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Das Subjekt zwischen Ohnmacht und neuer Wirkungsmacht

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Wer heute das Gefühl hat, nicht wirklich handeln zu können, ist damit nicht allein. Viele spüren eine merkwürdige Leerstelle: Zwischen Klicks und Likes, globalen Krisen und technokratischer Politik scheint das eigene Tun wie in Watte gepackt, verzögert und entkoppelt von echten Konsequenzen. Das moderne Ideal des selbstbestimmten Subjekts – autonom, planend und selbstwirksam – scheint der Vergangenheit anzugehören.

Doch vielleicht haben wir die Moderne in ihrer Selbstbeschreibung zu ernst genommen. Denn das Bild des souveränen Akteurs war nie für alle Realität. Und vielleicht liegt in der Neuverhandlung unserer Handlungsmacht nicht nur ein Verlust, sondern auch eine Befreiung.

Das moderne Subjekt: Ein exklusiver Mythos

In der Rückschau erscheint die Moderne als Epoche klarer Kausalitäten: Wer handelte sah eine direkte Wirkung. Handwerker*innen sahen ihr Werk entstehen, der Bauer seine Ernte, Wähler*innen ihren Einfluss auf die Politik und Angestellte die Früchte stetiger Karriereplanung. Manches davon hat immer noch Bestand. Anderes wurde brüchig.

Doch diese Erzählung war nie universell gültig:

  • Für viele Frauen, die in Haushalt, Sorgearbeit oder prekären Jobs arbeiteten, blieb die Handlungsmacht oft unsichtbar.
  • Für Arbeiter*innen in frühen Industriegesellschaften war die eigene Wirksamkeit kleinteilig, fragmentiert und oft entfremdet.
  • Für Menschen in kolonisierten Regionen war das moderne Versprechen von Autonomie schlicht nicht existent.
  • Und kulturelle Minderheiten, Armutsbetroffene oder Lohnabhängige galten ohnehin als Randständige und Außenseiter der Gesellschaft ohne große Wirkungsmacht.

Die modernen Freiheits- und Handlungsideale waren selektiv. Die Geschichte der Welt wird, wie es oft heisst, aus der Sicht der Sieger geschrieben, der privilegierten Mehrheitsgesellschaft, die sich als gestaltende Akteure empfanden und aktuell wohl am meisten mit einer Neuordnung der Welt hadern.

Gerade deshalb eröffnet die heutige Erkenntnis, dass Wirksamkeit nie so direkt war, wie es die Moderne versprach, auch einen Raum für Gleichheit: Wenn niemand mehr souverän handeln kann wie ein moderner Halbgott von Prometheus Gnaden, kann die Frage nach Handlungsmacht gerechter verteilt werden. Die Entzauberung des vermeintlich autonomen Subjekts als seines eigenen Glückes Schmied kann nicht nur belastend sein, sondern auch entlasten und verbinden.

Postmoderne Komplexität: Spürbare Verluste und Neuorientierung

Dennoch fühlt sich die Gegenwart anders an als die Moderne. Die neue Normalität aus Globalisierung, Digitalisierung und Systemkomplexität verlängerte die Kette zwischen subjektiven Handlungen und objektiven Wirkungen oder unterbrach sie sogar. Politische Entscheidungen entstehen in internationalen Kommissionen und werden durch Lobbyismus verwässert. Selbst diejenigen, die wir wählen, haben oft nur wenig Entscheidungsmacht, während wir diejenigen, die im Hintergrund als Geldgeber ihren Einfluss geltend machen, oft nicht einmal kennen. Die Auswirkungen unseres eigenen Konsums werden zwar immer wieder betont, verschwinden jedoch hinter so vielen anderen Konsument*innen oder den Auswirkungen der Entscheidungen großer Unternehmen. Unsere eigenen gesellschaftspolitischen Aktivitäten in digitalen Netzwerken ernten vielleicht Likes und Beteiligungen in Online-Petitionen führen vielleicht zu einem besseren Gewissen, jedoch selten zu direkten Veränderungen. Der politische Betrieb in der Welt scheint auch ohne uns ganz gut auszukommen. Zuletzt gilt der Klimawandel zwar als menschengemacht. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass sich dessen Folgen, globale Pandemien oder eine allgemeine geopolitische Instabilität, inklusive Energiekrisen durch Kriege und Verteuerungen durch Strafzölle unserem individuellen Eingriff entziehen. Wir können uns allenfalls auf kommende Härten vorbereiten.

Dadurch entsteht ein Gefühl individueller und kollektiver Ohnmacht, besonders bei jungen Menschen: Warum eine Familie gründen, ein Haus bauen oder an der eigenen Karriere feilen, wenn Zufälle, Krisen und Systeme ohnehin stärker sind als der persönliche Wille? Warum Pläne machen und sich anstrengen, wenn es vermutlich sowieso anders kommt? Warum nicht lieber feiern gehen und die gestohlene Corona-Jugend nachholen?

Dennoch wäre es zu kurz gegriffen, darin nur einen Niedergang zu sehen. Denn je weniger das Individuum sich als isolierter „Macher“ definieren muss, desto mehr kann es seine Wirksamkeit in neuen Formen entdecken – jenseits des linearen, individualistischen Handlungsideals der Moderne.

Von daher steht in der Postmoderne auch die uralte Balance-Frage zwischen Autonomie und Verbundenheit auf dem Prüfstein. Vielleicht ist aus heutiger Sicht dieser ewige Widerspruch seit dem Ausgang Adams und Evas aus dem Paradies längst nicht mehr aktuell. Wenn der Mensch in postoptimistischen Zeiten akzeptiert, das es nicht mehr darum geht, dass jede/r alles werden kann, indem er sich selbst als Subjekt die Welt als Objekt Untertan macht, ergibt sich die Chance, sich als soziales Wesen neu zu definieren.

Handlungsmacht in der Postmoderne: Gruppenstolz statt persönliche Selbstwirksamkeit

Die Postmoderne vernichtet die Handlungsmacht nicht, sondern verlagert sie:

  • von direkten Ergebnissen zu verzögerten, vernetzten Effekten,
  • von individueller Wirkkraft zu kollektiver Einflussnahme,
  • von linearen Kausalitäten zu Wahrscheinlichkeiten und Tendenzen,
  • von sichtbarer Veränderung zu Resonanz und Beziehung.

Unsere Wirksamkeit ist heute verstreuter, kooperativer, langsamer und oft unsichtbar. Solange, bis sie sich in Kippmomenten regelrecht entlädt, was wiederum zu Verunsicherungen v.a. in der Mehrheitsgesellschaft führt: Bewegungen wie Fridays for Future, #MeToo, der Arabische Frühling und oft auch lokale Initiativen entstehen aus unzähligen Mikrohandlungen, die sich in digitalen Netzwerken und analogen Gesprächen verdichten. Diese neue Art der Wirksamkeit ist weniger auf einzelne Personen fokussiert und damit weniger heroisch, zugleich jedoch inklusiver. Das Subjekt wird also kleiner, die Wirkung marginalisierter Gruppen durch den Zusammenschluss jedoch größer.

Wurde die Geschichte früher aus der Sicht einzelner Sieger erzählt, ist heute unklar, aus wessen Perspektive Erfolgsgeschichten erzählt werden sollen, weil es so viele einzelne Akteure gibt, die ihren Beitrag zu Veränderungen leisten. Auch wenn dies im Sinne des klassischen Subjekt-Wirkungs-Verhältnisses zu einem motivationalen Knick führen könnte, könnte es gleichzeitig mit einer Erhöhung des Gruppenstolzes auf erreichte Ziele einher gehen.

Wird Handlungsmacht geteilt, entsteht ein gemeinsamer Raum, in dem Einfluss nicht an Stärke oder Machtpositionen gebunden ist, sondern an Beziehungen, Resonanz und Kooperation. Konkreter formuliert: Wer Einfluss auf die Gesellschaft ausüben möchte, muss nicht unbedingt in politische Ämter gehen, was ohnehin nur weitgehend Privilegierten vorbehalten ist. Es kann sogar wirksamer sein, sich im vorpolitischen Raum, dem digitalen Stammtisch sozusagen, gut zu vernetzen, seine Positionen mehrheitsfähig zu machen und damit den Diskurs voranzubringen.

Gleichzeitig ist die Einsicht, dass das einzelne Subjekt allein kaum direkt wirkt, nicht nur ernüchternd, sondern auch entlastend. Sie beendet eine Überforderung, die viele moderne Lebensläufe prägte, indem sie das Ideal abhakt, selbstbestimmt und verantwortlich für das eigene Leben und im Falle eines Scheiterns gleichfalls selbst schuld zu sein.

Neue Subjekt-Rollen in der Postmoderne: Von Akteur*innen zu Netzwerker*innen

Wer verstanden hat, sich von einer Akteur-Rolle mit direkter Wirkung zu verabschieden, ist frei, sich über neue Subjekt-Rollen Gedanken zu machen, um einen Ausweg aus der eigenen Ohnmacht zu finden:

  • Netzwerker*innen erkennen, dass nur gemeinsam etwas erreicht werden kann.
  • Sinnstifter*innen ordnen die Geschehnisse einer unübersichtlichen Welt für andere Menschen immer wieder neu ein.
  • Impulsgeber*innen setzen relevante und umsetzbare Ideen in die Welt, die andere weitertragen.
  • Moralische Akteure reflektieren die Folgen ihrer alltäglichen Entscheidungen und konsumieren und wählen daher bewusst, um den eigenen moralischen Ansprüchen zu genügen. Wer wählt, handelt nicht als allmächtiges Subjekt, sondern als Teil einer unsichtbar-vernetzten kollektiven Gruppe. Insofern geht es auch in politischen Wahlen heutzutage nicht nur darum, wer gewählt wird, sondern auch, wer nicht gewählt wird.
  • Lokale Gestalter*innen verabschieden sich von der Vision, die gesamte Welt zu verändern und fokussieren sich daher lieber auf ihr konkretes Umfeld, um sichtbare Veränderungen voran zu bringen. Das kann in Unternehmen ein Arbeitskreis zum Thema Gesundheit sein oder im privaten Umfeld eine Theatergruppe, aus der 30 Jahre später ein viertägiges Theaterfestival entsteht, wie bei dem Bruder meiner Frau.

All diesen Subjekten ist klar, dass sie alleine die Welt nicht retten werden. Aber sie versuchen zumindest, mit ihren Möglichkeiten als Mit-Gestalter*innen der Zukunft Schlimmeres zu verhindern, ohne sich selbst zu kasteien.

Diese Rollen sind zwar weniger spektakulär, aber realistisch-pragmatisch, im Sinne eines Post-Heroismus.

Hoffnung im Zeitalter der Intersubjektivität: Von der Verletzung zur Vernetzung

War die Moderne das Zeitalter des souveränen Individuums, ist die Postmoderne das Zeitalter der verletzten und gleichzeitig vernetzten Subjekte.

In diesem Sinne entsteht die Hoffnung auf ein wirksames, zufrieden stellendes Leben heute weniger aus einer heroischen Sichtweise, sondern aus dem Wissen, dass viele kleine individuelle Handlungen – sichtbar und unsichtbar – sich zu größeren Bewegungen verdichten können, wenn …

  • das eigene Netzwerk groß genug ist,
  • die eigenen Ideen durch eine Verbesserung der Welt mit Sinn verbunden sind,
  • die Impulse für andere Menschen relevant und umsetzbar sind,
  • die eigenen Handlungen den persönlichen moralischen Vorstellungen entsprechen
  • und sich auch im persönlichen Umfeld Aktionen umsetzen lassen, die eine direkte Wirkung des eigenen Handelns klassisch spürbar machen.

Die Hoffnung auf eine positive Entwicklung der Menschheit wird damit in der Postmoderne zu einer kollektiven Angelegenheit. Es geht nicht mehr darum, dass einzelne Menschen die Welt spürbar verändern, sondern darum, dass wir alle etwas dafür tun können. Die Frage lautet daher nicht mehr:

  • „Wie kann ich als Einzelner wirken?“, eine Frage, die sich insbesondere für schüchterne Menschen ohnehin selten stellte, sondern vielmehr:
  • „Wie machen wir gemeinsam neue Formen der Wirksamkeit geltend?“

Mehr dazu (externer Link): https://www.walhalla.de/wirtschaft-management/management-und-fuehrung/5115/hoffnung

Das postmoderne Drama

Ganz ehrlich: Ich liebe die Postmoderne. Was heutzutage alles möglich ist, wäre bis vor kurzem beinahe ein Wunder gewesen:

  • Wir sprechen in Unternehmen offen über psychische Gesundheit.
  • Führungskräfte versuchen mit Mitarbeiter*innen auf Augenhöhe zu kommunizieren.
  • Ich kann in Trainingspausen bei Nicht-Wissen schnell Chatgpt fragen, um zumindest ein paar Ideen zu bekommen.

Gleichzeitig gilt nicht nur, dass wir mehr über die Funktionsweise von Maßnahmen und Systemen wissen, als wir verändern können. Wir können auch nicht mehr so tun, als wüssten wir es nicht besser.

1 Radikale Erkenntnisgewinne bei begrenzten Umsetzungsmöglichkeiten

Die Postmoderne ist geprägt von neurobiologischem Wissen, systemtheoretischen Einsichten und Erkenntnissen aus Soziologie und Organisationspsychologie, die teilweise auch schon einige Jahre auf dem Buckel haben, aber erst jetzt so richtig im Mainstream angekommen sind. Dadurch wissen wir heute ziemlich genau, dass beispielsweise Einzelmaßnahmen in Unternehmen systemisch kaum wirken, wir wissen, welche Nebenwirkungen sie haben oder dass sie oftmals sogar kontraproduktiv sind:

  • Motivations- und Mindset-Workshops ohne strukturelle Reformen führen eher zu Frustrationen, weil dadurch die Lücke zwischen persönlichen Chancen und strukturellen Hemmnissen nur noch sichtbarer werden.
  • KI-Systeme werden meist von denjenigen genutzt, die ohnehin schon gut sind, wodurch deren Produktivität noch mehr steigt, während Skeptiker und Unsichere den Anschluss verpassen.
  • Die Arbeit im Homeoffice reproduziert nicht nur gesellschaftliche Privilegien, sondern kommt v.a. denjenigen entgegen, die ohnehin schon selbstorganisiert arbeiten und die ohne Störungen von Kolleg*innen jetzt noch schneller werden, während die Unorganisierten in der Luft hängen.

Die Liste ließe sich endlos fortführen:

  • Wer geht am liebsten auf externe Fortbildungen? Diejenigen, die es brauchen könnten oder diejenigen, die ohnehin schon gut sind und sich damit langfristig aus dem Unternehmen fortbilden?
  • Selbst die simple Frage, wer eine Aufgabe übernehmen will, erweitert oftmals die Kompetenz-Schere, weil sich darauf diejenigen melden, die sich das zutrauen und sich damit noch mehr weiterentwickeln.

Wir wissen also, dass Einzelmaßnahmen ohne strukturelle Veränderungen das aktuelle Probleme der Leistungs- und Verantwortungs-Schere eher noch verstärken. Gleichzeitig wissen wir aber auch, dass Systeme träge sind, starke Selbststabilisierungsmechanismen haben und sich einer stringenten Steuerung entziehen.

Daraus zu schlussfolgern, dass es am besten wäre, die Dinge laufen zu lassen, kann jedoch auch keine Lösung sein, wenn wir hoffnungsvoll und ernsthaft etwas verbessern wollen. Weil also echte Systemveränderung schwierig ist, machen wir das, was kurzfristig möglich ist:

  • Themenspezifische Trainings, Coachings und Mediationen
  • Etablierung von KI-Tools als Assistenz
  • Anpassung von Arbeitsmodellen in Richtung mobiles Arbeiten
  • Führungscurricula und Kompetenzprogramme

Wohl wissend, dass auch hier in den meisten Fällen gilt: Diejenigen, die offen für solche Maßnahmen sind, profitieren am meisten davon, wodurch Ungleichheiten evtl. verschärft werden.

2 Konsequenzen für Organisationen und Führungskräfte

2.1 Maßnahmen nicht isoliert durchführen, sondern als Paket

Weil beinahe jede Einzelmaßnahme Nebenwirkungen erzeugt, sollten flankierend immer strukturelle Veränderungen mitgedacht werden.

Am Beispiel KI-Nutzung:

  • KI-Recherchen greifen logischerweise auf vorhandene Daten zurück. Wurden diese Daten jedoch aus einer bestimmten Sichtweise verfasst, wird durch die Nutzung der Daten diese Sichtweise verstärkt (Stichwort: Bias). Einfach formuliert: Wird auf Daten zurückgegriffen, die nur von weißen Männern zwischen 25 und 30 Jahren verfasst wurden, braucht es eine diverse Gruppe, um diese Daten zu bewerten.
  • Der Zugang zu KI-Tools sollte allen zugänglich sein.
  • Es braucht ein Mentoring für weniger digital-affine Gruppen.

2.2 Kleine kulturelle Veränderungen

Um Abhängigkeiten von individuellen Kompetenzen zu verhindern, braucht es gleichzeitig kleine Eingriffe, die jedoch langfristig den kulturellen Rahmen verändern können:

  • Transparente Beförderungskriterien statt rein informellen Entscheidungen
  • Standardisierte Kompetenzprogramme und Führungscurricula anstatt individuellen Leistungsbeurteilungen
  • Interne (Pflicht-)Seminare für alle anstatt freien Weiterbildungsbudgets, die nur wenige nutzen
  • Rotationsprogramme, um Wissen und Chancen fair zu verteilen

2.3 Reflexive Führung fördern

Postmoderne Organisationen brauchen Führungskräfte, die verstehen, dass Maßnahmen Nebenwirkungen haben, Verantwortung immer geteilt werden sollte und sie daher häufig kontraintuitiv handeln sollten:

  • Diejenigen zu Fortbildungen schicken, die keine Lust haben.
  • Aufgaben an diejenigen verteilen, die etwas noch nicht können.
  • Und diejenigen zurück pfeifen, die nur allzu gerne neue Aufgaben übernehmen.

Sie sollten daher immer die langfristige Perspektive mitdenken:

  • Kurzfristig ist es sinnvoll, Aufgaben an bereits kompetente Mitarbeiter*innen zu verteilen, weil es Zeit spart und die Qualität vermutlich passt.
  • Langfristig ist es sinnvoller, genau das Gegenteil zu tun, um Kompetenz- und Verantwortungsverhältnisse zu verändern.

Mir ist vollkommen klar, dass damit ein riesiger Aufwand einhergeht, gerade weil die Zeit dafür im Grunde nicht zur Verfügung steht. Dennoch ist das Wissen um diese Effekte hilfreich, um zumindest in manchen Fällen kontra-intuitiv zu handeln.

2.4 Individuen nicht nur fördern, sondern auch unterstützen

Damit Einzelmaßnahmen die soziale Schere nicht noch weiter vergrößern, sollten Individuen nicht nur gefördert, sondern auch strukturell entlastet werden:

  • Lernzeit und Ressourcen garantieren: Wer KI-Tools, Wissen aus Seminaren oder Homeoffice nutzt, braucht Lernzeit, einen guten Zugang und Unterstützung.
  • Psychologische Sicherheit als Grundbedingung: Wer den Anschluss an die „early adopter“ nicht verpassen will, braucht das klare Signal aus der Führungsriege: „Es ist OK, etwas auszuprobieren und Fehler zu machen.“
  • Orientierung bieten statt nur auf Eigenverantwortung zu setzen: Das neoliberale Denken überfordert Mitarbeiter*innen oft mit Appellen wie „Du musst dich selbst entwickeln, wenn die den Anschluss nicht verpassen willst“ oder konkreter „Du musst KI nutzen“ oder „Du musst Verantwortung übernehmen“. Im Sinne einer kollektiv lernenden Organisation ist es sinnvoller, klare Lernpfade zu definieren und flankierende niederschwellige und verbindliche Hilfsangebote zu schalten.

3 Vom individuellen zum solidarischen Optimismus

3.1 Das Problem des traditionellen Optimismus

Damit stellt sich auch die Frage, ob wir uns den klassischen, individuellen Optimismus noch leisten können?

Der traditionelle Optimismus lautet: „Wir schaffen das, wenn wir uns anstrengen.“ Das klingt auf den ersten Blick motivierend, ist jedoch systemisch betrachtet problematisch:

  • Für Optimist*innen ist die Entscheidung für oder gegen eine Veränderung bereits abgeschlossen. Sie denken bereits an deren Umsetzung, während Skeptiker*innen noch mit der Entscheidung hadern.
  • Manche Pessimist*innen sehen sich selbst als wertvolle Ressource, indem sie auf mögliche Fehlentwicklungen hinweisen, was jedoch selten gerne gehört wird.
  • Andere Pessimist*innen haben Angst vor Veränderungen und sind deshalb kritisch. Auch damit vergrößert sich die Wissens- und Kompetenz-Lücke zu den Optimist*innen.
  • Optimist*innen nutzen Einzelmaßnahmen wie Coachings oder Seminare schneller und häufiger.
  • Da Unternehmen grundsätzlich dafür da sind, Veränderungen positiv anzugehen – alles ändere wäre paradox – kann die Illusion entstehen, dass Probleme im Grunde individuell vorhanden und folglich auch individuell zu lösen sind.

Dabei wird meistens vergessen, dass Skepsis heute oft die realistischere Sichtweise ist, sofern Pessimismus nicht pauschal bedeutet, dass alles immer schlimmer wird, sondern dass jede Veränderung neben einem positiven Effekt auch negative Nebenwirkungen nach sich zieht. Dies wiederum ist kein Argument gegen Veränderungen, sondern ein Argument für wohldurchdachte Veränderungen.

3.2 Prinzipien eines solidarischen Optimismus

Aus diesen Gründen können wir uns den klassischen, indivuellen und damit spalterischen Optimismus nicht mehr leisten. Stattdessen brauchen wir eine postmoderne Form des Optimismus, die nicht individuell überhöht und moralisiert (Sei doch optimistisch!), sondern einen Austausch, in dem sowohl die Optimist*innen als auch die Pessimist*innen voneinander lernen. Bezogen auf den Optimismus sprechen wir hier von einem relationalen oder solidarischen Optimismus: Optimismus ist keine persönliche Tugend, sondern eine Beziehungsqualität, mit der wir uns unterstützen, Kompetenzlücken kompensieren und uns gegenseitig entlasten, um gemeinsam etwas zu erreichen.

Das angestrebte Beziehungsziel lässt sich als Hoffnung auf ein besseres, produktives, gemeinschaftliches Miteinander begreifen. Und da Hoffnungen sich als Zusammenspiel von Zuversicht und Zweifel definieren lassen, brauchen wir für das Erreichen dieses Ziels sowohl die Skeptiker*innen als auch die Optimist*innen.

Deshalb gewinnen hier beide Seiten:

  • Pessimist*innen werden nicht stigmatisiert, sondern bringen wichtige Signale über Risiken, Grenzen und strukturelle Barrieren in die Diskussion mit ein.
  • Optimist*innen erweitern ihre Vorreiter-Rolle um eine Fürsorge-Funktion. Sie übersetzen, ermutigen, bauen Brücken und stellen Ressourcen zur Verfügung.

Optimismus wird damit zum Bindungskitt und nicht zu einer persönlichen Leistung.

Mehr zu einem solchen Bindungsmindset in meinem Buch (externer Link) „Hoffnung! Die unterschätzte Führungsstärke in turbulenten Zeiten

Wir können ja doch nichts ändern!

Gute Nachrichten für alle, die frustriert aufgeben, weil … (s.o.)

Schlechte Nachrichten für alle, die sich gerne hinter solchen Aussagen verstecken, weil … (s.o.)

Wer sich wie ich mit dem Thema Hoffnung auseinander setzt, stößt früher oder später (bei mir später) auf die Aktivismus-Forschung und die großartige Autorin Rebecca Solnit.

Solnits Credo lautet:

  • Das Zentrum (Politik, etc.) verfügt zwar über die sichtbare Macht zur Umsetzung von Veränderungen.
  • Die Peripherie (Zivilgesellschaft, Medien, …) verfügt jedoch über die Macht der Ideen, um die Politik zu beeinflussen.

Der Weg der Ideen von der Peripherie zum Zentrum der Macht verläuft zwar langsam, aber es gibt ihn. Manchmal dauert es Jahrzehnte. Doch irgendwann einmal kann die Politik die Ideen nicht mehr ignorieren.

Das gleiche gilt für jedes System und somit auch Unternehmen:

Es mag frustrierend sein, dass manche Veränderungen zäh und langatmig sind. Und so manche/r merkt frustriert an, dass er oder sie sich damals das gewünscht hätte (Führung auf Augenhöhe, respektvoller Umgang miteinander, Gesundheit als wichtiges Thema, …), was heute in vielen Unternehmen normal erscheint.

Dabei wird jedoch vergessen, dass erst das stetige Einfordern von Rechten und Anmerken von Bedürfnissen die Veränderungen von heute ermöglichte.

In diesem Sinne: Auch wenn sich Veränderungen hinziehen. Sie finden dennoch statt. Unsichtbar, aber wirksam.

Vom Ausstoß zur Resonanzgesellschaft – Ein geschichtlicher Abriss zum Umgang mit persönlichen und gesellschaftlichen Konflikten und ein utopischer Blick in die Zukunft

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1. Gemeinschaft und Ausstoß (ca. 10.000 v. Chr. – 1.000 v. Chr.)

In frühen Jäger- und Sammlergruppen war das Zusammenleben überlebenswichtig. Wer gegen soziale Normen durch Diebstahl, Gewalt oder Verrat verstieß, wurde oft ausgestoßen oder geächtet.

2. Das Prinzip der Ehre und Duelle (ca. 1.500 – 1.800 n. Chr.)

In der europäischen Frühneuzeit wurden persönliche Konflikte v.a. in der Hochkultur schnell zur Frage der Ehre, die mit Hilfe eines Duells wieder hergestellt werden sollte. In Frankreich wurden Duelle zwar 1626 offiziell verboten. Dennoch fiel noch 1829 der russische Dichter Alexander Puschkin einem Duell zum Opfer.

3. Vernunft und Verhandlung (18. – 20. Jahrhundert)

Mit der Aufklärung verschoben sich gewaltvolle Konfliktlösungen hin zu Verhandlungen und juristischer Klärung. Gerichte und Schiedsverfahren förderten die Gleichberechtigung in Streitfragen. Im Alltag entstanden parallel dazu bürgerliche Tugenden wie Toleranz und Zivilität. Produktiv zu streiten wurde zu einem zivilisatorischen Lernprozess.

4. Öffentliche Bühne und Medien (20. Jahrhundert)

Mit Presse, Radio und Fernsehen wurden Konflikte zunehmend Teil einer öffentlichen Inszenierung. Moralische Streitigkeiten fanden ihren Weg von privaten Haushalten und Straße in Talkshows. Skandale von Personen öffentlichen Interesses wurden medial genüsslich ausgebreitet, inklusive öffentlicher Statements, Entschuldigungen, Abgrenzung und Empörung gegenüber den betreffen Personen.

5. Digitale Ächtung und Cancel Culture (21. Jahrhundert)

Seit den 2010er-Jahren dezentralisierte die Digitalisierung die soziale Ächtung:

  • Im Internet treten Nutzer*innen sowohl als Konsument*innen als auch als Produzent*innen auf. Damit werden nicht nur Konflikte von Personen öffentlichen Interesses kommuniziert, sondern von jedem und jeder.
  • Digitale Medien ermöglichen eine kollektive Konfliktbewertung in Echtzeit. Das Internet bietet eine riesige Bühne als Konfliktverstärker, auf der nicht nur Beteiligte, sondern auch Unbeteiligte ihre Meinung äußern können.
  • Begriffe wie „Cancel Culture“ (ab ca. 2017) beschreiben moderne Formen einer digitalen Sanktionierung. Der soziale Ausschluss von früher verlagerte sich ins Virtuelle, mit teilweise ebenso existenziellen Folgen. Wie der Philosoph Robert Pfaller sagt: Wir leben nicht mehr ausschließlich in einer Leistungsgesellschaft, sondern auch wieder in einer Schamgesellschaft. Ehre erscheint heute wieder wichtiger als während der Aufklärung.

6. Vom Canceln zur Resonanz – Ein Blick in die Zukunft

Wie könnte es weitergehen? Finden wir zu einem neuen aufgeklärten Umgang mit Konflikten zurück? Oder weitet sich das gegenseitige Canceln aus und die Gesellschaft zersplittert sich in kleine Stämme, die nicht mehr miteinander sprechen?

Empathische Vernunft

Anstatt einer rein rationalen Neuauflage der Aufklärung könnte eine andere Form von Vernunft entstehen:

  • Im Zeitalter von Fakenews und Wissensschaftskritik reicht es nicht mehr aus, sich lediglich auf Argumente zu konzentrieren.
  • Die kommende Vernunft sollte stattdessen empathische Züge annehmen: Widerspruch muss keine Ablehnung oder gar Ausschluss bedeuten, sondern kann ein anderer Teil von Beziehung sein.
  • Künstliche Intelligenz und Datenethik könnten (und sollten) uns dabei helfen, kollektive Empörungen zu kontextualisieren: „Diese Aussage stammt aus 2020, am Anfang der Corona-Pandemie, als noch wenige Informationen über das Virus vorhanden waren.“

Auswählen statt Canceln

Im Internet treffen sich verschiedene soziale Blasen, die bislang in den analogen Stammtischen getrennt waren. Dadurch entstehen Konflikte, die früher nicht entstanden bzw. über Parteien kanalisiert wurden:

  • In einer überfordernden Informationswelt werden Menschen langfristig lernen müssen, nicht mehr zu allem Stellung zu beziehen, sondern bewusster auszuwählen.
  • Da die digitale Welt nicht vergisst, muss zudem niemand sofort auf eine Äußerung reagieren. Stattdessen fassen K.I.-gesteuerte Plattformen die soziale Reputation einer Person langfristig zusammen. Was auf den ersten Blick bedrohlich wirkt, kann auf den zweiten Blick als Regulator fungieren, um Diskussionen zu befrieden und eine neue Zivilität herzustellen.
  • Anstatt zu Canceln gilt es folglich, wieder ein Mindestmaß an ziviler Kinderstube, basierend auf Toleranz und Respekt herzustellen.
  • Plattformen können zusätzlich Feedbackräume schaffen, die mehr auf Reparatur als auf Strafe setzen, indem sie digitale Mediationsräume anbieten oder KI-gestützte Deeskalationen einsetzen.

Retro-Stämme, Zersplitterungen und Neu-Gruppierungen

Wenn wir an X denken oder allgemein die gesellschaftliche Entwicklung in den USA, zeigt sich bereits der Ansatz von Retro-Stämmen in der Gesellschaft:

  • Meinungsgruppen ziehen sich in digitale Stämme mit gemeinsamen Werten und einer gemeinsamen Sprache zurück, wodurch in einem Zwischenschritt Parallelgesellschaften mit je eigener Moral entstehen.
  • Weil der Mensch jedoch nicht nur eine Sehnsucht nach Gruppenzugehörigkeit hat, sondern auch zu Abgrenzung neigt, verlagern sich Konfliktgespräche in die Retro-Stämme, wodurch es innerhalb eigentlich einheitlicher Meinungs-Gruppen zu weiteren Unterteilungen kommt.
  • Wenn externe Feindbilder nicht aufrecht erhalten bleiben, bietet diese zunehmende Zersplitterung der Stämme die Chance auf neue Begegnungen außerhalb der eigenen Meinungsblase.

Langfristige Utopie: Die „Resonanzgesellschaft“ (nach Hartmut Rosa)

Betrachten wir die menschliche Geschichte, liegt es nahe, Konflikte als zentrales Element des sozialen Zusammenlebens zu betrachten. Es gibt immer etwas zu verhandeln, sei es über materielle Güter, die Zukunft der Welt, den eigenen Status, soziale Aufmerksamkeit oder moralische Vorstellungen. Es stellt sich also weniger die Frage, wie viele Konflikte wir in der Zukunft haben werden, sondern vielmehr, wie wir Konflikte in unser Leben integrieren. Gemäß der Resonanztheorie nach Hartmut Rosa lassen sich Konflikte nicht nur als Angriff, sondern auch als Möglichkeit begreifen, gegenseitig an Widerspruch zu wachsen, was sich bereits bei Nietzsche oder Hannah Arendt nachlesen lässt:

  • Konflikte bieten damit immer auch das Potenzial, über die eigenen Positionen und Meinungen nachzudenken und sich weiterzuentwickeln.
  • Konflikte symbolisieren entsprechend eine besondere Form der Verbindung zwischen zwei Menschen oder Gruppen. Manche Gruppen wie Arbeitgeber vs. Arbeitnehmer, Christen vs. Moslems, Rechte vs. Linke usw., definieren sich förmlich über die Abgrenzung zu ihrem Gegenüber, weshalb der Politikwissenschaftler Ralf Langejürgen empfiehlt, sich in Konflikte zuerst zu entfaszinieren, bevor eine neue positiv aufeinander bezogene Beziehung wieder möglich ist.

Wer bislang glaubte, dass alles immer schlimmer wird:

  1. Es ist noch nicht so lange her, dass wir uns aufgrund unserer Ehre duellierten.
  2. Wenn sich auf Plattformen wie X nur noch einheitliche Meinungsträger*innen treffen, könnte dies schnell langweilig werden, wodurch Konflikte entstehen, die zu Zersplitterungen führen.
  3. KI muss nicht unser Feind sein, sondern kann Informationen kontextualisieren, um Aussagen ins richtige Licht zu rücken.
  4. Eine neue KI-Reputation, die sich freilich auch kritisch betrachten lässt, könnte zu einer neuen Zivilität führen.
  5. Sinnloser Streit macht irgendwann einmal müde, weshalb eine gezielte Auswahl von Stellungnahmen mittelfristig unumgänglich erscheint.

In diesem Sinne: Es wird nicht alles gut, sondern (wie immer) anders.

Von der Tabuisierung zur Inszenierung – Krankheit als neues Statussymbol

1. Verletzlichkeit als neue Währung

In klassischen kapitalistischen Kulturen erhielt man Anerkennung für Leistung, Stärke und Kontrolle. In der gegenwärtigen, postheroischen Kultur dagegen ist Authentizität und Verletzlichkeit eine neue Währung.

Damit entsteht eine neue Statuslogik: Nicht der Gesunde, Erfolgreiche oder Schöne steht im Zentrum, sondern der, der offen über sein Leiden spricht.

Lange Zeit galt Krankheit – besonders psychische – als etwas, worüber man schweigt. Krankheit bedeutete Schwäche, Scham und Kontrollverlust und damit etwas, das überhaupt nicht in unsere neoliberale Leistungsgesellschaft passt.

Dieses Schweigen prägte Familien genauso wie Organisationen und ganze Gesellschaften. Wer in Unternehmen psychisch war sprach nicht darüber, sondern schob lieber eine physische Krankheit vor.

In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich diese kulturelle Logik radikal verschoben. Heute wird über Depression, Angststörungen, ADHS, Burnout oder Autismus öffentlich gesprochen – in Talkshows, Podcasts und auf sozialen Medien. Diese neue Offenheit ist zunächst ein Fortschritt: Sie bricht Tabus, befreit von Scham und ermöglicht vielen Menschen, Hilfe zu suchen und Solidarität zu erfahren.

Doch gerade im Kontext sozialer Medien hat diese Entwicklung eine beunruhigende Wendung genommen, als wäre etwas aus dem Lot geraten. Anstatt einem Zuwenig haben wir jetzt ein Zuviel des Ganzen.

2. Die Logik der Sichtbarkeit

Plattformen wie TikTok oder Instagram belohnen als Aufmerksamkeitsmaschinen starke Emotionen, Mut und Individualität – je persönlicher und radikaler, desto besser.
In dieser Logik wird das Private gleichzeitig politisch und marktfähig. Der eigene Körper, die eigene Geschichte und sogar das eigene Leid werden zu Kommunikationsvehikeln.

Dadurch entsteht eine paradoxe Dynamik: Was früher tabu war, erhöht heute den eigenen gesellschaftlichen Status und verschafft damit Reichweite. Krankheit wird nicht mehr versteckt, sondern gezeigt – manchmal sogar ästhetisch inszeniert, mit sanften Filtern, Hintergrundmusik und emotionaler Erzählung. Krankheit wird in der kapitalistischen Logik zu einer Ware, die mit anderen Krankheiten um Aufmerksamkeit kämpft.

Damit geht es jedoch nicht mehr darum, sich einem kranken Menschen empathisch zu widmen, was eher in einem kleinen, sensiblen Kreis gelingt, sondern einem kranken Menschen lediglich für den Mut seines Outings in der Öffentlichkeit zu applaudieren.

3. Die Ambivalenz des Fortschritts

Diese Entwicklung hat zwei Gesichter:

  • Emanzipatorisch: Sie bricht Schweigen, schafft Bewusstsein und ermöglicht Solidarität durch Sichtbarkeit.
  • Problematisch: Sie kann dazu führen, dass Krankheit langfristig durch eine inflationäre Benutzung entwertet wird.

Wer sich und seine Sichtbarkeit v.a. über eine Krankheit oder Schwächen definiert, riskiert, in einer „Identität des Leidens“ stecken zu bleiben. Der Philosoph Byung-Chul Han würde sagen: In der „Transparenzgesellschaft“ wird alles Sichtbare zum Wert – selbst das, was eigentlich Intimität verlangt.

Damit bekommen Krankheit und Leiden zwar Aufmerksamkeit, es findet jedoch keine Heilung statt, weil Heilungsprozesse langsamer ablaufen und oftmals weit weniger spektakulär sind als Krankheiten. Heilungen fehlen das Affizierende, um auch weiterhin spannend zu sein.

Das gleiche gilt auch für andere Themen: Ein Absturz auf Drogen generiert wesentlich mehr Aufmerksamkeit als ein Treffen bei den Anonymen Alkoholikern.

4. Übertragung auf Unternehmen

In meiner Arbeit mit Führungskräften erlebe ich gerade drei Dimensionen:

  1. Das Sprechen über Krankheiten und Belastungen als echten Fortschritt
  2. Das Kokettieren mit Krankheit und Leiden, um Aufmerksamkeit zu generieren.
  3. Das Drohen mit Krankheit aus Mitarbeiterseite, wenn ihnen etwas nicht passt.

Anscheinend bekommen wir niemals das Gute ohne entsprechende Nebenwirkungen.

4.1 Psychologisierung der Arbeitswelt

Bis vor einigen Jahren galt noch: Wer sich als Opfer der Umstände zeigte, riskierte einen Gesichtsverlust oder Ausschluss aus der Gemeinschaft. Nur die Harten kommen in den Garten. Hier fehlte zwar häufig die emotionale Intelligenz in der Führung, es führte aber dazu, dass Selbstmitleid zumindest sozial nicht belohnt wurde.

Im gegenwärtigen kulturellen Klima – geprägt durch eine neue Sensibilität, psychologische Sprache und ehrliche Selbstoffenbarungen – wird auch in Unternehmen anders mit Schwächen umgegangen:

  • Verletzlichkeit gilt als authentisch.
  • Überforderung gilt als menschlich.
  • Opferstatus kann sogar moralische Autorität verleihen („Ich leide, also habe ich Recht“).

Das ist zunächst auch hier eine Emanzipation weg von einseitigen Leistungs-Idealen. Der gute Ansatz, Krankheiten und Schwäche aus der Tabuzone zu befreien, kippt jedoch um, wenn Verletzlichkeit zur Identitätsstrategie wird:

  • Mitarbeiter*innen sehen dann nicht mehr, was sie alles leisten, sondern betonen Überlastungen, fehlende Ressourcen oder „toxische Strukturen“.
  • Führungskräfte äußern Resignation: „Man kann ja eh nichts ändern.“
  • Ganze Teams entwickeln eine Kultur der Selbstentlastung: Schuld sind immer „die da oben“ oder „das System“.

Die Folge ist eine Art strukturelle Erschöpfungskultur. Das in Maßen sinnvolle Instrument des kollektiven Jammerns und Beschwerens wirkt nicht mehr entlastend, sondern verstärkt im Gegenteil die kollektive Belastung, weil das Positive nicht mehr gesehen wird.

Aus diesem Grund baue ich seit einiger Zeit in meine Seminare einen Hoffnungsquellen-Block ein:

Aus der (politischen) Aktivismus-Forschung lässt sich lernen:

  • Wer sich nicht dauerhaft in Frustrationen verlieren will, sollte auch sehen, was bereits erreicht wurde.
  • Gleichzeitig gilt es zu reflektieren, mit welchen Aktionen, Maßnahmen oder Haltungen die Ziele erreicht wurden, um zu wissen, wie neue Ziele angegangen werden sollten.

Der Philosoph Robert Pfaller würde sagen: Wir müssen wieder lernen, Lust an unserer Beute zu haben.

4.2 Opferhaltungen als Selbstdefinition

In vielen Unternehmen lässt sich heute eine subtile Kultur der Opferhaltung beobachten. Sie zeigt sich dort, wo Menschen Verantwortung abgeben, weil sie sich als Getriebene der Umstände erleben – „zu viel Arbeit“, „zu wenig Ressourcen“, „zu viele Veränderungen“. Diese Haltung ist menschlich verständlich, aber kulturell folgenreich: Sie legitimiert Stillstand.

Im Spannungsfeld zwischen dem Wunsch, weniger Belastung zu spüren, und der Angst vor Neuem entsteht eine paradoxe Dynamik. Einerseits wird Veränderung abgelehnt, weil sie Unsicherheit bedeutet. Andererseits wird Überforderung beklagt, weil alles so bleibt, wie es ist. Das Resultat ist eine kollektive Selbstentlastung: Man leidet lieber passiv unter dem System, als aktiv Verantwortung zu übernehmen, es zu gestalten.

So wird aus dem „Ich kann nicht“ ein „Ich muss nicht“.
Und aus berechtigtem Schutzbedürfnis entsteht schleichend eine Kultur der Ohnmacht, die sich unter dem Deckmantel der Erschöpfung selbst reproduziert.

In Verbindung mit der kulturellen Akzeptanz nicht nur von Krankheit und Verletzlichkeit, sondern auch von Leiden, befinden sich Führungskräfte hier in einer Zwickmühle: Einerseits müssen Sie Leistung fördern, um ihren Auftrag zu erfüllen. Andererseits ist es mittlerweile ein Tabu, Schwächen zu kritisieren und Krankheiten infrage zu stellen.

4.3 Krankheit als Machtinstrument

Zusätzlich wird in Unternehmen Krankheit heutzutage als Druckmittel eingesetzt: „Wenn ich nicht bekomme, was ich will, bin ich morgen krank.“

Dies wird durch eine deutliche Verschiebung von einem Arbeitgeber- zu einem Arbeitnehmermarkt ermöglicht: Mitarbeiter*innen wissen ihre neue Macht zu nutzen.

Auch hier zeigt sich, dass Krankheit nur vermeintlich ein Makel ist, sondern aus der Tabuzone heraus geholt wurde, um als Druckmittel eingesetzt zu werden, was Führungskräfte in eine schwierige Situation bringt: Die Krankheit an sich darf ich nicht kritisieren, auch wenn ich weiß, dass sie im Grunde nicht existent ist.

Die Parallelen zur skizzierten gesellschaftlichen Kultur liegen auf der Hand: Auf TikTok gilt Krankheit mittlerweile als Statussymbol. In Unternehmen wird sie als Symbol der Stärke und des Mutes eingesetzt. Krankheit ist kein Tabu mehr. Während früher ein Mitarbeiter „heimlich“ krank wurde, wird heute offen damit gedroht.

4.4 Soziale Kulturen verstehen

Der klassische Dreiklang zum Verständnis einer sozialen Kultur hat sich damit verschoben:

Boomer, Gen-X, Gen-Y
  1. Wofür bekommt man Anerkennung? → Für Leistung, Belastbarkeit und Anpassung.
  2. Worüber wird nicht gesprochen? → Über Stress, Überlastung oder psychische Probleme.
  3. Was ist verboten oder wird sanktioniert? → Fehlzeiten, mangelnde Leistung, Fehler durch Schwächen.
Gen-Y
  1. Wofür bekommt man Anerkennung? → Für Krankheit, Verletzlichkeit, Unangepasstheit.
  2. Worüber wird nicht gesprochen? → Weniger über Leistung und Erfolge.
  3. Was ist verboten oder wird sanktioniert? → Krankheiten, Schwächen oder Opferhaltungen zu kritisieren ist zwar nicht verboten, wird aber sozial stark sanktioniert. Stichwort: Bodyshaming

Fazit:

Um aus der Zwickmühle herauszukommen, einerseits Leistung zu fördern und andererseits echte Hilfsbedürftigkeit anzuerkennen, können Führungskräfte folgendes tun:

  1. Analyse der Anliegen: Unterscheiden Sie zwischen einer echten Hilfsbedürftigkeit, Krankheit als Drohung und einem Leiden, um Aufmerksamkeit zu generieren.
  2. Psychologische Sicherheit statt psychologische Bequemlichkeit: Letztlich geht es immer um Hilfe zur Selbsthilfe. Verabschieden Sie sich von der Retter-Rolle: Wer vermeintlichen Opfern dauerhaft hilft, macht sie unmündig. Wenn Mitarbeiter*innen sagen „Ich kann das nicht“, kann das auch bedeuten „Ich will das nicht alleine machen“.
  3. Verantwortlichkeiten klären: Menschen dürfen Fehler machen und Zweifel äußern. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht auch Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen müssen. Wer genau weiß, wofür er oder sie zuständig ist und welche Rolle er oder sie im Team einnimmt, kann sich weniger leicht aus seiner Verantwortung stehlen.
  4. Verletzlichkeit statt Leiden: Eine moderne Führung löst den vermeintlichen Widerspruch zwischen Opferhaltungen und Leistung auf, indem sie Verletzlichkeit anerkennt und gleichzeitig Leistung einfordert. Verletzlichkeiten fördern die Teambindung, weil die Schwächen des einen durch die Stärken des anderen kompensiert werden. Dafür braucht es einerseits einen offenen Umgang mit Schwächen, andererseits aber auch den Stolz auf die eigenen Stärken, um die Schwächen anderer aufzuwiegen.