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Die erschöpfte Gesellschaft und der Aufstieg „Sozialer Unternehmen“

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Symptome einer erschöpften Gesellschaft

Die Bevölkerung ist erschöpft, sagt der bekannte Sozialforscher Klaus Hurrelmann (externer Link). Als Grund dafür macht er eine Art gesellschaftliche posttraumatische Belastungsstörung aus. Eine Art deshalb, weil sich die Erkrankung einzelner nicht auf eine ganze Gesellschaft übertragen lässt. Dennoch ist das Bild der PTBS hilfreich, um zu verstehen, warum sich viele Menschen derzeit erschöpft fühlen und ins Private zurückziehen (externer Link).

Die Symptome einer PTBS lauten:

  • Wiedererleben: Nach der Krise ist vor der Krise: Nach Corona kam der Krieg, damit einhergehend erhöhte Heizkosten, dann die Folgen des Klimawandels, usw.
  • Verdrängen: Wie gezeigt fliehen viele Menschen vor aktuellen Krisen ins Private. Familie und Freundschaften werden wieder wichtiger.
  • Ein Gefühl ständiger Bedrohung: Nicht nur die Krisen sind omnipräsent in Funk und Fernsehen, auch die Auswirkungen auf das eigene Leben sind es. Während Corona griff der Staat direkt in das Leben der Bürger*innen ein. Und heute geht der Spuk um den Abstieg Deutschlands um, wodurch auch der eigene Job gefährdet sein könnte, die Digitalisierung könnte uns von unserer Arbeit und unseren Kolleg*innen entfremden (siehe hier), KI-Lösungen bedrohen Arbeitsplätze ebenso, die Lebenshaltungskosten wurden teurer, usw.

Die Erschöpfung ist jedoch nichts spezifisch Deutsches. Auch nach der aktuellen Wahl in Spanien (Juli 2023) hatten die Menschen anscheinend genug von den stetigen Veränderungen und wünschten sich wieder etwas mehr Konservatismus.

Umgang mit einer PTBS in der Gesellschaft

Laut Hurrelmann müssen die Symptome zuerst einmal ernst genommen werden. Die physischen Folgen von Corona (Stichwort: Long-Covid-Plakate) werden angegangen. Auf der psychischen und sozialen Seite scheint es immer noch zu hapern. Während die psychischen Folgen nicht nur bei Jugendlichen, sondern auch bei Erwachsenen aufgrund der Pandemie und dem Umgang damit in den Hochzeiten von Corona als Unkenrufe von Traumatherapeut*innen abgetan und ungern gehört wurden, werden die psychischen Folgen auch heute noch unterschätzt. Problematisch dabei ist die Messbarkeit psychischer Probleme. Einen einfachen Test wie bei Corona gibt es dafür nicht.

Desweiteren braucht es laut Hurrelmann mehr Kohärenz, d.h. konkret:

  1. Ein Verstehen der Situation: Warum gehen die Preise hoch? Warum sollten wir welche Prozesse bei uns digitalisieren? Usw.
  2. Handlungskompetenz: Was kann ich selbst konkret tun?
  3. Sinnhaftigkeit des Handels: Macht es einen Unterschied, wenn ich so oder so handle? Was bringt mein Handeln am Ende?

Wenn einseitiger Optimismus erschöpft

Oft wird behauptet, dass wir in einem Land leben, in dem es immer mehr Verbote gibt: Du darfst nicht mehr so viel heizen, die Beweggründe des russischen Einmarschs nicht verstehen, sollst nicht mehr so viel Fleisch essen, usw. Wir kennen das alles. Was wäre jedoch, wenn wir stattdessen eher in einer Kultur leben, die das optimistische alternativlose Ja-Sagen propagiert und es damit letztendlich ein wenig übertrieben hat: Ja zu Corona-Maßnahmen. Ja zur Unterstützung der Ukraine. Ja zu den Maßnahmen gegen den Klimawandel. Auch die Sparte von New Work namens Feelgoodmanagement ist ein einziges großes Ja.

Optimismus ist wichtig, gerade im Umgang mit Krisen. Aber es gibt auch Grenzen, wenn der Optimismus als zu viel wahrgenommen wird.

Zudem sind auch vermeintlich „negative“ Emotionen wichtig in unserem Leben. In einer Studie von 1997 ließ der Psychologieprofessor James Gross 180 Frauen in zwei Gruppen traurige, emotionale und neutrale Filme anschauen. Die erste Gruppe sollte keine Gefühle zeigen. Die zweite Gruppe durfte ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Gruppe 2 war daraufhin wesentlich begeisterter von den Filmen. Gruppe 1 jedoch war erschöpfter.

Daraus lässt sich lernen, dass es nicht nur darum gehen sollte, Menschen in Veränderungen mitzunehmen. Auch Ärger und Enttäuschungen brauchen einen Raum, um gehört zu werden, damit Veränderungen einen nachhaltigen Erfolg haben.

Vielleicht liegt die Erschöpfung also tatsächlich auch in unserem dauerhaften Ja-Sage-Modus, während die Bedenken und Sorgen oftmals zu wenig ernst genommen werden.

Der Aufstieg „Sozialer Organisationen“

Was bedeutet nun all das für Unternehmen, abgesehen davon dass sich das Thema „Umgang mit Dauerbelastungen“ auch in meinen Seminaren seit über einem Jahr zu einem „Trend“ entwickelte?

Interessanterweise stellte die Deloitte Human Capital Trendstudie (externer Link) bereits 2018 den Aufstieg „Sozialer Organisationen“ fest. Ein soziales Unternehmen verbindet die Ziele Wachstum und Gewinn mit der Notwendigkeit, die Umwelt und ihre Belegschaft ebenso zu fördern. Es geht also nicht mehr um Agilität und Kundenfreundlichkeit über alles, sondern auch um Werte wie Nachhaltigkeit und Mitarbeiter*innenorientierung.

Der Aufstieg „Sozialer Organisationen“ hat drei große Treiber:

  1. Wertewandel: Kund*innen von heute kaufen nicht nur ein Produkt, sondern ein ganzes Wertepaket. Und junge Bewerber*innen achten ebenso mehr als früher auf die sozialen und umweltverträglichen Werte eines Unternehmens.
  2. Unternehmen statt Politik: Das Vertrauen in die Politik ist auf einem Tiefpunkt angelangt. Was sich bereits 2018 ankündigte, hat sich durch Corona, den Krieg, den Klimawandel, etc. nur noch verschärft. Von Unternehmen wird erwartet, dass sie dieses Führungsvakuum füllen und sich klar zu Fragen der Diversity, Nachhaltigkeit, Gesundheitsversorgung und Cybersicherheit positionieren.
  3. Schnelligkeit als Belastung: Viele Menschen haben das Gefühl, dass „Science Fiction“ bereits „Science Fact“ ist. Der technologische Wandel verläuft rasant und bringt unvorhergesehene Auswirkungen für jede/n Einzelne/n mit sich. Das Menschliche bleibt da bisweilen auf der Strecke.

In Verbindung mit der grassierenden Erschöpfung lässt sich hier der Schluss ziehen, dass Unternehmen auch im Umgang mit einer Art PTBS eine Verantwortung haben oder sich dieser zumindest bewusst werden sollten, um die Lücke zu füllen, die gesellschaftspolitisch offensichtlich nicht gefüllt werden kann. Und damit ist keine Ersatztherapie gemeint, sondern lediglich die Möglichkeit, sich über soziale und psychische Belastungen in seinen Teams auszutauschen.

Goodbye Normalbiographie, oder: Warum wir uns mit unserer Biographie aussöhnen sollten, um besser mit Stress umzugehen

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Das Stress-Empfinden im „Neuen Normal“

Wurde die Zündschnur bei vielen Menschen kürzer? Ist das Stresslevel wirklich höher als früher? Zumindest macht es den Anschein, wenn wir Nachrichten lesen – was nicht unbedingt eine verlässliche Quelle ist, wenn wir an die Tendenz der Medien zur Übertreibung denken. Aber auch andere Quellen zeigen in dieselbe Richtung: Die TK-Stress-Studie von 2021 belegt, was viele empfinden. Jeder Vierte ist häufig gestresst, aufgrund der Arbeit oder Selbstansprüchen.

OK. Die Studie stammt aus dem Jahr 2021 und wir wissen, was da los war. Dennoch ist vielleicht genau das unser „Neues Normal“. Immerhin haben wir zwar nicht mehr mit Corona zu tun, aber mit der Energiewende, einem Krieg beinahe vor der Haustür, Waldbränden im globalen Süden, vermutlich bald neuen Einwanderungswellen, einen drohenden Rechtsruck und und und. Da wünscht man sich beinahe Corona zurück. Manche Medien machen sich schon Sorgen darüber, wohin wir denn dann in Zukunft in den Urlaub fahren, ohne zu merken wie sarkastisch eine solche Frage im Angesicht der brennenden Wälder im Süden erscheint.

Rezepte gegen Stress

Was also tun gegen die umgreifende Distress-Pandemie? Rezepte dagegen gibt es zu genüge. Wir könnten lernen achtsamer zu sein und uns mehr durch den Tag zu ommen. Über Radikale Akzeptanz habe ich auch schon einiges auf diesem Blog geschrieben (u.a. hier und hier). Alles gut und wichtig – sonst hätte ich nicht darüber geschrieben oder würde Seminare dazu anbieten, Zwinkersmiley.

Zum Umgang mit Stress können wir uns auch auf eine andere Weise annähern, indem wir uns Gedanken darüber machen, was Stress auslöst, um uns dann die Frage zu stellen, wie wir mit diesen Auslösern besser umgehen können.

Stress wird u.a. über Vergleiche ausgelöst: Der eine Mensch ist schneller als der andere, hat mehr Geld, ein schöneres Haus, ist erfolgreicher, usw. Ich bin überzeugt davon, dass ohne diese Vergleiche eine Menge Stress von uns abfallen würde wie herbstliches Laub. Dazu sollten wir lernen, uns mit unserer Biographie auszusöhnen, anstatt uns mit anderen Menschen zu messen.

Normalbiographien in der Postmoderne

Ein erster Schritt dahin ist die Akzeptanz der Postmoderne. In früheren Zeiten gab es so etwas wie eine Normalbiographie. Nicht für alle, aber für die meisten. Folgte man oder frau dieser Normalbiographie, erschien es wahrscheinlich, gut im Leben zu stehen.

Als ich jung war, lautete diese Normalbiographie stark verkürzt: Mach’ dein Abi und studiere, erlerne einen Beruf und streng dich an. Dann bekommst du einen guten Job. Anschließend gründest du eine Familie, baust ein Haus am (damals noch bezahlbaren) Stadtrand und wirst irgendwie glücklich. Soweit der Plan.

Freilich gab es bereits damals eine Menge Abweichungen von diesem Plan. Dennoch galt die ein oder andere Form dieser Normalbiographie als Orientierung für den ganz persönlichen „pursuit of happiness“, den persönlichen Weg zum Glück.

In der Postmoderne gibt es jedoch keine Normalbiographie mehr, an der wir uns orientieren könnten. Vielmehr: Es gibt eine enorme Pluralisierung dieser Wege:

  • Da ist die Psychologin, die bereits vor Corona zu Verschwörungstheorien forschte und damit 2020 groß herauskam. Ähnliches ließe sich über Klima- oder Genderforschende schreiben. Solche Hypes gab es früher auch schon. Die Digitalisierung macht jedoch aus einem Hype einen Megahype.
  • Da gibt es andererseits den Biologen, der in seinem angestammten Beruf nie Fuß fassen konnte und heute als Bauzeichner in einem kleinen Büro arbeitet und gerade so über die Runden kommt. Gleiches ließe sich über Geolog*innen oder Sprachwissenschaftler*innen schreiben, die alldieweil in staatlichen Verwaltungsbüros landen.
  • Dann gibt es den Schulabbrecher, der eine App programmierte und damit beinahe über Nacht reich wurde.
  • Oder die Influencerin, die mit der Präsentation von Modeartikeln auf Tiktok reich wurde. Eine Ausbildung benötigt sie dafür nicht. Es reichen alleine ihr schickes Aussehen und freches Auftreten.
  • Andererseits gibt es auch den Youtuber, der zwar sein Studium erfolgreich abgeschlossen hat, aber dennoch mehr Geld mit seinem Youtube-Kanal verdient. Usw.

Die Digitalisierung führte zu einer weiteren Demokratisierung der Welt und damit unweigerlich zu einer weiteren Pluralisierung von Biographien. Plötzlich konnten diejenigen, die schnell, frech und klug genug waren aus ihren biographischen Ketten ausbrechen. Auch ohne Studium oder Berufsausbildung kann ich mit Hilfe des Internets reich werden.

Gleichzeitig können dies die meisten Menschen nicht, aus welchen Gründen auch immer. Sofern diese Menschen bzw. deren Berufe nichts mit der Digitalisierung zu tun haben, erscheint ein Vergleich müßig, beispielsweise bei systemrelevanten Krankenpfleger*innen, Bauarbeiter*innen, Kassierer*innen oder Putzkräften. Doch was ist mit denjenigen, die potentiell eine ähnliche Karriere hätten hinlegen können wie der App-Programmierer oder die Influencerin?

Hinzu kommt, dass viele Menschen sich bislang immer noch an Normalbiographien aus der Zeit der Postmoderne orientieren: Meine Familie, mein Haus, mein SUV. Kein Wunder, dass der Aufschrei gegen die Heizungspläne der Regierung so groß war. Hier werden aktuell nicht nur Biographien zerstört oder zumindest verstört. Hier wird auch das Bild einer Normalbiographie, an der ich mich orientieren kann, zerstört. Denn anscheinend verleiht es vielen Menschen einen Sinn im Leben, ein großes Auto zu fahren, ein Haus zu bauen und dieses an ihre Kinder zu vererben. Es scheint beinahe so, als würde ohne Auto und Haus das Leben massiv an Sinn verlieren.

Betrachten wir den Umstand der Unbezahlbarkeit eines Hauses als Chance, könnten wir auch die reine Konsumgesellschaft begraben und uns vermehrt mit gemeinschaftlichen Werten auseinandersetzen. Das jedoch ist eine andere Diskussion.

Sich mit der eigenen Biographie aussöhnen

Anstatt einer Orientierung an vermeintlichen Normalbiographien sollten wir uns folglich mit unserer eigenen Biographie aussöhnen, um uns gegen Vergleichsstress zu wappnen.

Ein Ansatz dazu ist die Sichtweise, sich selbst als Held*in in einem Film zu betrachten:

  • Jahrelang lebte ich in einem bestimmten Status quo.
  • Dann veränderte sich etwas in meinem Leben, worauf ich eine Entscheidung treffen musste.
  • Ich machte mich also auf einen Weg voller Gefahren und Hürden, reifte und wurde letztlich zu dem Menschen, der ich heute bin.
  • Eigentlich dachte ich, dass das Leben nun einem langen ruhigen Fluss gleicht. Doch jetzt passiert wieder etwas, auf das ich reagieren muss. Usw.

Und da jeder Mensch mit anderen Umständen konfrontiert ist, lässt sich auch keine Biographie mit einer anderen vergleichen.

Ein anderer Ansatz sind Biographiebilder, die uns zum Nachdenken über unser Leben anregen:

  • Prägung: Wie prägten mich meine Herkunft, Erziehung und Umwelt? Welche Werte wurden mir vermittelt? Welche davon gelten auch heute noch? Welche nicht?
  • Jahresringe: Je älter wir werden, umso mehr nimmt unsere körperliche Produktivität ab. Vergleichen wir uns jedoch mit einem Baum, können wir auch von einer Zunahme an Stärke ausgehen. Was genau macht diese altersweise Stärke aus?
  • Lebensaufgaben: Manches Leben gleicht einem Hürdenlauf – voller Aufgaben, die uns fordern. Worin genau bestehen diese Aufgaben? Und gibt es eine Lebensaufgabe, die sich durch mein gesamtes Leben durchzieht?
  • Lebensrhythmen: Meine körperlichen Prozesse, Beziehungen und Bedürfnisse verlaufen wie alle natürlichen Prozesse – bspw. die Jahreszeiten – in Rhythmen. Was bedeutet das für den Stress, den ich aktuell erlebe?
  • Beziehungen: Wie haben sich meine Beziehungen über die Jahre hinweg verändert? Bin ich damit zufrieden oder möchte ich etwas verändern?
  • Puzzle: Wir können uns unser Leben auch als großes Puzzle vorstellen. Mal passen die Teile zusammen, mal müssen wir lange suchen, um das richtige Teil zu finden. Nach welchem Teil suche ich aktuell?
  • Labyrinth: Und manchmal erscheint uns unser Leben wie ein Labyrinth, aus dem ich einen Ausweg suche. Aber vielleicht gibt es ja einen roten Faden, einen Sinn des Lebens, an dem ich mich orientieren kann.

Sinn und Zweck der Beschäftigung mit der eigenen Biographie ist die Orientierung an sich selbst. Denn in einer postmodernen Welt können wir uns kaum noch an anderen Menschen orientieren. Sinnvoller ist es stattdessen, sich mit den eigenen Lebensentscheidungen auszusöhnen und so mit der eigenen Biographie glücklich zu werden.

Quellen: Die TK-Stressstudie 2021, https://www.tk.de/presse/themen/praevention/gesundheitsstudien/tk-stressstudie-2021-2116458?

Techniken zum Training einer Radikalen Akzeptanz

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Seitdem ich das Prinzip der Radikalen Akzeptanz in meine Seminare einbaue, gibt es jedes mal 2-3 Teilnehmer*innen, für die genau das das Highlight des Trainings ist. Schon allein der Begriff ist ein Hinhorcher.

Für welche Situationen eine Radikale Akzeptanz sinnvoll ist und wie ein grundsätzlicher Zugang zur Radikalen Akzeptanz aussieht, habe ich hier beschrieben.

Doch wie genau funktioniert es, Situationen, die ich nicht ändern kann radikal anzunehmen? Dazu gibt es einige Techniken:

Realitäts-Check

Kern der Radikalen Akzeptanz ist die Vergegenwärtigung, dass unsere Gedanken sich von der Realität unterscheiden. Diese banale Tatsache ist bisweilen ein unerheblicher Teil unseres Alltags, erweist sich jedoch – insbesondere bei negativen Affirmationen – als besonders wichtig.

Unser aktuelles Denken weicht sehr häufig von der Realität ab. Wir haben Tagträume, denken an den kommenden Urlaub oder haben eine Idee für das anstehende Projekt. Manchmal hängen wir jedoch auch Glaubenssätzen an, die sich weder jetzt noch später mit der Realität decken werden.

Ergänzen Sie bitte den folgenden Satz: „Ein Indianer kennt keinen …“

Offensichtlich ist es unmöglich, das fehlende Wort nicht zu denken. Dabei wissen wir genau, dass der Satz Blödsinn ist. Und wenn nicht: Was wäre, wenn Sie auf der Straße einen Indianer träfen, der Sie nach einer Schmerztablette fragt? Geben Sie ihm dann eine Tablette und denken gleichzeitig an diesen Satz? Oder sagen Sie ihm: „Ne, ne, ne. Weißte ja selber, dass das nicht stimmen kann.“

Wir Menschen sind schon was Besonderes. Wir sind wohl die einzige Spezies, die gleichzeitig etwas tun und etwas Gegenteiliges denken kann. Oder wir sind uns bewusst, dass das, was wir denken unsinnig ist und denken es trotzdem.

Die Indianer-Szene erscheint uns nicht nur amüsant. Deren Wahrheitsgehalt ließe sich auch mehr oder weniger einfach überprüfen.

Weniger amüsant wird es bei verbaler Selbstgeißelung, wenn wir bspw. nach einer Kündigung zu uns sagen: „Das war ja von Anfang an klar“ oder „Du hättest dich mehr reinknien sollen“. Umso wichtiger ist hier ein genauer Realitäts-Check:

  • Was genau war von Anfang an klar?
  • In welchen Momenten hätte ich mich mehr anstrengen sollen?
  • Was hätte das konkret verändert?

Hätte ich tatsächlich etwas verändern können, gilt es, eine Lehre aus der Situation zu ziehen. Wenn nicht, kann ich die Situation nur radikal akzeptieren.

Typische Muster erkennen

Um nicht wieder in seine üblichen Reiz-Reaktionsmuster zu verfallen, ist es hilfreich, sich selbst gut zu beobachten und seine üblichen Muster zu erkennen. Das bereits erwähnte Beispiel der Kündigung könnte als typisches persönliches Muster bei manchen Menschen die Selbstgeißelung nach sich ziehen. Andere werden in einem solchen Fall wütend und anklagend: „Das ist mal wieder typisch für die da oben. Denen ist doch egal, was aus einem einfachen Angestellten wird.“

Solche internen Muster binden jedoch eine Menge Energie und verhindern eine kreative Auseinandersetzung mit der Situation. Auf der Basis einer Radikalen Akzeptanz des Ist-Zustands könnte ich die Situation stattdessen abhaken und meine Energie in Bewerbungen stecken.

Gedanken erkennen und einordnen

Eine Vorstufe der Mustererkennung kann das bloße, wohlwollende Wahrnehmen der eigenen Gedanken sein: „Aha. Da kommt mal wieder dieser Ärger oder diese Selbstzerfleischung.“

Diese Gedanken können zudem kategorisiert werden:

  • Ah, da ist mal wieder eine Prophezeiung.
  • Ich vergleiche mich mal wieder mit meinem Bruder.
  • Ich bewerte mich mal wieder.

Den Mustern einen Krankheitsnamen geben

Ebenso kann es hilfreich sein, den eigenen Mustern einen Namen zu geben, der an Krankheiten erinnert:

  • Beschuldigeritis: Wenn ich den Fehler mal wieder bei allen anderen suche, nur nicht bei mir.
  • Rechthaberitis: Wenn ich mal wieder unbedingt Recht haben muss, anstatt mir die Situation genauer anzusehen.
  • Bewerteritis: Wenn ich mich selbst mit allem, was ich tue, negativ bewerte.
  • Übertreiberitis: Wenn ich mich selbst an Maßstäben messe, denen ich niemals gerecht werden kann.
  • Analyseritis: Wenn ich mich selbst analysiere und mich damit fertig mache.
  • Ironisiereritis: Wenn ich die Situation ins Lächerliche ziehe, anstatt der Wahrheit ins Auge zu blicken.
  • Ablenkeritis: Wenn ich mich anstatt der Situation zu stellen, mit ganz anderen Dingen beschäftige.
  • Fluchteritis: Wenn es das alles nicht wahrhaben will.

Externalisieren

Externalisieren schließlich ist eine oft genutzte therapeutische Methode zum Umgang mit schwierigen Situationen. Sobald Probleme schreibend oder zeichnend auf Papier gebracht werden, verlieren sie häufig ihre Dramatik. Kein Wunder, dass so viele Menschen immer noch Tagebuch schreiben.

Matthias Wengenroth: Das Leben annehmen. Huber

Flexibel führen in Belastungen mit der Führungsmatrix

Im Zuge agilen, emotional kompetenten oder positiven Führens gerät das klassische flexible Führen beinahe in Vergessenheit. Da ich ab und an Grundlagen zum Thema Führung trainiere, nahm ich mir vor kurzem wieder einmal die gute, alte Führungsmatrix des flexiblen Führens vor. Dabei setzte ich die klassische Matrix in Bezug zur Zunahme von sozialem Stress sowie Druck und Krisen und erweiterte die Matrix um den Führungsstil des Systemischen Führens.

  • Grundsätzlich sollte ich als Führungskraft versuchen auf Augenhöhe mit meinen Mitarbeiter*innen so kooperativ wie möglich zu führen.
  • Sind sowohl der psycho-soziale Stress als auch der Arbeitsdruck gering, kann ich es als Führungskraft auch mal laufen lassen.
  • Steigen die psycho-sozialen Probleme an, kommt es bspw. zu Konflikten, muss ich mich entsprechend dem TZI-Satz „Störungen haben Vorrang“ erst einmal darum kümmern.
  • Geht es meinen Leuten gut, steigen jedoch der äußere Druck und die Krisenstimmung, braucht es eine klare Linie in der Führung.
  • Sind sowohl der äußere Druck als auch der psycho-soziale Stress dauerhaft, gilt es an systemischen Veränderungen zu arbeiten.

Was das konkret bedeutet, sehen wir in der Tools-Matrix:

Die klassischen Führungsstile sind bekannt. Spannend wird es beim Systemischen Führen, das letztlich alles beinhaltet, was nicht direkt das eigene Team oder einzelne Mitarbeiter*innen betrifft, sondern das System um das Team herum. Teilweise geht es darum, überkommene Werte und Regeln gerade in Dauerbelastungen zu überdenken, beispielsweise den eigenen Perfektionismus infrage zu stellen, als Führungskraft Mitarbeiter*innen am Limit für einen Tag nach Hause zu schicken oder agile Strukturen einzuführen, um zielgerichteter auf Kundenwünsche zu reagieren. Teilweise besteht ein Systemisches Führen auch darin, Probleme nach oben zu eskalieren, bspw. eine kollektive Überlastungsanzeige zu schalten. Solche Aktionen sind nicht unbedingt von einem tatsächlichen Erfolg gekrönt. Systeme sind schließlich schwer und nur langsam veränderbar. Sie zeigen jedoch, wie wichtig einer Führungskraft ihr Team ist. Bereits das kann einen Unterschied machen, der einen Unterschied macht.

Werfen wir zum Schluss noch einen Blick auf die Rollen, die Führungskräfte mit den verschiedenen Stilen einnehmen:

Radikale Akzeptanz

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Vor ein paar Tagen besuchte ich meine Eltern. Beide sind jetzt über 80 und mein Vater leidet seit einigen Monaten an einer rapide fortschreitenden Demenz. Als ich mit meinem Vater zusammen eine Pumpe zum Bewässern des Gartens zusammen baute, wurde mir eines klar: Ich kann ihm widersprechen, wenn ich sehe, dass er die Pumpe falsch zusammenbaut, weil er vergessen hat, wie es richtig geht. Damit befinde ich mich jedoch in Sekundenschnelle in einem Streitgespräch. Oder ich lasse ihn nach seiner Vorstellung walten – Gefahrensituationen ausgeschlossen – bis er merkt, dass es nicht funktioniert und schlage ihm dann erst vor, es anders auszuprobieren.

Ich entschied mich nach 2-3 Situationen auf der Kippe für die zweite Version. Ich muss zugeben, dass es mir nicht leicht fiel. Mein Ego stand mir dabei breitschultrig im Weg. Hitzige Diskussionen helfen jedoch nicht weiter. Er selbst vergisst ohnehin schnell, was er vor ein paar Minuten sagte. Und ihm zu zeigen, wie es funktioniert, damit er es sich merkt ist ohnehin zum Scheitern verurteilt.

Am ehesten hilft meines Erachtens die radikale Akzeptanz dieses unveränderbaren Status Quo, so anstrengend es auch sein mag. Radikale Akzeptanz ist daher auch eine Abkehr vom Wollen. Ich will ihn nicht verändern, sondern lediglich eine gute Zeit mit ihm verbringen, ohne Stress und ohne Streit.

Mit einer radikalen Akzeptanz neue Perspektiven gewinnen

Radikale Akzeptanz wird am häufigsten in Situationen angewandt, in denen wir nicht in der Lage sind, das Geschehene zu ändern, oder wenn sich etwas ungerecht anfühlt wie der Verlust eines geliebten Menschen, der Verlust des Arbeitsplatzes oder die Diagnose eine unheilbaren Krankheit – bei sich selbst oder jemand anderem. Diesen Zustand radikal zu akzeptieren bedeutet jedoch nicht, dass mir alles egal ist. Eine solche Haltung hilft jedoch dabei, sich einen neutralen Blick zu erkämpfen. Denn in der Regel ist es nicht nur der Zustand an sich – eine Krankheit oder Kündigung – der uns schmerzt, sondern v.a. der Umgang damit: Wir finden es unfair, dass ausgerechnet wir so etwas erleben müssen. Wir fragen uns, was wir falsch gemacht haben. Wir fragen uns, was wir anders im Leben hätten machen können.

Damit potenzieren wir unser Leiden nur noch. Könnten wir es als einen unveränderbaren Zustand akzeptieren, hätten wir die Chance einen neuen Umgang damit zu finden. Wir könnten dann – anstatt uns dagegen aufzulehnen – lernen damit umzugehen. Wir würden dann vermutlich auch positive Seiten daran entdecken. Eine Krankheit zeigt uns Grenzen auf, mit denen wir uns arrangieren müssen. Und vielleicht ist ein langsameres Leben, weil es nicht mehr schneller geht, manchmal nicht das Schlechteste. Und vielleicht bietet eine Kündigung die Chance auf einen Neuanfang.

Damit soll beileibe nicht alles Negative rosarot angesprüht werden. Wenn Veränderungen möglich sind, ist es auch für unsere Psyche wichtig, alles Menschenmögliche zu unternehmen, etwas zum Positiven zu wenden. Wenn jedoch keine Veränderungen möglich erscheinen – der Krankheitsverlauf ist eindeutig und die Kündigung ist final – gilt es, dies als gegeben zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen. Alles andere wäre ein Energieverlust.

Ich kann dennoch trauern oder enttäuscht sein. Es ist sogar wichtig, Trauerphasen durchzumachen. Trauerphasen sollten jedoch nicht ewig dauern, weil wir ansonsten nur noch auf den Schmerz und das Leiden fokussiert sind.

Krankheit oder Kündigung sind extreme Situationen. Es gibt allerdings eine Menge Alltagssituationen, in denen wir ebenso die Haltung einer radikalen Akzeptanz üben können, beispielsweise, wenn einem der ICE vor der Nase weg fährt und ich eine Stunde auf den nächsten Zug warten muss. Wer kennt sie nicht, die Menschen, die bereits bei 5 Minuten Verspätung Schnappatmung bekommen? Würde der kleine empörte Wutausbruch über die Unzuverlässigkeit der Bahn etwas bringen, wäre ich sofort dabei. Es bringt aber nichts. Also kann ich mich genauso gut in ein Buch vertiefen.

Der Dalai Lama meinte dazu einmal sinngemäß: „Schmerz zu empfinden ist unvermeidlich – zu leiden ist eine Entscheidung“. Wer sich leidvoll an Situationen klammert, verhindert seine persönliche Weiterentwicklung, die notwendig wäre, um auch in Zukunft mit schwierigen Situationen umzugehen.

Typische Situationen, in denen eine radikale Akzeptanz sinnvoll ist

  • Verlustsituationen: Wenn Sie mit einem Verlust konfrontiert sind, einem Todesfall, dem Verlust des Arbeitsplatzes oder einer Beziehung.
  • Traumata: Wenn Sie an eine schwierige Zeit in Ihrer Vergangenheit denken, möglicherweise an ein Trauma. Den Vorfall können Sie nicht mehr ändern, nur noch den Umgang damit in der Jetzt-Zeit.
  • Schuldgefühle: Ähnliches gilt für das eigene Verschulden, bspw. eines Unfalls.
  • Gedankenkarussell: Wenn Gedanken und Gefühle Sie daran hindern eine Situation abzuhaken und einen Schritt weiterzukommen.
  • Dauerhafte Trauerphase: Wenn Sie nach einem Verlust in der Trauerphase stecken geblieben sind.
  • Unveränderbare Umstände: Wenn Sie sich an einem Problem die Zähne ausbeißen und dennoch nicht weiter kommen.
  • Akzeptanz der eigenen Kompetenzen: Wenn Sie trotz großer Anstrengungen ein selbst gestecktes Ziel nicht erreichen, evtl. weil andere besser sind als Sie.
  • Impulsivität: Wenn Sie dazu neigen, in Hauruckverfahren Dinge (und Menschen) verändern zu wollen.

Zeichen für eine mangelnde emotionale Distanz

Hier sind einige typische Gedanken oder Sprüche, die uns durch den Kopf gehen, wenn es uns schwer fällt, unveränderbare Situationen zu akzeptieren:

  • Das ist unfair.
  • Warum ich?
  • Ich verstehe nicht, wie es soweit kommen konnte.
  • Warum passiert das jetzt?
  • Habe ich nicht schon genug gelitten?
  • Womit habe ich das verdient?
  • Die Welt hat sich gegen mich verschworen.
  • Das ist typisch für mich.
  • Niemand sonst muss mit so einer Situation klar kommen.
  • Ich werde mich damit niemals abfinden.
  • Wenn ich könnte, würde ich das alles ganz anders angehen.

In 7 Schritten zu einer radikalen Akzeptanz

  1. Decken Sie Ihre Illusionen auf: Womit beschwichtigen Sie sich in der aktuellen Situation? In einer zubrüche gegangenen Beziehung könnten Sie sich sagen: „Er kommt bestimmt zurück.“ Wurde jemand anders befördert könnten Sie zu sich sagen: „Die bereuen sicher bald, dass sie nicht mich genommen haben.“ Und: „Der macht bestimmt einen schlimmen Fehler.“ Für solche Hoffnungen oder auch Rachegedanken gibt es meist wenig Anhaltspunkte. Sinnvoller ist es, zu sich zu sagen: „Prima, wenn es passiert (bis auf den Rachegedanken), aber darauf werde ich mich nicht verlassen.“ Wissen Sie zu wenig, verschaffen Sie sich die nötigen Informationen. Sie könnten beispielsweise recherchieren, die Expertise eines zweiten Arztes einholen oder einen Kollegen nach seiner Meinung befragen.
  2. Entdecken Sie, was Ihnen wirklich wichtig ist: Finden Sie heraus, was wirklich hinter Ihrem Schmerz über die Situation steckt. Oftmals kratzen wir mit unseren Aktionen nur an der Oberfläche. Wenn Sie gekündigt werden, kann Ihr Selbstwertgefühl angeknackst sein. Oder aber Sie brauchen eine Arbeit aus Sicherheitsgründen, um die Miete zu bezahlen. Je nachdem, was Ihnen wirklich wichtig ist, gibt es andere Strategien zu Bewältigung des Schmerzes. Ist Ihnen Selbstwert wichtig, können Sie sich auf die Suche nach anderen Quellen für Ihren Selbstwert machen, bspw. ein Ehrenamt. Ist Ihnen Sicherheit wichtig, könnte ein anderer Job dieses Bedürfnis stillen.
  3. Aktivieren Sie bewährte Strategien: Auf welche Strategien zur Bewältigung schwieriger Situationen griffen Sie in der Vergangenheit zurück? Tauschten Sie sich mit Freunden aus oder nahmen sich eine Auszeit? Was davon könnten Sie auch jetzt wieder anwenden?
  4. Üben Sie sich in Akzeptanz: Akzeptanz lässt sich üben. Üben Sie in Alltagssituationen, wenn Ihnen der Zug vor der Nase weg fährt oder Sie bei ebay in letzter Sekunde überboten werden. Sie können auch am Abend den Tag Revue passieren lassen und die Situationen durchgehen, an denen Sie nichts ändern konnten und sich Ihre Einstellungen dazu reflektieren. Auch Tagebuch zu führen kann helfen.
  5. Lernen Sie aus Ihren Erfahrungen: Richten Sie den Blick in die Zukunft. Wir ärgern uns häufig über uns selbst. Meist wissen wir ja, dass wir anders hätten handeln können und vielleicht zu impulsiv waren. Anstatt sich über sich selbst zu ärgern ist es jedoch sinnvoller, sich zu fragen, was ich das nächste Mal anders machen könnte.
  6. Der retrospektive Blick: Stellen Sie sich vor, wie Sie fünf Jahre später auf das zurückblicken, was aktuell passiert. War es das wirklich wert, sich so zu ärgern? War es vielleicht sogar gut, dass mir das passierte? Was konnte ich daraus lernen?
  7. Entdecken Sie Ihren eigenen Wesenskern:Insbesondere wenn wir anderen Menschen begegnen, bspw. einem kranken, zu pflegenden Menschen, ist es essentiell, seinen eigenen Wesenskern als Mensch zu kennen. Anstatt mein Gegenüber verändern zu wollen, ist es sinnvoller, die eigene Neugier, Präsenz, Achtsamkeit, Hoffnung, Aufmerksamkeit, Güte, Sanftheit und Geduld zu aktivieren, um eine gute Begegnung zu ermöglichen.