In unserer Gesellschaft herrscht spätestens seit Corona ein großes Misstrauen vor. Misstrauen gegenüber dem Staat, der Justiz oder der Polizei. Dieses Misstrauen schwappt auch in Unternehmen, wenn es heißt: „Die da oben …“ Dabei ist Misstrauen an sich wichtig, um Prozesse zu verbessern. Wird es jedoch das gesamte System – Staat oder Unternehmen – angezweifelt, wird es destruktiv. Dann geht es nur noch darum, Fehler aufzudecken und nicht mehr darum Abläufe zu verbessern. Deshalb ist es enorm wichtig, zwischen einem konstruktiven und destruktiven Misstrauen zu unterscheiden.
Konstruktives Misstrauen
Vertrauen gegenüber Personen oder Systemen bleibt erhalten, weil der Fokus auf der Sachebene liegt. Es geht nicht gegen eine grundsätzliche Absicht vermeintlich betrügerischer Personen oder eines „bösen“ Systems.
Verbesserung als Ziel: Ein konstruktives Misstrauen richtet sich auf eine bestimmte Sache, einen Prozess oder eine Tätigkeit, die verbessert werden soll.
Situativ begründet: Ein konstruktives Misstrauen basiert auf konkreten Hinweisen, Erfahrungen oder Daten, die jedoch nicht auf eigenen Faust veröffentlicht werden, um andere an den Pranger zu stellen, sondern als Möglichkeit gesehen werden, Fehler aufzuarbeiten. Eine Aktivierung findet nur situativ statt, wenn sie erforderlich ist. Es geht nicht darum, dauerhaft nach einem Haar in der Suppe zu suchen.
„Ich möchte verstehen, wie es zu diesen Ergebnissen / Entscheidungen / … kam.“
„Sofern ich die Kompetenz mitbringe, würde ich mir gerne ein eigenes Bild machen.“
„Es ist mir wichtig, Prozesse zu verbessern.“
„Es geht mir um die Sache, nicht um eine Vorverurteilung.“
Wirkungen
Erhöht Qualität und Robustheit von Entscheidungen.
Fördert Feedback, Dialog und wechselseitige Verlässlichkeit.
Reduziert Risiken ohne Angstkultur.
Destruktives Misstrauen
Personalisierend bzw. gegen das gesamte System gerichtet: Ein destruktives Misstrauen richtet sich gegen Motive oder Integrität. Anderen Menschen oder dem gesamten System wird unterstellt, dass es grundsätzlich Böses im Sinn hat, heimlich Pläne ausheckt und nur am eigenen Wohl interessiert sind.
Zerstörerisch: Es geht nicht darum, Prozesse oder Systeme zu verbessern, sondern darum, das System an sich infrage zu stellen und es letztlich zu zerstören. Deshalb werden Verbesserungen auf Kritik lediglich als Eingeständnis gewertet, entdeckt worden zu sein, was allerdings an der Gesamteinstellung nichts verändert.
Dauerhaft: Ein grundsätzliches Misstrauen wird zur Grundhaltung. Destruktiv misstrauische Menschen sind stetig auf der Suche nach Fehlern. Deshalb braucht es auch keinen konkreten Anlass für das Misstrauen.
→ Ziele: Das System oder einzelne Personen grundsätzlich in Frage stellen, Kontrolle sichern, Macht ausüben
Typische Aussagen
„Man darf hier ja eh nichts mehr sagen.“
„Ich würde würde ja eigentlich ganz anders vorgehen.“
„Es ändert sich ja doch nichts.“
Wirkungen
Erzeugt Angst, Passivität und Vermeidungsverhalten.
Spaltet die Belegschaft in Optimisten und Pessimisten.
Umgang mit destruktiv misstrauischen Mitarbeiter*innen
Als erstes ist es grundsätzlich wichtig, die misstrauische Kritik eines Mitarbeiters positiv wertzuschätzen im Sinne von: „Danke für die Kritik. Lass uns das genauer ansehen.“
Im Weiteren ist es hilfreich, dieses genauere Hinsehen mit Fragen zu vertiefen, nicht inquisitorisch, sondern immer mit einer offenen, neugierigen Haltung, damit Gegenfragen das Misstrauen nicht noch weiter verschärfen:
„Was genau ärgert dich gerade?“
„Was ist dir besonders wichtig?“
„Wenn wir alles Drumherum wegnehmen: Worum geht es dir wirklich?“
„Welche Befürchtung steckt hinter deiner Aussage?“
„Was hast du konkret beobachtet?“
„Welche Fakten oder Situationen führen dich zu dieser Einschätzung?“
„Was wäre eine alternative Erklärung für das, was du wahrnimmst?“
„Was denkst Du, welchen Einfluss wir als Team und ich als Führungskraft auf die aktuelle Lage haben?“
„Was wäre ein konstruktiver nächster Schritt aus deiner Sicht?“
„Was bräuchtest du, um gut mitzugehen?“
„Was kannst Du selbst machen, damit es besser läuft?“
„Wie würde die Situation aussehen, wenn sie gut genug wäre?“
„Was ist uns aus Deiner Sicht beiden wichtig, trotz unterschiedlicher Sichtweisen?“
„Woran würdest Du erkennen, dass sich die Situation verbessert hat?“
„Was ist die kleinste sinnvolle Veränderung, die realistisch ist?“
„Wie können wir sicherstellen, dass wir aus der Sache etwas lernen?“
„Wie wollen wir beide Kritik so äußern, dass sie uns weiterbringt?“
„Welche Form der Zusammenarbeit möchtest du selbst nicht erleben – und wie tragen wir beide dazu bei?“
„Willst Du, dass sich etwas verändert und Abläufe verbessert werden? Oder willst du grundsätzlich Kritik üben?“
In Zeiten postmoderner Multikrisen – geprägt von Gleichzeitigkeit, Widersprüchen und der Abwesenheit eindeutig richtiger Lösungen – brauchen Organisationen ein Denken in Übergängen. In der Mythologie ist dafür die Figur des Tricksters zuständig. Deren Strategien zur Infragestellung alter Ordnungen und Regeln und Etablierung neuer Vorgehensweisen und Innovationen sind gerade in Krisenzeiten aktuell wie nie.
Dieser Workshop zeigt Ihnen, wie Sie als Führungskraft mithilfe der vier Archetypen Athene, Hermes, Prometheus und Loki Reformstaus auflösen, Silos überwinden und einen Wandel in Ihrem Unternehmen sinnstiftend, strategisch, verbindend und bei Bedarf auch disruptiv voranbringen.
Die Inhalte im Einzelnen:
Warum Trickster perfekt in die heutige Zeit passen.
Ein Reformstau-Diagnose-Tool aus Trickster-Sicht.
Klassische und moderne Trickster-Geschichten als Lernmaterial.
Trickster-Strategien als Transfer zur direkten Umsetzung.
Ort: Online. Die Adresse wird nach Überweisung mitgeteilt.
Gute Nachrichten für alle, die frustriert aufgeben, weil … (s.o.)
Schlechte Nachrichten für alle, die sich gerne hinter solchen Aussagen verstecken, weil … (s.o.)
Wer sich wie ich mit dem Thema Hoffnung auseinander setzt, stößt früher oder später (bei mir später) auf die Aktivismus-Forschung und die großartige Autorin Rebecca Solnit.
Solnits Credo lautet:
Das Zentrum (Politik, etc.) verfügt zwar über die sichtbare Macht zur Umsetzung von Veränderungen.
Die Peripherie (Zivilgesellschaft, Medien, …) verfügt jedoch über die Macht der Ideen, um die Politik zu beeinflussen.
Der Weg der Ideen von der Peripherie zum Zentrum der Macht verläuft zwar langsam, aber es gibt ihn. Manchmal dauert es Jahrzehnte. Doch irgendwann einmal kann die Politik die Ideen nicht mehr ignorieren.
Das gleiche gilt für jedes System und somit auch Unternehmen:
Es mag frustrierend sein, dass manche Veränderungen zäh und langatmig sind. Und so manche/r merkt frustriert an, dass er oder sie sich damals das gewünscht hätte (Führung auf Augenhöhe, respektvoller Umgang miteinander, Gesundheit als wichtiges Thema, …), was heute in vielen Unternehmen normal erscheint.
Dabei wird jedoch vergessen, dass erst das stetige Einfordern von Rechten und Anmerken von Bedürfnissen die Veränderungen von heute ermöglichte.
In diesem Sinne: Auch wenn sich Veränderungen hinziehen. Sie finden dennoch statt. Unsichtbar, aber wirksam.
1. Gemeinschaft und Ausstoß (ca. 10.000 v. Chr. – 1.000 v. Chr.)
In frühen Jäger- und Sammlergruppen war das Zusammenleben überlebenswichtig. Wer gegen soziale Normen durch Diebstahl, Gewalt oder Verrat verstieß, wurde oft ausgestoßen oder geächtet.
2. Das Prinzip der Ehre und Duelle (ca. 1.500 – 1.800 n. Chr.)
In der europäischen Frühneuzeit wurden persönliche Konflikte v.a. in der Hochkultur schnell zur Frage der Ehre, die mit Hilfe eines Duells wieder hergestellt werden sollte. In Frankreich wurden Duelle zwar 1626 offiziell verboten. Dennoch fiel noch 1829 der russische Dichter Alexander Puschkin einem Duell zum Opfer.
3. Vernunft und Verhandlung (18. – 20. Jahrhundert)
Mit der Aufklärung verschoben sich gewaltvolle Konfliktlösungen hin zu Verhandlungen und juristischer Klärung. Gerichte und Schiedsverfahren förderten die Gleichberechtigung in Streitfragen. Im Alltag entstanden parallel dazu bürgerliche Tugenden wie Toleranz und Zivilität. Produktiv zu streiten wurde zu einem zivilisatorischen Lernprozess.
4. Öffentliche Bühne und Medien (20. Jahrhundert)
Mit Presse, Radio und Fernsehen wurden Konflikte zunehmend Teil einer öffentlichen Inszenierung. Moralische Streitigkeiten fanden ihren Weg von privaten Haushalten und Straße in Talkshows. Skandale von Personen öffentlichen Interesses wurden medial genüsslich ausgebreitet, inklusive öffentlicher Statements, Entschuldigungen, Abgrenzung und Empörung gegenüber den betreffen Personen.
5. Digitale Ächtung und Cancel Culture (21. Jahrhundert)
Seit den 2010er-Jahren dezentralisierte die Digitalisierung die soziale Ächtung:
Im Internet treten Nutzer*innen sowohl als Konsument*innen als auch als Produzent*innen auf. Damit werden nicht nur Konflikte von Personen öffentlichen Interesses kommuniziert, sondern von jedem und jeder.
Digitale Medien ermöglichen eine kollektive Konfliktbewertung in Echtzeit. Das Internet bietet eine riesige Bühne als Konfliktverstärker, auf der nicht nur Beteiligte, sondern auch Unbeteiligte ihre Meinung äußern können.
Begriffe wie „Cancel Culture“ (ab ca. 2017) beschreiben moderne Formen einer digitalen Sanktionierung. Der soziale Ausschluss von früher verlagerte sich ins Virtuelle, mit teilweise ebenso existenziellen Folgen. Wie der Philosoph Robert Pfaller sagt: Wir leben nicht mehr ausschließlich in einer Leistungsgesellschaft, sondern auch wieder in einer Schamgesellschaft. Ehre erscheint heute wieder wichtiger als während der Aufklärung.
6. Vom Canceln zur Resonanz – Ein Blick in die Zukunft
Wie könnte es weitergehen? Finden wir zu einem neuen aufgeklärten Umgang mit Konflikten zurück? Oder weitet sich das gegenseitige Canceln aus und die Gesellschaft zersplittert sich in kleine Stämme, die nicht mehr miteinander sprechen?
Empathische Vernunft
Anstatt einer rein rationalen Neuauflage der Aufklärung könnte eine andere Form von Vernunft entstehen:
Im Zeitalter von Fakenews und Wissensschaftskritik reicht es nicht mehr aus, sich lediglich auf Argumente zu konzentrieren.
Die kommende Vernunft sollte stattdessen empathische Züge annehmen: Widerspruch muss keine Ablehnung oder gar Ausschluss bedeuten, sondern kann ein anderer Teil von Beziehung sein.
Künstliche Intelligenz und Datenethik könnten (und sollten) uns dabei helfen, kollektive Empörungen zu kontextualisieren: „Diese Aussage stammt aus 2020, am Anfang der Corona-Pandemie, als noch wenige Informationen über das Virus vorhanden waren.“
Auswählen statt Canceln
Im Internet treffen sich verschiedene soziale Blasen, die bislang in den analogen Stammtischen getrennt waren. Dadurch entstehen Konflikte, die früher nicht entstanden bzw. über Parteien kanalisiert wurden:
In einer überfordernden Informationswelt werden Menschen langfristig lernen müssen, nicht mehr zu allem Stellung zu beziehen, sondern bewusster auszuwählen.
Da die digitale Welt nicht vergisst, muss zudem niemand sofort auf eine Äußerung reagieren. Stattdessen fassen K.I.-gesteuerte Plattformen die soziale Reputation einer Person langfristig zusammen. Was auf den ersten Blick bedrohlich wirkt, kann auf den zweiten Blick als Regulator fungieren, um Diskussionen zu befrieden und eine neue Zivilität herzustellen.
Anstatt zu Canceln gilt es folglich, wieder ein Mindestmaß an ziviler Kinderstube, basierend auf Toleranz und Respekt herzustellen.
Plattformen können zusätzlich Feedbackräume schaffen, die mehr auf Reparatur als auf Strafe setzen, indem sie digitale Mediationsräume anbieten oder KI-gestützte Deeskalationen einsetzen.
Wenn wir an X denken oder allgemein die gesellschaftliche Entwicklung in den USA, zeigt sich bereits der Ansatz von Retro-Stämmen in der Gesellschaft:
Meinungsgruppen ziehen sich in digitale Stämme mit gemeinsamen Werten und einer gemeinsamen Sprache zurück, wodurch in einem Zwischenschritt Parallelgesellschaften mit je eigener Moral entstehen.
Weil der Mensch jedoch nicht nur eine Sehnsucht nach Gruppenzugehörigkeit hat, sondern auch zu Abgrenzung neigt, verlagern sich Konfliktgespräche in die Retro-Stämme, wodurch es innerhalb eigentlich einheitlicher Meinungs-Gruppen zu weiteren Unterteilungen kommt.
Wenn externe Feindbilder nicht aufrecht erhalten bleiben, bietet diese zunehmende Zersplitterung der Stämme die Chance auf neue Begegnungen außerhalb der eigenen Meinungsblase.
LangfristigeUtopie: Die „Resonanzgesellschaft“ (nach Hartmut Rosa)
Betrachten wir die menschliche Geschichte, liegt es nahe, Konflikte als zentrales Element des sozialen Zusammenlebens zu betrachten. Es gibt immer etwas zu verhandeln, sei es über materielle Güter, die Zukunft der Welt, den eigenen Status, soziale Aufmerksamkeit oder moralische Vorstellungen. Es stellt sich also weniger die Frage, wie viele Konflikte wir in der Zukunft haben werden, sondern vielmehr, wie wir Konflikte in unser Leben integrieren. Gemäß der Resonanztheorie nach Hartmut Rosa lassen sich Konflikte nicht nur als Angriff, sondern auch als Möglichkeit begreifen, gegenseitig an Widerspruch zu wachsen, was sich bereits bei Nietzsche oder Hannah Arendt nachlesen lässt:
Konflikte bieten damit immer auch das Potenzial, über die eigenen Positionen und Meinungen nachzudenken und sich weiterzuentwickeln.
Konflikte symbolisieren entsprechend eine besondere Form der Verbindung zwischen zwei Menschen oder Gruppen. Manche Gruppen wie Arbeitgeber vs. Arbeitnehmer, Christen vs. Moslems, Rechte vs. Linke usw., definieren sich förmlich über die Abgrenzung zu ihrem Gegenüber, weshalb der Politikwissenschaftler Ralf Langejürgen empfiehlt, sich in Konflikte zuerst zu entfaszinieren, bevor eine neue positiv aufeinander bezogene Beziehung wieder möglich ist.
Wer bislang glaubte, dass alles immer schlimmer wird:
Es ist noch nicht so lange her, dass wir uns aufgrund unserer Ehre duellierten.
Wenn sich auf Plattformen wie X nur noch einheitliche Meinungsträger*innen treffen, könnte dies schnell langweilig werden, wodurch Konflikte entstehen, die zu Zersplitterungen führen.
KI muss nicht unser Feind sein, sondern kann Informationen kontextualisieren, um Aussagen ins richtige Licht zu rücken.
Eine neue KI-Reputation, die sich freilich auch kritisch betrachten lässt, könnte zu einer neuen Zivilität führen.
Sinnloser Streit macht irgendwann einmal müde, weshalb eine gezielte Auswahl von Stellungnahmen mittelfristig unumgänglich erscheint.
In diesem Sinne: Es wird nicht alles gut, sondern (wie immer) anders.
In klassischen kapitalistischen Kulturen erhielt man Anerkennung für Leistung, Stärke und Kontrolle. In der gegenwärtigen, postheroischen Kultur dagegen ist Authentizität und Verletzlichkeit eine neue Währung.
Damit entsteht eine neue Statuslogik: Nicht der Gesunde, Erfolgreiche oder Schöne steht im Zentrum, sondern der, der offen über sein Leiden spricht.
Lange Zeit galt Krankheit – besonders psychische – als etwas, worüber man schweigt. Krankheit bedeutete Schwäche, Scham und Kontrollverlust und damit etwas, das überhaupt nicht in unsere neoliberale Leistungsgesellschaft passt.
Dieses Schweigen prägte Familien genauso wie Organisationen und ganze Gesellschaften. Wer in Unternehmen psychisch war sprach nicht darüber, sondern schob lieber eine physische Krankheit vor.
In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich diese kulturelle Logik radikal verschoben. Heute wird über Depression, Angststörungen, ADHS, Burnout oder Autismus öffentlich gesprochen – in Talkshows, Podcasts und auf sozialen Medien. Diese neue Offenheit ist zunächst ein Fortschritt: Sie bricht Tabus, befreit von Scham und ermöglicht vielen Menschen, Hilfe zu suchen und Solidarität zu erfahren.
Doch gerade im Kontext sozialer Medien hat diese Entwicklung eine beunruhigende Wendung genommen, als wäre etwas aus dem Lot geraten. Anstatt einem Zuwenig haben wir jetzt ein Zuviel des Ganzen.
2. Die Logik der Sichtbarkeit
Plattformen wie TikTok oder Instagram belohnen als Aufmerksamkeitsmaschinen starke Emotionen, Mut und Individualität – je persönlicher und radikaler, desto besser. In dieser Logik wird das Private gleichzeitig politisch und marktfähig. Der eigene Körper, die eigene Geschichte und sogar das eigene Leid werden zu Kommunikationsvehikeln.
Dadurch entsteht eine paradoxe Dynamik: Was früher tabu war, erhöht heute den eigenen gesellschaftlichen Status und verschafft damit Reichweite. Krankheit wird nicht mehr versteckt, sondern gezeigt – manchmal sogar ästhetisch inszeniert, mit sanften Filtern, Hintergrundmusik und emotionaler Erzählung. Krankheit wird in der kapitalistischen Logik zu einer Ware, die mit anderen Krankheiten um Aufmerksamkeit kämpft.
Damit geht es jedoch nicht mehr darum, sich einem kranken Menschen empathisch zu widmen, was eher in einem kleinen, sensiblen Kreis gelingt, sondern einem kranken Menschen lediglich für den Mut seines Outings in der Öffentlichkeit zu applaudieren.
3. Die Ambivalenz des Fortschritts
Diese Entwicklung hat zwei Gesichter:
Emanzipatorisch: Sie bricht Schweigen, schafft Bewusstsein und ermöglicht Solidarität durch Sichtbarkeit.
Problematisch: Sie kann dazu führen, dass Krankheit langfristig durch eine inflationäre Benutzung entwertet wird.
Wer sich und seine Sichtbarkeit v.a. über eine Krankheit oder Schwächen definiert, riskiert, in einer „Identität des Leidens“ stecken zu bleiben. Der Philosoph Byung-Chul Han würde sagen: In der „Transparenzgesellschaft“ wird alles Sichtbare zum Wert – selbst das, was eigentlich Intimität verlangt.
Damit bekommen Krankheit und Leiden zwar Aufmerksamkeit, es findet jedoch keine Heilung statt, weil Heilungsprozesse langsamer ablaufen und oftmals weit weniger spektakulär sind als Krankheiten. Heilungen fehlen das Affizierende, um auch weiterhin spannend zu sein.
Das gleiche gilt auch für andere Themen: Ein Absturz auf Drogen generiert wesentlich mehr Aufmerksamkeit als ein Treffen bei den Anonymen Alkoholikern.
4. Übertragung auf Unternehmen
In meiner Arbeit mit Führungskräften erlebe ich gerade drei Dimensionen:
Das Sprechen über Krankheiten und Belastungen als echten Fortschritt
Das Kokettieren mit Krankheit und Leiden, um Aufmerksamkeit zu generieren.
Das Drohen mit Krankheit aus Mitarbeiterseite, wenn ihnen etwas nicht passt.
Anscheinend bekommen wir niemals das Gute ohne entsprechende Nebenwirkungen.
4.1 Psychologisierung der Arbeitswelt
Bis vor einigen Jahren galt noch: Wer sich als Opfer der Umstände zeigte, riskierte einen Gesichtsverlust oder Ausschluss aus der Gemeinschaft. Nur die Harten kommen in den Garten. Hier fehlte zwar häufig die emotionale Intelligenz in der Führung, es führte aber dazu, dass Selbstmitleid zumindest sozial nicht belohnt wurde.
Im gegenwärtigen kulturellen Klima – geprägt durch eine neue Sensibilität, psychologische Sprache und ehrliche Selbstoffenbarungen – wird auch in Unternehmen anders mit Schwächen umgegangen:
Verletzlichkeit gilt als authentisch.
Überforderung gilt als menschlich.
Opferstatus kann sogar moralische Autorität verleihen („Ich leide, also habe ich Recht“).
Das ist zunächst auch hier eine Emanzipation weg von einseitigen Leistungs-Idealen. Der gute Ansatz, Krankheiten und Schwäche aus der Tabuzone zu befreien, kippt jedoch um, wenn Verletzlichkeit zur Identitätsstrategie wird:
Mitarbeiter*innen sehen dann nicht mehr, was sie alles leisten, sondern betonen Überlastungen, fehlende Ressourcen oder „toxische Strukturen“.
Führungskräfte äußern Resignation: „Man kann ja eh nichts ändern.“
Ganze Teams entwickeln eine Kultur der Selbstentlastung: Schuld sind immer „die da oben“ oder „das System“.
Die Folge ist eine Art strukturelle Erschöpfungskultur. Das in Maßen sinnvolle Instrument des kollektiven Jammerns und Beschwerens wirkt nicht mehr entlastend, sondern verstärkt im Gegenteil die kollektive Belastung, weil das Positive nicht mehr gesehen wird.
Aus diesem Grund baue ich seit einiger Zeit in meine Seminare einen Hoffnungsquellen-Block ein:
Aus der (politischen) Aktivismus-Forschung lässt sich lernen:
Wer sich nicht dauerhaft in Frustrationen verlieren will, sollte auch sehen, was bereits erreicht wurde.
Gleichzeitig gilt es zu reflektieren, mit welchen Aktionen, Maßnahmen oder Haltungen die Ziele erreicht wurden, um zu wissen, wie neue Ziele angegangen werden sollten.
Der Philosoph Robert Pfaller würde sagen: Wir müssen wieder lernen, Lust an unserer Beute zu haben.
4.2 Opferhaltungen als Selbstdefinition
In vielen Unternehmen lässt sich heute eine subtile Kultur der Opferhaltung beobachten. Sie zeigt sich dort, wo Menschen Verantwortung abgeben, weil sie sich als Getriebene der Umstände erleben – „zu viel Arbeit“, „zu wenig Ressourcen“, „zu viele Veränderungen“. Diese Haltung ist menschlich verständlich, aber kulturell folgenreich: Sie legitimiert Stillstand.
Im Spannungsfeld zwischen dem Wunsch, weniger Belastung zu spüren, und der Angst vor Neuem entsteht eine paradoxe Dynamik. Einerseits wird Veränderung abgelehnt, weil sie Unsicherheit bedeutet. Andererseits wird Überforderung beklagt, weil alles so bleibt, wie es ist. Das Resultat ist eine kollektive Selbstentlastung: Man leidet lieber passiv unter dem System, als aktiv Verantwortung zu übernehmen, es zu gestalten.
So wird aus dem „Ich kann nicht“ ein „Ich muss nicht“. Und aus berechtigtem Schutzbedürfnis entsteht schleichend eine Kultur der Ohnmacht, die sich unter dem Deckmantel der Erschöpfung selbst reproduziert.
In Verbindung mit der kulturellen Akzeptanz nicht nur von Krankheit und Verletzlichkeit, sondern auch von Leiden, befinden sich Führungskräfte hier in einer Zwickmühle: Einerseits müssen Sie Leistung fördern, um ihren Auftrag zu erfüllen. Andererseits ist es mittlerweile ein Tabu, Schwächen zu kritisieren und Krankheiten infrage zu stellen.
4.3 Krankheit als Machtinstrument
Zusätzlich wird in Unternehmen Krankheit heutzutage als Druckmittel eingesetzt: „Wenn ich nicht bekomme, was ich will, bin ich morgen krank.“
Dies wird durch eine deutliche Verschiebung von einem Arbeitgeber- zu einem Arbeitnehmermarkt ermöglicht: Mitarbeiter*innen wissen ihre neue Macht zu nutzen.
Auch hier zeigt sich, dass Krankheit nur vermeintlich ein Makel ist, sondern aus der Tabuzone heraus geholt wurde, um als Druckmittel eingesetzt zu werden, was Führungskräfte in eine schwierige Situation bringt: Die Krankheit an sich darf ich nicht kritisieren, auch wenn ich weiß, dass sie im Grunde nicht existent ist.
Die Parallelen zur skizzierten gesellschaftlichen Kultur liegen auf der Hand: Auf TikTok gilt Krankheit mittlerweile als Statussymbol. In Unternehmen wird sie als Symbol der Stärke und des Mutes eingesetzt. Krankheit ist kein Tabu mehr. Während früher ein Mitarbeiter „heimlich“ krank wurde, wird heute offen damit gedroht.
4.4 Soziale Kulturen verstehen
Der klassische Dreiklang zum Verständnis einer sozialen Kultur hat sich damit verschoben:
Boomer, Gen-X, Gen-Y
Wofür bekommt man Anerkennung? → Für Leistung, Belastbarkeit und Anpassung.
Worüber wird nicht gesprochen? → Über Stress, Überlastung oder psychische Probleme.
Was ist verboten oder wird sanktioniert? → Fehlzeiten, mangelnde Leistung, Fehler durch Schwächen.
Gen-Y
Wofür bekommt man Anerkennung? → Für Krankheit, Verletzlichkeit, Unangepasstheit.
Worüber wird nicht gesprochen? → Weniger über Leistung und Erfolge.
Was ist verboten oder wird sanktioniert? → Krankheiten, Schwächen oder Opferhaltungen zu kritisieren ist zwar nicht verboten, wird aber sozial stark sanktioniert. Stichwort: Bodyshaming
Fazit:
Um aus der Zwickmühle herauszukommen, einerseits Leistung zu fördern und andererseits echte Hilfsbedürftigkeit anzuerkennen, können Führungskräfte folgendes tun:
Analyse der Anliegen: Unterscheiden Sie zwischen einer echten Hilfsbedürftigkeit, Krankheit als Drohung und einem Leiden, um Aufmerksamkeit zu generieren.
Psychologische Sicherheit statt psychologische Bequemlichkeit: Letztlich geht es immer um Hilfe zur Selbsthilfe. Verabschieden Sie sich von der Retter-Rolle: Wer vermeintlichen Opfern dauerhaft hilft, macht sie unmündig. Wenn Mitarbeiter*innen sagen „Ich kann das nicht“, kann das auch bedeuten „Ich will das nicht alleine machen“.
Verantwortlichkeiten klären: Menschen dürfen Fehler machen und Zweifel äußern. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht auch Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen müssen. Wer genau weiß, wofür er oder sie zuständig ist und welche Rolle er oder sie im Team einnimmt, kann sich weniger leicht aus seiner Verantwortung stehlen.
Verletzlichkeit statt Leiden: Eine moderne Führung löst den vermeintlichen Widerspruch zwischen Opferhaltungen und Leistung auf, indem sie Verletzlichkeit anerkennt und gleichzeitig Leistung einfordert. Verletzlichkeiten fördern die Teambindung, weil die Schwächen des einen durch die Stärken des anderen kompensiert werden. Dafür braucht es einerseits einen offenen Umgang mit Schwächen, andererseits aber auch den Stolz auf die eigenen Stärken, um die Schwächen anderer aufzuwiegen.
Hoffnung statt Krise – Führen statt Aushalten
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