.
Währenddessen passiert im Unternehmen genau dasselbe. Die vor Ort verbleibenden Mitarbeiter*innen befinden sich ebenso in einer Filterblase und bestätigen sich gegenseitig in ihren Sichtweisen gegen dem fehlenden Mitarbeiter.
Wir haben es also mit einem klassischen Konflikt mit Gruppenbildung auf einer mindestens mittleren Eskalationsstufe zu tun, der sich jedoch wie dargestellt nicht so leicht läsen lässt.
Lösungsansätze
- Verstehen statt Lösungen: Für Führungskräfte oder Mediatoren kann es keine Lösung im Sinne einer Win-Win-Situation geben, wie dies normalerweise angestrebt wird. Es kann höchstens ein Verstehen der jeweiligen Positionen geben, sofern dies erwünscht ist. Für das Verstehen muss deutlich signalisiert werden, dass es eine gleichzeitige rechtliche Handlungsbindung gibt.
- Emotionen statt Meinungen: Eine Möglichkeit der Annäherung sind Emotionen. Die Meinungen sind mittlerweile sehr verhärtet. Interessanterweise sind die Emotionen aller Parteien jedoch ähnlich. Auf der einen Seite ist da die Wut auf die Gegenpartei. Auf der anderen Seite aber auch eine verbindende Angst. Die eine Partei hat Angst vor Ansteckungen. Die andere Partei hat Angst vor einem neuartigen Impfstoff. Auch wenn die Meinungen unterschiedlich sind, über die gegenseitige Akzeptanz der Emotionen könnte eine Annäherung stattfinden.
- Lösungen auf Zeit: Wie im genannten Beispiel kann eine Lösung auf Zeit vereinbart werden, bspw. bis ein Totimpfstoff vorhanden ist, es zu neuen Regeln oder Gesetzen, zu einer allgemeinen Impfpflicht kommt oder die Regeln wieder gelockert werden. Bis dahin ist es wichtig, jenseits von Ressentiments und Vorurteilen möglichst reibungsfrei zusammen zu arbeiten. Die Ansage an alle Parteien müsste lauten: Wir haben kein Verständnis füreinander und respektieren uns dennoch. Dies ist nur auf der Basis gemeinsamer Ziele möglich. So sollte es allen wichtig sein, einen guten Job zu machen und respektvoll miteinander umzugehen. Das gemeinsame Ziel sollte eine sachliche Kooperation sein, anstatt sich in Nebenkriegsschauplätzen wie Blockaden oder Mobbing zu verirren.
- Bindungsarbeit jenseits einer Lösung: Eine Führungskraft könnte beispielsweise den direkten Kontakt zu diesem Mitarbeiter per Telefon suchen und sich regelmäßig erkunden, wie es ihm geht. Es kann in diesen Gesprächen wie gesagt nicht um eine Lösung des Problems oder Konflikts handeln, sondern lediglich um die Aufrechterhaltung der Bindung über die Zeit hinweg. Deshalb ist es sinnvoll, dieses Thema ruhen zu lassen und sich stattdessen produktiveren Themen zu widmen. In der Hoffnung, dass eines Tages wieder eine echte Annäherung stattfinden kann.
- Die Führungskraft als Shuttle-Mediator: Da beide Parteien in ihren Filterblasen stetig bestätigt werden, könnte eine Führungskraft es als ihre Aufgabe verstehen, zwischen diesen Parteien zu vermitteln. Auch hier kann es aufgrund der aktuell rechtlichen Situation nicht darum gehen, eine Vermittlung anzustreben, sondern lediglich das Verstehen füreinander zu fördern. Die Führungskraft muss folglich zwischen der rechtlichen Ebene und der Verstehens-Ebene unterscheiden. Dies funktioniert ähnlich bei einer Frau, die jahrelang von ihrem Mann missbraucht wurde und diesen schließlich im Schlaf erschlug. Versetze ich mich in das Leben der Frau, kann ich dies nachvollziehen. Rein rechtlich ist sie dennoch des Mordes schuldig, da sie auch anders hätte handeln können, beispielsweise flüchten.
- Fragen statt Statements: Daran knüpft nahtlos die Arbeit mit Fragen an. Dominiert in der gegenseitigen eher eine vorwurfsvolle oder eine fragende Haltung. Als Führungskraft könnten Sie konkret die Fragen ihrer Mitarbeiter*innen sammeln und diese der jeweils anderen Seite zum nachdenken vermitteln. Dabei sind alle Fragen bis auf die Warum-Frage erlaubt, bspw: Was macht der Kollege den ganzen Tag? Ist er manchmal früher fertig? Wie oft macht er Pausen? All diese Fragen bzw. deren Beantwortung könnten dazu führen, wieder Vertrauen zueinander zu fassen.
- Denken in Alternativen: All das steht und fällt mit der Frage nach der Sinnhaftigkeit des eigenen Einsatzes. Will ich wirklich verstehen, was meinen Mitarbeiter bewegt? Will ich das Risiko eingehen, eventuell selbst unter Beschuss zu geraten, wenn ich dessen Beweggründe verstehen will? Will ich Bindungsarbeit leisten? Will ich zwischen den Parteien vermitteln? Wenn nein, wie lautet die Alternative? Ist Kündigung eine reale Option? Oder gibt es die Möglichkeit, dass nur ich als Führungskraft und nicht das Team mit dem Mitarbeiter zu tun habe? Eventuell bekommt er auch nur solche Aufgaben, für die es keinen Austausch mit dem restlichen Team braucht.