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Goodbye Normalbiographie, oder: Warum wir uns mit unserer Biographie aussöhnen sollten, um besser mit Stress umzugehen

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Das Stress-Empfinden im „Neuen Normal“

Wurde die Zündschnur bei vielen Menschen kürzer? Ist das Stresslevel wirklich höher als früher? Zumindest macht es den Anschein, wenn wir Nachrichten lesen – was nicht unbedingt eine verlässliche Quelle ist, wenn wir an die Tendenz der Medien zur Übertreibung denken. Aber auch andere Quellen zeigen in dieselbe Richtung: Die TK-Stress-Studie von 2021 belegt, was viele empfinden. Jeder Vierte ist häufig gestresst, aufgrund der Arbeit oder Selbstansprüchen.

OK. Die Studie stammt aus dem Jahr 2021 und wir wissen, was da los war. Dennoch ist vielleicht genau das unser „Neues Normal“. Immerhin haben wir zwar nicht mehr mit Corona zu tun, aber mit der Energiewende, einem Krieg beinahe vor der Haustür, Waldbränden im globalen Süden, vermutlich bald neuen Einwanderungswellen, einen drohenden Rechtsruck und und und. Da wünscht man sich beinahe Corona zurück. Manche Medien machen sich schon Sorgen darüber, wohin wir denn dann in Zukunft in den Urlaub fahren, ohne zu merken wie sarkastisch eine solche Frage im Angesicht der brennenden Wälder im Süden erscheint.

Rezepte gegen Stress

Was also tun gegen die umgreifende Distress-Pandemie? Rezepte dagegen gibt es zu genüge. Wir könnten lernen achtsamer zu sein und uns mehr durch den Tag zu ommen. Über Radikale Akzeptanz habe ich auch schon einiges auf diesem Blog geschrieben (u.a. hier und hier). Alles gut und wichtig – sonst hätte ich nicht darüber geschrieben oder würde Seminare dazu anbieten, Zwinkersmiley.

Zum Umgang mit Stress können wir uns auch auf eine andere Weise annähern, indem wir uns Gedanken darüber machen, was Stress auslöst, um uns dann die Frage zu stellen, wie wir mit diesen Auslösern besser umgehen können.

Stress wird u.a. über Vergleiche ausgelöst: Der eine Mensch ist schneller als der andere, hat mehr Geld, ein schöneres Haus, ist erfolgreicher, usw. Ich bin überzeugt davon, dass ohne diese Vergleiche eine Menge Stress von uns abfallen würde wie herbstliches Laub. Dazu sollten wir lernen, uns mit unserer Biographie auszusöhnen, anstatt uns mit anderen Menschen zu messen.

Normalbiographien in der Postmoderne

Ein erster Schritt dahin ist die Akzeptanz der Postmoderne. In früheren Zeiten gab es so etwas wie eine Normalbiographie. Nicht für alle, aber für die meisten. Folgte man oder frau dieser Normalbiographie, erschien es wahrscheinlich, gut im Leben zu stehen.

Als ich jung war, lautete diese Normalbiographie stark verkürzt: Mach’ dein Abi und studiere, erlerne einen Beruf und streng dich an. Dann bekommst du einen guten Job. Anschließend gründest du eine Familie, baust ein Haus am (damals noch bezahlbaren) Stadtrand und wirst irgendwie glücklich. Soweit der Plan.

Freilich gab es bereits damals eine Menge Abweichungen von diesem Plan. Dennoch galt die ein oder andere Form dieser Normalbiographie als Orientierung für den ganz persönlichen „pursuit of happiness“, den persönlichen Weg zum Glück.

In der Postmoderne gibt es jedoch keine Normalbiographie mehr, an der wir uns orientieren könnten. Vielmehr: Es gibt eine enorme Pluralisierung dieser Wege:

  • Da ist die Psychologin, die bereits vor Corona zu Verschwörungstheorien forschte und damit 2020 groß herauskam. Ähnliches ließe sich über Klima- oder Genderforschende schreiben. Solche Hypes gab es früher auch schon. Die Digitalisierung macht jedoch aus einem Hype einen Megahype.
  • Da gibt es andererseits den Biologen, der in seinem angestammten Beruf nie Fuß fassen konnte und heute als Bauzeichner in einem kleinen Büro arbeitet und gerade so über die Runden kommt. Gleiches ließe sich über Geolog*innen oder Sprachwissenschaftler*innen schreiben, die alldieweil in staatlichen Verwaltungsbüros landen.
  • Dann gibt es den Schulabbrecher, der eine App programmierte und damit beinahe über Nacht reich wurde.
  • Oder die Influencerin, die mit der Präsentation von Modeartikeln auf Tiktok reich wurde. Eine Ausbildung benötigt sie dafür nicht. Es reichen alleine ihr schickes Aussehen und freches Auftreten.
  • Andererseits gibt es auch den Youtuber, der zwar sein Studium erfolgreich abgeschlossen hat, aber dennoch mehr Geld mit seinem Youtube-Kanal verdient. Usw.

Die Digitalisierung führte zu einer weiteren Demokratisierung der Welt und damit unweigerlich zu einer weiteren Pluralisierung von Biographien. Plötzlich konnten diejenigen, die schnell, frech und klug genug waren aus ihren biographischen Ketten ausbrechen. Auch ohne Studium oder Berufsausbildung kann ich mit Hilfe des Internets reich werden.

Gleichzeitig können dies die meisten Menschen nicht, aus welchen Gründen auch immer. Sofern diese Menschen bzw. deren Berufe nichts mit der Digitalisierung zu tun haben, erscheint ein Vergleich müßig, beispielsweise bei systemrelevanten Krankenpfleger*innen, Bauarbeiter*innen, Kassierer*innen oder Putzkräften. Doch was ist mit denjenigen, die potentiell eine ähnliche Karriere hätten hinlegen können wie der App-Programmierer oder die Influencerin?

Hinzu kommt, dass viele Menschen sich bislang immer noch an Normalbiographien aus der Zeit der Postmoderne orientieren: Meine Familie, mein Haus, mein SUV. Kein Wunder, dass der Aufschrei gegen die Heizungspläne der Regierung so groß war. Hier werden aktuell nicht nur Biographien zerstört oder zumindest verstört. Hier wird auch das Bild einer Normalbiographie, an der ich mich orientieren kann, zerstört. Denn anscheinend verleiht es vielen Menschen einen Sinn im Leben, ein großes Auto zu fahren, ein Haus zu bauen und dieses an ihre Kinder zu vererben. Es scheint beinahe so, als würde ohne Auto und Haus das Leben massiv an Sinn verlieren.

Betrachten wir den Umstand der Unbezahlbarkeit eines Hauses als Chance, könnten wir auch die reine Konsumgesellschaft begraben und uns vermehrt mit gemeinschaftlichen Werten auseinandersetzen. Das jedoch ist eine andere Diskussion.

Sich mit der eigenen Biographie aussöhnen

Anstatt einer Orientierung an vermeintlichen Normalbiographien sollten wir uns folglich mit unserer eigenen Biographie aussöhnen, um uns gegen Vergleichsstress zu wappnen.

Ein Ansatz dazu ist die Sichtweise, sich selbst als Held*in in einem Film zu betrachten:

  • Jahrelang lebte ich in einem bestimmten Status quo.
  • Dann veränderte sich etwas in meinem Leben, worauf ich eine Entscheidung treffen musste.
  • Ich machte mich also auf einen Weg voller Gefahren und Hürden, reifte und wurde letztlich zu dem Menschen, der ich heute bin.
  • Eigentlich dachte ich, dass das Leben nun einem langen ruhigen Fluss gleicht. Doch jetzt passiert wieder etwas, auf das ich reagieren muss. Usw.

Und da jeder Mensch mit anderen Umständen konfrontiert ist, lässt sich auch keine Biographie mit einer anderen vergleichen.

Ein anderer Ansatz sind Biographiebilder, die uns zum Nachdenken über unser Leben anregen:

  • Prägung: Wie prägten mich meine Herkunft, Erziehung und Umwelt? Welche Werte wurden mir vermittelt? Welche davon gelten auch heute noch? Welche nicht?
  • Jahresringe: Je älter wir werden, umso mehr nimmt unsere körperliche Produktivität ab. Vergleichen wir uns jedoch mit einem Baum, können wir auch von einer Zunahme an Stärke ausgehen. Was genau macht diese altersweise Stärke aus?
  • Lebensaufgaben: Manches Leben gleicht einem Hürdenlauf – voller Aufgaben, die uns fordern. Worin genau bestehen diese Aufgaben? Und gibt es eine Lebensaufgabe, die sich durch mein gesamtes Leben durchzieht?
  • Lebensrhythmen: Meine körperlichen Prozesse, Beziehungen und Bedürfnisse verlaufen wie alle natürlichen Prozesse – bspw. die Jahreszeiten – in Rhythmen. Was bedeutet das für den Stress, den ich aktuell erlebe?
  • Beziehungen: Wie haben sich meine Beziehungen über die Jahre hinweg verändert? Bin ich damit zufrieden oder möchte ich etwas verändern?
  • Puzzle: Wir können uns unser Leben auch als großes Puzzle vorstellen. Mal passen die Teile zusammen, mal müssen wir lange suchen, um das richtige Teil zu finden. Nach welchem Teil suche ich aktuell?
  • Labyrinth: Und manchmal erscheint uns unser Leben wie ein Labyrinth, aus dem ich einen Ausweg suche. Aber vielleicht gibt es ja einen roten Faden, einen Sinn des Lebens, an dem ich mich orientieren kann.

Sinn und Zweck der Beschäftigung mit der eigenen Biographie ist die Orientierung an sich selbst. Denn in einer postmodernen Welt können wir uns kaum noch an anderen Menschen orientieren. Sinnvoller ist es stattdessen, sich mit den eigenen Lebensentscheidungen auszusöhnen und so mit der eigenen Biographie glücklich zu werden.

Quellen: Die TK-Stressstudie 2021, https://www.tk.de/presse/themen/praevention/gesundheitsstudien/tk-stressstudie-2021-2116458?

Techniken zum Training einer Radikalen Akzeptanz

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Seitdem ich das Prinzip der Radikalen Akzeptanz in meine Seminare einbaue, gibt es jedes mal 2-3 Teilnehmer*innen, für die genau das das Highlight des Trainings ist. Schon allein der Begriff ist ein Hinhorcher.

Für welche Situationen eine Radikale Akzeptanz sinnvoll ist und wie ein grundsätzlicher Zugang zur Radikalen Akzeptanz aussieht, habe ich hier beschrieben.

Doch wie genau funktioniert es, Situationen, die ich nicht ändern kann radikal anzunehmen? Dazu gibt es einige Techniken:

Realitäts-Check

Kern der Radikalen Akzeptanz ist die Vergegenwärtigung, dass unsere Gedanken sich von der Realität unterscheiden. Diese banale Tatsache ist bisweilen ein unerheblicher Teil unseres Alltags, erweist sich jedoch – insbesondere bei negativen Affirmationen – als besonders wichtig.

Unser aktuelles Denken weicht sehr häufig von der Realität ab. Wir haben Tagträume, denken an den kommenden Urlaub oder haben eine Idee für das anstehende Projekt. Manchmal hängen wir jedoch auch Glaubenssätzen an, die sich weder jetzt noch später mit der Realität decken werden.

Ergänzen Sie bitte den folgenden Satz: “Ein Indianer kennt keinen …”

Offensichtlich ist es unmöglich, das fehlende Wort nicht zu denken. Dabei wissen wir genau, dass der Satz Blödsinn ist. Und wenn nicht: Was wäre, wenn Sie auf der Straße einen Indianer träfen, der Sie nach einer Schmerztablette fragt? Geben Sie ihm dann eine Tablette und denken gleichzeitig an diesen Satz? Oder sagen Sie ihm: “Ne, ne, ne. Weißte ja selber, dass das nicht stimmen kann.”

Wir Menschen sind schon was Besonderes. Wir sind wohl die einzige Spezies, die gleichzeitig etwas tun und etwas Gegenteiliges denken kann. Oder wir sind uns bewusst, dass das, was wir denken unsinnig ist und denken es trotzdem.

Die Indianer-Szene erscheint uns nicht nur amüsant. Deren Wahrheitsgehalt ließe sich auch mehr oder weniger einfach überprüfen.

Weniger amüsant wird es bei verbaler Selbstgeißelung, wenn wir bspw. nach einer Kündigung zu uns sagen: “Das war ja von Anfang an klar” oder “Du hättest dich mehr reinknien sollen”. Umso wichtiger ist hier ein genauer Realitäts-Check:

  • Was genau war von Anfang an klar?
  • In welchen Momenten hätte ich mich mehr anstrengen sollen?
  • Was hätte das konkret verändert?

Hätte ich tatsächlich etwas verändern können, gilt es, eine Lehre aus der Situation zu ziehen. Wenn nicht, kann ich die Situation nur radikal akzeptieren.

Typische Muster erkennen

Um nicht wieder in seine üblichen Reiz-Reaktionsmuster zu verfallen, ist es hilfreich, sich selbst gut zu beobachten und seine üblichen Muster zu erkennen. Das bereits erwähnte Beispiel der Kündigung könnte als typisches persönliches Muster bei manchen Menschen die Selbstgeißelung nach sich ziehen. Andere werden in einem solchen Fall wütend und anklagend: “Das ist mal wieder typisch für die da oben. Denen ist doch egal, was aus einem einfachen Angestellten wird.”

Solche internen Muster binden jedoch eine Menge Energie und verhindern eine kreative Auseinandersetzung mit der Situation. Auf der Basis einer Radikalen Akzeptanz des Ist-Zustands könnte ich die Situation stattdessen abhaken und meine Energie in Bewerbungen stecken.

Gedanken erkennen und einordnen

Eine Vorstufe der Mustererkennung kann das bloße, wohlwollende Wahrnehmen der eigenen Gedanken sein: “Aha. Da kommt mal wieder dieser Ärger oder diese Selbstzerfleischung.”

Diese Gedanken können zudem kategorisiert werden:

  • Ah, da ist mal wieder eine Prophezeiung.
  • Ich vergleiche mich mal wieder mit meinem Bruder.
  • Ich bewerte mich mal wieder.

Den Mustern einen Krankheitsnamen geben

Ebenso kann es hilfreich sein, den eigenen Mustern einen Namen zu geben, der an Krankheiten erinnert:

  • Beschuldigeritis: Wenn ich den Fehler mal wieder bei allen anderen suche, nur nicht bei mir.
  • Rechthaberitis: Wenn ich mal wieder unbedingt Recht haben muss, anstatt mir die Situation genauer anzusehen.
  • Bewerteritis: Wenn ich mich selbst mit allem, was ich tue, negativ bewerte.
  • Übertreiberitis: Wenn ich mich selbst an Maßstäben messe, denen ich niemals gerecht werden kann.
  • Analyseritis: Wenn ich mich selbst analysiere und mich damit fertig mache.
  • Ironisiereritis: Wenn ich die Situation ins Lächerliche ziehe, anstatt der Wahrheit ins Auge zu blicken.
  • Ablenkeritis: Wenn ich mich anstatt der Situation zu stellen, mit ganz anderen Dingen beschäftige.
  • Fluchteritis: Wenn es das alles nicht wahrhaben will.

Externalisieren

Externalisieren schließlich ist eine oft genutzte therapeutische Methode zum Umgang mit schwierigen Situationen. Sobald Probleme schreibend oder zeichnend auf Papier gebracht werden, verlieren sie häufig ihre Dramatik. Kein Wunder, dass so viele Menschen immer noch Tagebuch schreiben.

Matthias Wengenroth: Das Leben annehmen. Huber

Flexibel führen in Belastungen mit der Führungsmatrix

Im Zuge agilen, emotional kompetenten oder positiven Führens gerät das klassische flexible Führen beinahe in Vergessenheit. Da ich ab und an Grundlagen zum Thema Führung trainiere, nahm ich mir vor kurzem wieder einmal die gute, alte Führungsmatrix des flexiblen Führens vor. Dabei setzte ich die klassische Matrix in Bezug zur Zunahme von sozialem Stress sowie Druck und Krisen und erweiterte die Matrix um den Führungsstil des Systemischen Führens.

  • Grundsätzlich sollte ich als Führungskraft versuchen auf Augenhöhe mit meinen Mitarbeiter*innen so kooperativ wie möglich zu führen.
  • Sind sowohl der psycho-soziale Stress als auch der Arbeitsdruck gering, kann ich es als Führungskraft auch mal laufen lassen.
  • Steigen die psycho-sozialen Probleme an, kommt es bspw. zu Konflikten, muss ich mich entsprechend dem TZI-Satz “Störungen haben Vorrang” erst einmal darum kümmern.
  • Geht es meinen Leuten gut, steigen jedoch der äußere Druck und die Krisenstimmung, braucht es eine klare Linie in der Führung.
  • Sind sowohl der äußere Druck als auch der psycho-soziale Stress dauerhaft, gilt es an systemischen Veränderungen zu arbeiten.

Was das konkret bedeutet, sehen wir in der Tools-Matrix:

Die klassischen Führungsstile sind bekannt. Spannend wird es beim Systemischen Führen, das letztlich alles beinhaltet, was nicht direkt das eigene Team oder einzelne Mitarbeiter*innen betrifft, sondern das System um das Team herum. Teilweise geht es darum, überkommene Werte und Regeln gerade in Dauerbelastungen zu überdenken, beispielsweise den eigenen Perfektionismus infrage zu stellen, als Führungskraft Mitarbeiter*innen am Limit für einen Tag nach Hause zu schicken oder agile Strukturen einzuführen, um zielgerichteter auf Kundenwünsche zu reagieren. Teilweise besteht ein Systemisches Führen auch darin, Probleme nach oben zu eskalieren, bspw. eine kollektive Überlastungsanzeige zu schalten. Solche Aktionen sind nicht unbedingt von einem tatsächlichen Erfolg gekrönt. Systeme sind schließlich schwer und nur langsam veränderbar. Sie zeigen jedoch, wie wichtig einer Führungskraft ihr Team ist. Bereits das kann einen Unterschied machen, der einen Unterschied macht.

Werfen wir zum Schluss noch einen Blick auf die Rollen, die Führungskräfte mit den verschiedenen Stilen einnehmen:

Radikale Akzeptanz

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Vor ein paar Tagen besuchte ich meine Eltern. Beide sind jetzt über 80 und mein Vater leidet seit einigen Monaten an einer rapide fortschreitenden Demenz. Als ich mit meinem Vater zusammen eine Pumpe zum Bewässern des Gartens zusammen baute, wurde mir eines klar: Ich kann ihm widersprechen, wenn ich sehe, dass er die Pumpe falsch zusammenbaut, weil er vergessen hat, wie es richtig geht. Damit befinde ich mich jedoch in Sekundenschnelle in einem Streitgespräch. Oder ich lasse ihn nach seiner Vorstellung walten – Gefahrensituationen ausgeschlossen – bis er merkt, dass es nicht funktioniert und schlage ihm dann erst vor, es anders auszuprobieren.

Ich entschied mich nach 2-3 Situationen auf der Kippe für die zweite Version. Ich muss zugeben, dass es mir nicht leicht fiel. Mein Ego stand mir dabei breitschultrig im Weg. Hitzige Diskussionen helfen jedoch nicht weiter. Er selbst vergisst ohnehin schnell, was er vor ein paar Minuten sagte. Und ihm zu zeigen, wie es funktioniert, damit er es sich merkt ist ohnehin zum Scheitern verurteilt.

Am ehesten hilft meines Erachtens die radikale Akzeptanz dieses unveränderbaren Status Quo, so anstrengend es auch sein mag. Radikale Akzeptanz ist daher auch eine Abkehr vom Wollen. Ich will ihn nicht verändern, sondern lediglich eine gute Zeit mit ihm verbringen, ohne Stress und ohne Streit.

Mit einer radikalen Akzeptanz neue Perspektiven gewinnen

Radikale Akzeptanz wird am häufigsten in Situationen angewandt, in denen wir nicht in der Lage sind, das Geschehene zu ändern, oder wenn sich etwas ungerecht anfühlt wie der Verlust eines geliebten Menschen, der Verlust des Arbeitsplatzes oder die Diagnose eine unheilbaren Krankheit – bei sich selbst oder jemand anderem. Diesen Zustand radikal zu akzeptieren bedeutet jedoch nicht, dass mir alles egal ist. Eine solche Haltung hilft jedoch dabei, sich einen neutralen Blick zu erkämpfen. Denn in der Regel ist es nicht nur der Zustand an sich – eine Krankheit oder Kündigung – der uns schmerzt, sondern v.a. der Umgang damit: Wir finden es unfair, dass ausgerechnet wir so etwas erleben müssen. Wir fragen uns, was wir falsch gemacht haben. Wir fragen uns, was wir anders im Leben hätten machen können.

Damit potenzieren wir unser Leiden nur noch. Könnten wir es als einen unveränderbaren Zustand akzeptieren, hätten wir die Chance einen neuen Umgang damit zu finden. Wir könnten dann – anstatt uns dagegen aufzulehnen – lernen damit umzugehen. Wir würden dann vermutlich auch positive Seiten daran entdecken. Eine Krankheit zeigt uns Grenzen auf, mit denen wir uns arrangieren müssen. Und vielleicht ist ein langsameres Leben, weil es nicht mehr schneller geht, manchmal nicht das Schlechteste. Und vielleicht bietet eine Kündigung die Chance auf einen Neuanfang.

Damit soll beileibe nicht alles Negative rosarot angesprüht werden. Wenn Veränderungen möglich sind, ist es auch für unsere Psyche wichtig, alles Menschenmögliche zu unternehmen, etwas zum Positiven zu wenden. Wenn jedoch keine Veränderungen möglich erscheinen – der Krankheitsverlauf ist eindeutig und die Kündigung ist final – gilt es, dies als gegeben zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen. Alles andere wäre ein Energieverlust.

Ich kann dennoch trauern oder enttäuscht sein. Es ist sogar wichtig, Trauerphasen durchzumachen. Trauerphasen sollten jedoch nicht ewig dauern, weil wir ansonsten nur noch auf den Schmerz und das Leiden fokussiert sind.

Krankheit oder Kündigung sind extreme Situationen. Es gibt allerdings eine Menge Alltagssituationen, in denen wir ebenso die Haltung einer radikalen Akzeptanz üben können, beispielsweise, wenn einem der ICE vor der Nase weg fährt und ich eine Stunde auf den nächsten Zug warten muss. Wer kennt sie nicht, die Menschen, die bereits bei 5 Minuten Verspätung Schnappatmung bekommen? Würde der kleine empörte Wutausbruch über die Unzuverlässigkeit der Bahn etwas bringen, wäre ich sofort dabei. Es bringt aber nichts. Also kann ich mich genauso gut in ein Buch vertiefen.

Der Dalai Lama meinte dazu einmal sinngemäß: „Schmerz zu empfinden ist unvermeidlich – zu leiden ist eine Entscheidung“. Wer sich leidvoll an Situationen klammert, verhindert seine persönliche Weiterentwicklung, die notwendig wäre, um auch in Zukunft mit schwierigen Situationen umzugehen.

Typische Situationen, in denen eine radikale Akzeptanz sinnvoll ist

  • Verlustsituationen: Wenn Sie mit einem Verlust konfrontiert sind, einem Todesfall, dem Verlust des Arbeitsplatzes oder einer Beziehung.
  • Traumata: Wenn Sie an eine schwierige Zeit in Ihrer Vergangenheit denken, möglicherweise an ein Trauma. Den Vorfall können Sie nicht mehr ändern, nur noch den Umgang damit in der Jetzt-Zeit.
  • Schuldgefühle: Ähnliches gilt für das eigene Verschulden, bspw. eines Unfalls.
  • Gedankenkarussell: Wenn Gedanken und Gefühle Sie daran hindern eine Situation abzuhaken und einen Schritt weiterzukommen.
  • Dauerhafte Trauerphase: Wenn Sie nach einem Verlust in der Trauerphase stecken geblieben sind.
  • Unveränderbare Umstände: Wenn Sie sich an einem Problem die Zähne ausbeißen und dennoch nicht weiter kommen.
  • Akzeptanz der eigenen Kompetenzen: Wenn Sie trotz großer Anstrengungen ein selbst gestecktes Ziel nicht erreichen, evtl. weil andere besser sind als Sie.
  • Impulsivität: Wenn Sie dazu neigen, in Hauruckverfahren Dinge (und Menschen) verändern zu wollen.

Zeichen für eine mangelnde emotionale Distanz

Hier sind einige typische Gedanken oder Sprüche, die uns durch den Kopf gehen, wenn es uns schwer fällt, unveränderbare Situationen zu akzeptieren:

  • Das ist unfair.
  • Warum ich?
  • Ich verstehe nicht, wie es soweit kommen konnte.
  • Warum passiert das jetzt?
  • Habe ich nicht schon genug gelitten?
  • Womit habe ich das verdient?
  • Die Welt hat sich gegen mich verschworen.
  • Das ist typisch für mich.
  • Niemand sonst muss mit so einer Situation klar kommen.
  • Ich werde mich damit niemals abfinden.
  • Wenn ich könnte, würde ich das alles ganz anders angehen.

In 7 Schritten zu einer radikalen Akzeptanz

  1. Decken Sie Ihre Illusionen auf: Womit beschwichtigen Sie sich in der aktuellen Situation? In einer zubrüche gegangenen Beziehung könnten Sie sich sagen: „Er kommt bestimmt zurück.“ Wurde jemand anders befördert könnten Sie zu sich sagen: „Die bereuen sicher bald, dass sie nicht mich genommen haben.“ Und: „Der macht bestimmt einen schlimmen Fehler.“ Für solche Hoffnungen oder auch Rachegedanken gibt es meist wenig Anhaltspunkte. Sinnvoller ist es, zu sich zu sagen: „Prima, wenn es passiert (bis auf den Rachegedanken), aber darauf werde ich mich nicht verlassen.“ Wissen Sie zu wenig, verschaffen Sie sich die nötigen Informationen. Sie könnten beispielsweise recherchieren, die Expertise eines zweiten Arztes einholen oder einen Kollegen nach seiner Meinung befragen.
  2. Entdecken Sie, was Ihnen wirklich wichtig ist: Finden Sie heraus, was wirklich hinter Ihrem Schmerz über die Situation steckt. Oftmals kratzen wir mit unseren Aktionen nur an der Oberfläche. Wenn Sie gekündigt werden, kann Ihr Selbstwertgefühl angeknackst sein. Oder aber Sie brauchen eine Arbeit aus Sicherheitsgründen, um die Miete zu bezahlen. Je nachdem, was Ihnen wirklich wichtig ist, gibt es andere Strategien zu Bewältigung des Schmerzes. Ist Ihnen Selbstwert wichtig, können Sie sich auf die Suche nach anderen Quellen für Ihren Selbstwert machen, bspw. ein Ehrenamt. Ist Ihnen Sicherheit wichtig, könnte ein anderer Job dieses Bedürfnis stillen.
  3. Aktivieren Sie bewährte Strategien: Auf welche Strategien zur Bewältigung schwieriger Situationen griffen Sie in der Vergangenheit zurück? Tauschten Sie sich mit Freunden aus oder nahmen sich eine Auszeit? Was davon könnten Sie auch jetzt wieder anwenden?
  4. Üben Sie sich in Akzeptanz: Akzeptanz lässt sich üben. Üben Sie in Alltagssituationen, wenn Ihnen der Zug vor der Nase weg fährt oder Sie bei ebay in letzter Sekunde überboten werden. Sie können auch am Abend den Tag Revue passieren lassen und die Situationen durchgehen, an denen Sie nichts ändern konnten und sich Ihre Einstellungen dazu reflektieren. Auch Tagebuch zu führen kann helfen.
  5. Lernen Sie aus Ihren Erfahrungen: Richten Sie den Blick in die Zukunft. Wir ärgern uns häufig über uns selbst. Meist wissen wir ja, dass wir anders hätten handeln können und vielleicht zu impulsiv waren. Anstatt sich über sich selbst zu ärgern ist es jedoch sinnvoller, sich zu fragen, was ich das nächste Mal anders machen könnte.
  6. Der retrospektive Blick: Stellen Sie sich vor, wie Sie fünf Jahre später auf das zurückblicken, was aktuell passiert. War es das wirklich wert, sich so zu ärgern? War es vielleicht sogar gut, dass mir das passierte? Was konnte ich daraus lernen?
  7. Entdecken Sie Ihren eigenen Wesenskern:Insbesondere wenn wir anderen Menschen begegnen, bspw. einem kranken, zu pflegenden Menschen, ist es essentiell, seinen eigenen Wesenskern als Mensch zu kennen. Anstatt mein Gegenüber verändern zu wollen, ist es sinnvoller, die eigene Neugier, Präsenz, Achtsamkeit, Hoffnung, Aufmerksamkeit, Güte, Sanftheit und Geduld zu aktivieren, um eine gute Begegnung zu ermöglichen.

Wann Optimismus sinnvoll ist und wann nicht

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Wann Optimismus schädlich sein kann

Macht Optimismus wirklich resilient? Lässt uns Optimismus schwierige Umstände besser aushalten? Und ist Optimismus gesund?

Fakt ist: Depressive Menschen schätzen sich selbst viel zu inkompetent ein und ihr Umfeld viel zu kompetent. Der normale Mensch hingegen schätzt sich selbst viel zu positiv ein. Männer glauben zu 80% überdurchschnittlich gute Liebhaber zu sein, zu 90% eine überdurchschnittlich hohe Intelligenz zu haben und zu 75% überdurchschnittlich gut Auto zu fahren. Frauen wiederum schätzen ihre Popularität im Freundeskreis oder die Dauer ihrer Ehe zu hoch ein (vgl. Hasler, S. 81). Selbst bei der Präsentation solcher Zahlen sagen sich wohl die meisten: Das ist ja verrückt, aber bei mir stimmt es nun mal.

Eine solche unrealistische Sichtweise wäre nun grundsätzlich kein Problem. Die Welt ist schlimm genug. Wären da nicht die negativen Konsequenzen eines übertriebenen Optimismus:

  • Wer glaubt, super gut Auto zu fahren, geht mehr Risiken auf der Autobahn ein.
  • Wer glaubt, eine Top-Freundin zu sein, ist überrascht, wenn plötzlich kritische Stimmen aufkommen.
  • Wer glaubt, ein super Liebhaber zu sein, fällt aus allen Wolken, wenn die eigene Frau eines Tages die Koffer packt.

Auch auf der großen Politikbühne kann Optimismus schädlich sein. Putin glaubte offensichtlich, er könne die Ukraine im Handstreich erobern, was nicht funktionierte. Und Selenskyj glaubt daran – zumindest hat es den Anschein – die Krim zurückzuerobern. Der Beweis steht noch aus, aber einfach wird es nicht. Jedenfalls gilt es festzuhalten, dass Kriege nicht von Pessimisten, sondern idR. unrealistischen Optimisten geführt werden. Die Welteroberungsphantasie eines Adolf Hitler ist da wohl nur die absolute Spitze des Eisbergs.

Solche narzisstischen Machbarkeitsgedanken fußen letztlich auf einem übertriebenen Selbstwertgefühl. Während Psycholog*innen seit den 70ern davon ausgingen, man müsse nur das Selbstwertgefühl der Menschen mit Therapien und Feelgood-Programmen steigern, um eine bessere Welt zu schaffen, legen neuere Studien nahe, dass ein zu hohes Selbstwertgefühl zu Aggressionen und Narzissmus führen kann. Eigentlich logisch: Wer mit dem Mantra aufwächst, einzigartig zu sein und alles erreichen zu können, wenn er oder sie es nur will, dann jedoch auf Widerstände stößt, gerät schnell in eine Frustrations-Aggressions-Spirale. Was bei Menschen mit Depressionen oder allgemein einem unrealistischen Pessimismus funktioniert, hat bei Menschen, die ohnehin schon einen unrealistischen Optimismus an den Tag legen – und das geht wohl den meisten von uns so – einen negativen Effekt (vgl. Hasler, S. 88f). Ein Thema, das uns in Zukunft aufgrund der Instagramisierung der Welt sicherlich noch reichhaltig beschäftigen wird.

Wann Optimismus angebracht ist

Wann ist Optimismus also angebracht?

Letztlich geht es immer darum zwischen Situationen zu unterscheiden, die ich beeinflussen kann und solchen, auf die ich kaum einen Einfluss habe:

  • In Situationen, die ich beeinflussen kann, sollte ich eine gewisse Demut an den Tag legen, insbesondere wenn andere Menschen von mir abhängig sind. Kriege sind hier der Extremfall. Aber auch im Alltag sind andere Menschen von meinem Fahrverhalten oder meinen Leistungen in der Arbeit oder als Freund*in abhängig.
  • In Situationen, die ich nicht beeinflussen kann, beispielsweise in Krisen wie dem aktuellen Personalmangel oder einer dauerhaften Unterbesetzung im Team, brauche ich Optimismus, Zuversicht und Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Hier richtet mein Optimismus keinen Schaden an, weil ich ohnehin wenig ausrichten kann.

Optimismus-Strategien

Doch wie bringe ich mich in eine positive Stimmung und sollten wir in Krisen nur noch positiv denken?

Die Vielzahl der Ratgeber zum Thema macht es sich hier zu einfach. Alles Negative rosarot sehen und dann wird das schon mit der Resilienz? In Wirklichkeit ist es beruhigenderweise komplizierter. Zwar legen Untersuchungen nahe, dass die Zunahme positiver Emotionen hilfreich ist, um besser mit Krisen umzugehen. Auch das eigene Leben wird dadurch verlängert. Dafür müssen negative Gedanken jedoch nicht ignoriert werden. Ein umfassende Gedankenhygiene ist also nicht notwendig. Es geht nicht um eine stoische Umdeutung vom Negativen ins Positive, sondern um ein Ausschöpfen der ganzen emotionalen Bandbreite im Sinne von: „Es ärgert mich, dass wir dauerhaft unterbesetzt sind, dadurch wächst das Team aber auch enger zusammen.“

Durch die Ergänzung der negativen Sichtweise weitet sich nach der Broaden-and-Build-Theorie nach Barbara Fredrickson unser kreatives Denkfeld (vgl. Hübler, S. 25):

  1. Broaden: Eine positive Stimmung führt zu einer Erweiterung unserer Wahrnehmung. Zudem können positive Emotionen wie Optimismus, Freude, Inspiration, Hoffnung oder Neugier die Folgen negativer Stimmungen aufwiegen. Die veränderte Wahrnehmung verändert unser Denken. Ich gehe kreativer mit Problemen um und bekomme auch einen schärferen Zukunftsblick.
  2. Build: Damit baue ich langfristig Expertenwissen auf, komme mehr in Kontakt mit anderen und werde flexibler im Handeln. Geht es mehr Menschen im Team so, ergeben sich positive Kettenreaktionen.

Wie erreiche ich nun einen solchen positiven Blick für den Umgang in Krisenzeiten:

  • Ich kann meine negativen Sichtweisen mit einer positiven Sichtweise ergänzen.
  • Ich kann über den Sinn hinter einer Belastung nachdenken. Gerade in Krisen zeigt sich bspw. wer wahre Freunde sind.
  • Ich kann zu mir sagen: Egal wie lange die Belastung anhält, irgendwann ist sie zu Ende. Oder aber ich bin so daran gewachsen, dass sie mir nicht mehr als Belastung vorkommt.
  • Ich kann zu mir sagen: Die Belastung betrifft nur einen Teilaspekt meiner Person und meines Lebens.
  • Ich kann zu mir sagen: Manche Dinge passieren, auf die ich selbst keinen Einfluss habe. Jetzt gilt es, diese unverschuldete Belastung auszuhalten.

Literatur:

Greogor Hasler – Resilenz: Der Wir-Faktor

Michael Hübler – Mit positiver Führung die Mitarbeiterbindung fördern