Schlagwort-Archiv: Kommunikation

Vom Ausstoß zur Resonanzgesellschaft – Ein geschichtlicher Abriss zum Umgang mit persönlichen und gesellschaftlichen Konflikten und ein utopischer Blick in die Zukunft

https://de.freepik.com

1. Gemeinschaft und Ausstoß (ca. 10.000 v. Chr. – 1.000 v. Chr.)

In frühen Jäger- und Sammlergruppen war das Zusammenleben überlebenswichtig. Wer gegen soziale Normen durch Diebstahl, Gewalt oder Verrat verstieß, wurde oft ausgestoßen oder geächtet.

2. Das Prinzip der Ehre und Duelle (ca. 1.500 – 1.800 n. Chr.)

In der europäischen Frühneuzeit wurden persönliche Konflikte v.a. in der Hochkultur schnell zur Frage der Ehre, die mit Hilfe eines Duells wieder hergestellt werden sollte. In Frankreich wurden Duelle zwar 1626 offiziell verboten. Dennoch fiel noch 1829 der russische Dichter Alexander Puschkin einem Duell zum Opfer.

3. Vernunft und Verhandlung (18. – 20. Jahrhundert)

Mit der Aufklärung verschoben sich gewaltvolle Konfliktlösungen hin zu Verhandlungen und juristischer Klärung. Gerichte und Schiedsverfahren förderten die Gleichberechtigung in Streitfragen. Im Alltag entstanden parallel dazu bürgerliche Tugenden wie Toleranz und Zivilität. Produktiv zu streiten wurde zu einem zivilisatorischen Lernprozess.

4. Öffentliche Bühne und Medien (20. Jahrhundert)

Mit Presse, Radio und Fernsehen wurden Konflikte zunehmend Teil einer öffentlichen Inszenierung. Moralische Streitigkeiten fanden ihren Weg von privaten Haushalten und Straße in Talkshows. Skandale von Personen öffentlichen Interesses wurden medial genüsslich ausgebreitet, inklusive öffentlicher Statements, Entschuldigungen, Abgrenzung und Empörung gegenüber den betreffen Personen.

5. Digitale Ächtung und Cancel Culture (21. Jahrhundert)

Seit den 2010er-Jahren dezentralisierte die Digitalisierung die soziale Ächtung:

  • Im Internet treten Nutzer*innen sowohl als Konsument*innen als auch als Produzent*innen auf. Damit werden nicht nur Konflikte von Personen öffentlichen Interesses kommuniziert, sondern von jedem und jeder.
  • Digitale Medien ermöglichen eine kollektive Konfliktbewertung in Echtzeit. Das Internet bietet eine riesige Bühne als Konfliktverstärker, auf der nicht nur Beteiligte, sondern auch Unbeteiligte ihre Meinung äußern können.
  • Begriffe wie „Cancel Culture“ (ab ca. 2017) beschreiben moderne Formen einer digitalen Sanktionierung. Der soziale Ausschluss von früher verlagerte sich ins Virtuelle, mit teilweise ebenso existenziellen Folgen. Wie der Philosoph Robert Pfaller sagt: Wir leben nicht mehr ausschließlich in einer Leistungsgesellschaft, sondern auch wieder in einer Schamgesellschaft. Ehre erscheint heute wieder wichtiger als während der Aufklärung.

6. Vom Canceln zur Resonanz – Ein Blick in die Zukunft

Wie könnte es weitergehen? Finden wir zu einem neuen aufgeklärten Umgang mit Konflikten zurück? Oder weitet sich das gegenseitige Canceln aus und die Gesellschaft zersplittert sich in kleine Stämme, die nicht mehr miteinander sprechen?

Empathische Vernunft

Anstatt einer rein rationalen Neuauflage der Aufklärung könnte eine andere Form von Vernunft entstehen:

  • Im Zeitalter von Fakenews und Wissensschaftskritik reicht es nicht mehr aus, sich lediglich auf Argumente zu konzentrieren.
  • Die kommende Vernunft sollte stattdessen empathische Züge annehmen: Widerspruch muss keine Ablehnung oder gar Ausschluss bedeuten, sondern kann ein anderer Teil von Beziehung sein.
  • Künstliche Intelligenz und Datenethik könnten (und sollten) uns dabei helfen, kollektive Empörungen zu kontextualisieren: „Diese Aussage stammt aus 2020, am Anfang der Corona-Pandemie, als noch wenige Informationen über das Virus vorhanden waren.“

Auswählen statt Canceln

Im Internet treffen sich verschiedene soziale Blasen, die bislang in den analogen Stammtischen getrennt waren. Dadurch entstehen Konflikte, die früher nicht entstanden bzw. über Parteien kanalisiert wurden:

  • In einer überfordernden Informationswelt werden Menschen langfristig lernen müssen, nicht mehr zu allem Stellung zu beziehen, sondern bewusster auszuwählen.
  • Da die digitale Welt nicht vergisst, muss zudem niemand sofort auf eine Äußerung reagieren. Stattdessen fassen K.I.-gesteuerte Plattformen die soziale Reputation einer Person langfristig zusammen. Was auf den ersten Blick bedrohlich wirkt, kann auf den zweiten Blick als Regulator fungieren, um Diskussionen zu befrieden und eine neue Zivilität herzustellen.
  • Anstatt zu Canceln gilt es folglich, wieder ein Mindestmaß an ziviler Kinderstube, basierend auf Toleranz und Respekt herzustellen.
  • Plattformen können zusätzlich Feedbackräume schaffen, die mehr auf Reparatur als auf Strafe setzen, indem sie digitale Mediationsräume anbieten oder KI-gestützte Deeskalationen einsetzen.

Retro-Stämme, Zersplitterungen und Neu-Gruppierungen

Wenn wir an X denken oder allgemein die gesellschaftliche Entwicklung in den USA, zeigt sich bereits der Ansatz von Retro-Stämmen in der Gesellschaft:

  • Meinungsgruppen ziehen sich in digitale Stämme mit gemeinsamen Werten und einer gemeinsamen Sprache zurück, wodurch in einem Zwischenschritt Parallelgesellschaften mit je eigener Moral entstehen.
  • Weil der Mensch jedoch nicht nur eine Sehnsucht nach Gruppenzugehörigkeit hat, sondern auch zu Abgrenzung neigt, verlagern sich Konfliktgespräche in die Retro-Stämme, wodurch es innerhalb eigentlich einheitlicher Meinungs-Gruppen zu weiteren Unterteilungen kommt.
  • Wenn externe Feindbilder nicht aufrecht erhalten bleiben, bietet diese zunehmende Zersplitterung der Stämme die Chance auf neue Begegnungen außerhalb der eigenen Meinungsblase.

Langfristige Utopie: Die „Resonanzgesellschaft“ (nach Hartmut Rosa)

Betrachten wir die menschliche Geschichte, liegt es nahe, Konflikte als zentrales Element des sozialen Zusammenlebens zu betrachten. Es gibt immer etwas zu verhandeln, sei es über materielle Güter, die Zukunft der Welt, den eigenen Status, soziale Aufmerksamkeit oder moralische Vorstellungen. Es stellt sich also weniger die Frage, wie viele Konflikte wir in der Zukunft haben werden, sondern vielmehr, wie wir Konflikte in unser Leben integrieren. Gemäß der Resonanztheorie nach Hartmut Rosa lassen sich Konflikte nicht nur als Angriff, sondern auch als Möglichkeit begreifen, gegenseitig an Widerspruch zu wachsen, was sich bereits bei Nietzsche oder Hannah Arendt nachlesen lässt:

  • Konflikte bieten damit immer auch das Potenzial, über die eigenen Positionen und Meinungen nachzudenken und sich weiterzuentwickeln.
  • Konflikte symbolisieren entsprechend eine besondere Form der Verbindung zwischen zwei Menschen oder Gruppen. Manche Gruppen wie Arbeitgeber vs. Arbeitnehmer, Christen vs. Moslems, Rechte vs. Linke usw., definieren sich förmlich über die Abgrenzung zu ihrem Gegenüber, weshalb der Politikwissenschaftler Ralf Langejürgen empfiehlt, sich in Konflikte zuerst zu entfaszinieren, bevor eine neue positiv aufeinander bezogene Beziehung wieder möglich ist.

Wer bislang glaubte, dass alles immer schlimmer wird:

  1. Es ist noch nicht so lange her, dass wir uns aufgrund unserer Ehre duellierten.
  2. Wenn sich auf Plattformen wie X nur noch einheitliche Meinungsträger*innen treffen, könnte dies schnell langweilig werden.
  3. KI muss nicht unser Feind sein, sondern kann Informationen kontextualisieren, um Aussagen ins richtige Licht zu rücken.
  4. Eine neue KI-Reputation, die sich freilich auch kritisch betrachten lässt, könnte zu einer neuen Zivilität führen.
  5. Sinnloser Streit macht irgendwann einmal müde, weshalb eine gezielte Auswahl von Stellungnahmen mittelfristig unumgänglich erscheint.

In diesem Sinne: Es wird nicht alles gut, sondern (wie immer) anders.

Von der Tabuisierung zur Inszenierung – Krankheit als neues Statussymbol

1. Verletzlichkeit als neue Währung

In klassischen kapitalistischen Kulturen erhielt man Anerkennung für Leistung, Stärke und Kontrolle. In der gegenwärtigen, postheroischen Kultur dagegen ist Authentizität und Verletzlichkeit eine neue Währung.

Damit entsteht eine neue Statuslogik: Nicht der Gesunde, Erfolgreiche oder Schöne steht im Zentrum, sondern der, der offen über sein Leiden spricht.

Lange Zeit galt Krankheit – besonders psychische – als etwas, worüber man schweigt. Krankheit bedeutete Schwäche, Scham und Kontrollverlust und damit etwas, das überhaupt nicht in unsere neoliberale Leistungsgesellschaft passt.

Dieses Schweigen prägte Familien genauso wie Organisationen und ganze Gesellschaften. Wer in Unternehmen psychisch war sprach nicht darüber, sondern schob lieber eine physische Krankheit vor.

In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich diese kulturelle Logik radikal verschoben. Heute wird über Depression, Angststörungen, ADHS, Burnout oder Autismus öffentlich gesprochen – in Talkshows, Podcasts und auf sozialen Medien. Diese neue Offenheit ist zunächst ein Fortschritt: Sie bricht Tabus, befreit von Scham und ermöglicht vielen Menschen, Hilfe zu suchen und Solidarität zu erfahren.

Doch gerade im Kontext sozialer Medien hat diese Entwicklung eine beunruhigende Wendung genommen, als wäre etwas aus dem Lot geraten. Anstatt einem Zuwenig haben wir jetzt ein Zuviel des Ganzen.

2. Die Logik der Sichtbarkeit

Plattformen wie TikTok oder Instagram belohnen als Aufmerksamkeitsmaschinen starke Emotionen, Mut und Individualität – je persönlicher und radikaler, desto besser.
In dieser Logik wird das Private gleichzeitig politisch und marktfähig. Der eigene Körper, die eigene Geschichte und sogar das eigene Leid werden zu Kommunikationsvehikeln.

Dadurch entsteht eine paradoxe Dynamik: Was früher tabu war, erhöht heute den eigenen gesellschaftlichen Status und verschafft damit Reichweite. Krankheit wird nicht mehr versteckt, sondern gezeigt – manchmal sogar ästhetisch inszeniert, mit sanften Filtern, Hintergrundmusik und emotionaler Erzählung. Krankheit wird in der kapitalistischen Logik zu einer Ware, die mit anderen Krankheiten um Aufmerksamkeit kämpft.

Damit geht es jedoch nicht mehr darum, sich einem kranken Menschen empathisch zu widmen, was eher in einem kleinen, sensiblen Kreis gelingt, sondern einem kranken Menschen lediglich für den Mut seines Outings in der Öffentlichkeit zu applaudieren.

3. Die Ambivalenz des Fortschritts

Diese Entwicklung hat zwei Gesichter:

  • Emanzipatorisch: Sie bricht Schweigen, schafft Bewusstsein und ermöglicht Solidarität durch Sichtbarkeit.
  • Problematisch: Sie kann dazu führen, dass Krankheit langfristig durch eine inflationäre Benutzung entwertet wird.

Wer sich und seine Sichtbarkeit v.a. über eine Krankheit oder Schwächen definiert, riskiert, in einer „Identität des Leidens“ stecken zu bleiben. Der Philosoph Byung-Chul Han würde sagen: In der „Transparenzgesellschaft“ wird alles Sichtbare zum Wert – selbst das, was eigentlich Intimität verlangt.

Damit bekommen Krankheit und Leiden zwar Aufmerksamkeit, es findet jedoch keine Heilung statt, weil Heilungsprozesse langsamer ablaufen und oftmals weit weniger spektakulär sind als Krankheiten. Heilungen fehlen das Affizierende, um auch weiterhin spannend zu sein.

Das gleiche gilt auch für andere Themen: Ein Absturz auf Drogen generiert wesentlich mehr Aufmerksamkeit als ein Treffen bei den Anonymen Alkoholikern.

4. Übertragung auf Unternehmen

In meiner Arbeit mit Führungskräften erlebe ich gerade drei Dimensionen:

  1. Das Sprechen über Krankheiten und Belastungen als echten Fortschritt
  2. Das Kokettieren mit Krankheit und Leiden, um Aufmerksamkeit zu generieren.
  3. Das Drohen mit Krankheit aus Mitarbeiterseite, wenn ihnen etwas nicht passt.

Anscheinend bekommen wir niemals das Gute ohne entsprechende Nebenwirkungen.

4.1 Psychologisierung der Arbeitswelt

Bis vor einigen Jahren galt noch: Wer sich als Opfer der Umstände zeigte, riskierte einen Gesichtsverlust oder Ausschluss aus der Gemeinschaft. Nur die Harten kommen in den Garten. Hier fehlte zwar häufig die emotionale Intelligenz in der Führung, es führte aber dazu, dass Selbstmitleid zumindest sozial nicht belohnt wurde.

Im gegenwärtigen kulturellen Klima – geprägt durch eine neue Sensibilität, psychologische Sprache und ehrliche Selbstoffenbarungen – wird auch in Unternehmen anders mit Schwächen umgegangen:

  • Verletzlichkeit gilt als authentisch.
  • Überforderung gilt als menschlich.
  • Opferstatus kann sogar moralische Autorität verleihen („Ich leide, also habe ich Recht“).

Das ist zunächst auch hier eine Emanzipation weg von einseitigen Leistungs-Idealen. Der gute Ansatz, Krankheiten und Schwäche aus der Tabuzone zu befreien, kippt jedoch um, wenn Verletzlichkeit zur Identitätsstrategie wird:

  • Mitarbeiter*innen sehen dann nicht mehr, was sie alles leisten, sondern betonen Überlastungen, fehlende Ressourcen oder „toxische Strukturen“.
  • Führungskräfte äußern Resignation: „Man kann ja eh nichts ändern.“
  • Ganze Teams entwickeln eine Kultur der Selbstentlastung: Schuld sind immer „die da oben“ oder „das System“.

Die Folge ist eine Art strukturelle Erschöpfungskultur. Das in Maßen sinnvolle Instrument des kollektiven Jammerns und Beschwerens wirkt nicht mehr entlastend, sondern verstärkt im Gegenteil die kollektive Belastung, weil das Positive nicht mehr gesehen wird.

Aus diesem Grund baue ich seit einiger Zeit in meine Seminare einen Hoffnungsquellen-Block ein:

Aus der (politischen) Aktivismus-Forschung lässt sich lernen:

  • Wer sich nicht dauerhaft in Frustrationen verlieren will, sollte auch sehen, was bereits erreicht wurde.
  • Gleichzeitig gilt es zu reflektieren, mit welchen Aktionen, Maßnahmen oder Haltungen die Ziele erreicht wurden, um zu wissen, wie neue Ziele angegangen werden sollten.

Der Philosoph Robert Pfaller würde sagen: Wir müssen wieder lernen, Lust an unserer Beute zu haben.

4.2 Opferhaltungen als Selbstdefinition

In vielen Unternehmen lässt sich heute eine subtile Kultur der Opferhaltung beobachten. Sie zeigt sich dort, wo Menschen Verantwortung abgeben, weil sie sich als Getriebene der Umstände erleben – „zu viel Arbeit“, „zu wenig Ressourcen“, „zu viele Veränderungen“. Diese Haltung ist menschlich verständlich, aber kulturell folgenreich: Sie legitimiert Stillstand.

Im Spannungsfeld zwischen dem Wunsch, weniger Belastung zu spüren, und der Angst vor Neuem entsteht eine paradoxe Dynamik. Einerseits wird Veränderung abgelehnt, weil sie Unsicherheit bedeutet. Andererseits wird Überforderung beklagt, weil alles so bleibt, wie es ist. Das Resultat ist eine kollektive Selbstentlastung: Man leidet lieber passiv unter dem System, als aktiv Verantwortung zu übernehmen, es zu gestalten.

So wird aus dem „Ich kann nicht“ ein „Ich muss nicht“.
Und aus berechtigtem Schutzbedürfnis entsteht schleichend eine Kultur der Ohnmacht, die sich unter dem Deckmantel der Erschöpfung selbst reproduziert.

In Verbindung mit der kulturellen Akzeptanz nicht nur von Krankheit und Verletzlichkeit, sondern auch von Leiden, befinden sich Führungskräfte hier in einer Zwickmühle: Einerseits müssen Sie Leistung fördern, um ihren Auftrag zu erfüllen. Andererseits ist es mittlerweile ein Tabu, Schwächen zu kritisieren und Krankheiten infrage zu stellen.

4.3 Krankheit als Machtinstrument

Zusätzlich wird in Unternehmen Krankheit heutzutage als Druckmittel eingesetzt: „Wenn ich nicht bekomme, was ich will, bin ich morgen krank.“

Dies wird durch eine deutliche Verschiebung von einem Arbeitgeber- zu einem Arbeitnehmermarkt ermöglicht: Mitarbeiter*innen wissen ihre neue Macht zu nutzen.

Auch hier zeigt sich, dass Krankheit nur vermeintlich ein Makel ist, sondern aus der Tabuzone heraus geholt wurde, um als Druckmittel eingesetzt zu werden, was Führungskräfte in eine schwierige Situation bringt: Die Krankheit an sich darf ich nicht kritisieren, auch wenn ich weiß, dass sie im Grunde nicht existent ist.

Die Parallelen zur skizzierten gesellschaftlichen Kultur liegen auf der Hand: Auf TikTok gilt Krankheit mittlerweile als Statussymbol. In Unternehmen wird sie als Symbol der Stärke und des Mutes eingesetzt. Krankheit ist kein Tabu mehr. Während früher ein Mitarbeiter „heimlich“ krank wurde, wird heute offen damit gedroht.

4.4 Soziale Kulturen verstehen

Der klassische Dreiklang zum Verständnis einer sozialen Kultur hat sich damit verschoben:

Boomer, Gen-X, Gen-Y
  1. Wofür bekommt man Anerkennung? → Für Leistung, Belastbarkeit und Anpassung.
  2. Worüber wird nicht gesprochen? → Über Stress, Überlastung oder psychische Probleme.
  3. Was ist verboten oder wird sanktioniert? → Fehlzeiten, mangelnde Leistung, Fehler durch Schwächen.
Gen-Y
  1. Wofür bekommt man Anerkennung? → Für Krankheit, Verletzlichkeit, Unangepasstheit.
  2. Worüber wird nicht gesprochen? → Weniger über Leistung und Erfolge.
  3. Was ist verboten oder wird sanktioniert? → Krankheiten, Schwächen oder Opferhaltungen zu kritisieren ist zwar nicht verboten, wird aber sozial stark sanktioniert. Stichwort: Bodyshaming

Fazit:

Um aus der Zwickmühle herauszukommen, einerseits Leistung zu fördern und andererseits echte Hilfsbedürftigkeit anzuerkennen, können Führungskräfte folgendes tun:

  1. Analyse der Anliegen: Unterscheiden Sie zwischen einer echten Hilfsbedürftigkeit, Krankheit als Drohung und einem Leiden, um Aufmerksamkeit zu generieren.
  2. Psychologische Sicherheit statt psychologische Bequemlichkeit: Letztlich geht es immer um Hilfe zur Selbsthilfe. Verabschieden Sie sich von der Retter-Rolle: Wer vermeintlichen Opfern dauerhaft hilft, macht sie unmündig. Wenn Mitarbeiter*innen sagen „Ich kann das nicht“, kann das auch bedeuten „Ich will das nicht alleine machen“.
  3. Verantwortlichkeiten klären: Menschen dürfen Fehler machen und Zweifel äußern. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht auch Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen müssen. Wer genau weiß, wofür er oder sie zuständig ist und welche Rolle er oder sie im Team einnimmt, kann sich weniger leicht aus seiner Verantwortung stehlen.
  4. Verletzlichkeit statt Leiden: Eine moderne Führung löst den vermeintlichen Widerspruch zwischen Opferhaltungen und Leistung auf, indem sie Verletzlichkeit anerkennt und gleichzeitig Leistung einfordert. Verletzlichkeiten fördern die Teambindung, weil die Schwächen des einen durch die Stärken des anderen kompensiert werden. Dafür braucht es einerseits einen offenen Umgang mit Schwächen, andererseits aber auch den Stolz auf die eigenen Stärken, um die Schwächen anderer aufzuwiegen.

Unternehmen als Träger kultureller Kontinuität: Hoffnung über das eigene Wirken hinaus

In einer Zeit, in der neoliberale Ideale wie Konkurrenzdenken, Selbstoptimierung und kurzfristige Gewinnmaximierung ins Zentrum rückten, reduzierte sich auch die menschliche Existenz zunehmend auf das Individuum, während das Gemeinschaftliche nach und nach verkümmerte. Dieses Phänomen gilt auch in der Arbeitswelt. Früher erfüllten Unternehmen nicht nur die Funktion einer Bühne für persönliche Interessen, sondern boten auch Räume kollektiver Identität, in denen Mitarbeiter*innen Teil einer Geschichte wurden, die Generationen überdauerte.

In Zeiten des Postoptimismus westlicher Gesellschaften (Stichwort: Nullwachstum) scheint der Traum des persönlichen Aufstiegs mehr und mehr ausgeträumt. Damit einher verbindet sich die Chance, das Individuum wieder für gemeinschaftliche Ideen zu gewinnen. Wenn schon ein persönlicher Aufstieg immer weniger realistisch erscheint, wäre es fahrlässig, diese Krise nicht gleichzeitig als Chance zu sehen, darüber nachzudenken wie ein gutes (Arbeits-) Leben im Kollektiv aussehen könnte.

Da die Arbeitswelt einen zentralen Raum im Leben von Menschen einnimmt, bietet es sich an, dass Unternehmen – ähnlich wie und gleichzeitig anders als früher – (wieder) als identitätsstifte Organisationen auftreten, um die Möglichkeit eines solchen kollektiv-besseren Lebens anzubieten.

1. Historische Funktion von Tradition in Unternehmen

Früher verstanden sich viele Betriebe – von Handwerksfamilien bis zu Industriekonzernen – als Glieder einer längeren historischen Kette. Mitarbeiter*innen traten nicht nur in ein Unternehmen ein, sondern in ein Projekt, das vor ihnen begonnen hatte und nach ihnen weiterging.

Diese historische Tiefe erzeugte ein Gefühl von Sinn und Stolz, das weit über das individuelle Arbeitsleben hinausreichte. Friedrich Hegel nannte das den „objektiven Geist“: Die Arbeit des Einzelnen wurde eingebettet in ein größeres kulturelles Ganzes, das Identität stiftete und eine Hoffnung auf Fortsetzung vermittelte.

2. Der Bruch im neoliberalen Zeitalter

Wer sich wie ich intensiv mit dem Thema Hoffnung auseinander setzt, stößt zwangsläufig auch auf die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Die zentrale Aussage dieses Phänomens lautet: Auch wenn mein Leben aktuell nicht großartig ist, ich die Belastungen jedoch annehme und ein gutes Leben führe, werde ich dafür im Jenseits belohnt. Selbst die protestantische Idee der innerweltlichen Askese, die aus einem gottesfürchtigen ein fleißiges Leben machte, blieb der Belohnung im Jenseits treu.

Mit der neoliberalen Wende der letzten Jahrzehnte wurde diese Verbindung zwischen Diesseits und Jenseits durch eine Veränderung der Zeitstruktur in der Wirtschaft nach und nach unterbrochen.

Eine Zeitlang galt noch das Mantra, wir würden dafür arbeiten, dass es unsere Kinder eines Tages besser haben würden. Die historische Dimension hatte sich bereits hier vom Jenseits auf das Diesseits verlagert.

Mittlerweile gilt auch diese Verbindung nicht mehr. Nun geht es für viele Mitarbeiter*innen nur noch darum, für sich selbst zu arbeiten, nicht mehr für die eigenen Kinder und nicht mehr für die langfristige Entwicklung eines Unternehmens.

Die Unternehmen selbst sind an dieser Entwicklung freilich nicht unschuldig, können sich also nur bedingt über eine mangelnde Bindung an ihr Unternehmen beklagen, da langfristige Perspektiven durch Projekt- und Quartalslogiken ersetzt wurden. Unternehmen verloren ihre Selbstdefinition als kulturelle Institutionen und wurden zu temporären Aggregaten von Kapital und Effizienz. Nun ging es nicht mehr um eine gemeinsame kulturelle Identität, in der zusammen Ideen umgesetzt wurden, worauf die Mitarbeiter*innen stolz waren, sondern um das Erreichen von Projekt- und Jahreszielen. Smarte Ziele ersetzten Werte. Leistung wurde wichtiger als Zugehörigkeit.

Die emotionale Bindung zwischen Mensch und Organisation zerfiel aufgrund der Austauschbarkeit: Der Stolz auf eine gemeinsame Tradition verschwand. Die Hoffnung auf eine langfristige Kontinuität, in der einzelne Mitarbeiter*innen lediglich Teilziele im großen Ganzen als Vorarbeit für ihre Nachfolger*innen erfüllen müssen, um zufrieden zu sein, wurde durch kurzfristige Ziele ersetzt.

3. Wege zu einer neuen kulturellen Identität

In die alte Welt zurück zu kehren ist freilich weder möglich noch sinnvoll. Die Welt lässt sich schließlich nicht zurück drehen. Immerhin erhöht die kulturelle Herauslösung des Individuums aus kollektiven Kontexten die Flexibilität sowohl von Unternehmen als auch von Mitarbeiter*innen, um auf einem globalen Markt einzustellen und aufzutreten. Gleichzeitig lässt sich auch auf Distanz Bindung durch eine kollektive Identität herstellen, die über das eigene Ego hinaus geht. Damit wiederum wird nicht nur eine historisch-kollektive Identität aufgebaut, sondern auch der Druck von einzelnen Personen genommen: „Du musst die Welt nicht alleine retten. Es reicht, wenn du ein Teil unseres Welt-Verbesserungs-Projekts bist.“

a) Erzählung statt Image

Unternehmen brauchen (wieder) eine narrative Identität, die nicht nur Produkte oder Marken bewirbt, sondern Bedeutung stiftet. Geschichten über Werte, Handwerk, Verantwortung und Gemeinschaft eröffnen eine symbolische Dimension, die über die bloße Gegenwart hinausweist.

Ein Beispiel:Das Unternehmen Faber-Castell betont seine über 250-jährige Tradition und die Verbindung von Handwerk, Kreativität und Nachhaltigkeit. Mitarbeiter*innen sehen sich als Teil einer langjährigen Geschichte, die weit über ihre eigene Karriere und damit den eigenen „beruflichen Tod“ hinausgeht.

b) Zukunft als Fortsetzung der Tradition

Dabei geht es nicht darum eine museale Tradition zu verfolgen, weil früher (anscheinend) alles besser war. Vielmehr lassen sich in der eigenen Tradition die Wurzeln für zukünftige Innovationen finden. Die eigene Geschichte bietet nicht nur eine kulturelle Identität, aus ihr lässt sich auch für die Zukunft lernen.

Ein Beispiel: BMW verbindet die eigene 100-jährige Unternehmensgeschichte mit innovativer Mobilität. Design, Handwerk und Technologie werden nicht nur für den Markt entwickelt, sondern als Teil eines kulturellen Erbes verstanden. Daher gibt es eine Wertschätzung sowohl für alte fossile BMWs als Liebhaberstücke, als auch für neue Entwicklungen auf dem E-Auto-Markt. Das Alte muss daher weder verteufelt, noch glorifiziert werden, um in die Zukunft zu blicken.

c) Langfristige Verantwortung

Die Verantwortung eines Unternehmens sollte wieder verstärkt über kurzfristige Kennzahlen hinaus gedacht werden. Wer ökologische, soziale oder kulturelle Konsequenzen seines Handelns einbezieht, etabliert eine Kontinuität, die Generationen überdauert.

Ein Beispiel:Das Outdoor-Bekleidungs-Unternehmen Patagonia setzt konsequent auf ökologische Nachhaltigkeit. Die Mitarbeiter*innen wissen, dass ihr Handeln langfristige Auswirkungen auf Umwelt, Gesellschaft und kommende Generationen hat. Diese Denkweise ist das klare Signal einer Hoffnung, dass das persönliche Wirken über das eigene Leben hinaus geht.

d) Gemeinschaft statt Marktlogik

Hoffnung entsteht dort, wo Menschen sich als Teil eines größeren Wir erleben. Unternehmen können dies fördern, indem sie Zusammenarbeit, Solidarität und kollektive Aufgabenstrukturen bewusst gestalten.

Aus diesem Grund reflektiere ich in meinen Seminaren regelmäßig die Belohnungskultur der Unternehmen meiner Führungskräfte:

  • Wofür bekommen eure Mitarbeiter*innen Lob und Anerkennung? Wenn sie sich abgrenzen und nur für sich arbeiten? Wenn sie bringen? Oder wenn sie eigene Aufgaben hinten anstellen und andere unterstützen?
  • Wann hat jemand einen hohen Status und wird von anderen bewundert? Wenn jemand sich um seine eigene Karriere kümmert oder sich für andere einsetzt?

Ein Beispiel: Die dänische Firma Novo Nordisk pflegt ein starkes internes Gemeinschaftsgefühl, das über reine Profitziele hinausgeht. Initiativen wie gemeinsame Gesundheitsprojekte oder gesellschaftliches Engagement vermitteln den Mitarbeiter*innen einen Sinn jenseits individueller Karriereziele.

4. Unternehmen als Sinn ermöglichende Mit-Welt

Philosophisch betrachtet ist das Unternehmen nicht nur eine Produktionsgemeinschaft, sondern auch und vor allem als Mit-Welt ein Raum, in dem Menschen Sinn, Wirkung und Verantwortung erfahren:

  • Ich mache etwas, das anderen Menschen das Leben verbessert oder erleichtert.
  • Würde ich dies nicht tun, wäre die Welt ärmer.
  • Gleichzeitig ist mein Schaffen lediglich ein Teil von etwas Größerem.
  • Mein Unternehmen bietet mir einen Rahmen, in dem dieses Größere zusammen mit anderen ermöglicht wird.
  • Dadurch dass mein Unternehmen langfristig agiert, wird es auch nach meinem beruflichen Ausscheiden noch da sein und weiterhin Großes leisten. Ich selbst kann meinen Beitrag dazu leisten.
  • Wenn ich eines Tages dieses Unternehmen verlasse, reiche ich den Staffelstab weiter, damit mein Wirken weiter geht.

Der Philosophin Hannah Arendt zufolge bedeutet Handeln, einen Anfang zu machen, dessen Folgen unabsehbar sind. Unternehmen, die dies ernst nehmen, erlauben Mitarbeiter*innen, ihren Beitrag zu einer Zukunft zu leisten, der größer ist als sie selbst. So wird Arbeit zur Praxis des jenseitigen Hoffens, nicht in einem metaphysischen Jenseits, sondern in einem sozialen, kulturellen und ökologischen Kontinuum.

Fazit und Ausblick

Die Wiedergewinnung kultureller Identität in Unternehmen ist nicht nostalgisch, sondern erscheint in einer Zeit hoher Fluktuation und schwindender Bindungen existenziell notwendig. Sie eröffnet Räume für eine gestalterische Hoffnung, die nicht im Ego endet, sondern über Generationen hinaus wirkt. Die Wiederentdeckung einer kulturellen Identität schafft damit zweierlei:

  1. Sie gibt Menschen das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein, wodurch sie die Motivation in Zeiten abnehmenden Engagements in Unternehmen wieder erhöht.
  2. Sie befreit den Menschen aus der Denkweise, nur für sich selbst verantwortlich und damit auch Schuld an Problemen zu sein.

Die konkreten Beispiele zeigen, dass Tradition, Verantwortung, Gemeinschaft und Innovation keine Gegensätze sein müssen, sondern Hand in Hand gehen, wenn Unternehmen (wieder) zu Orten werden, an denen Menschen erkennen, dass ihr Tun Bedeutung in der Welt hat. In einer Welt, die neoliberale Effizienz oft über alles stellt, liegt darin die größte Form menschlicher Hoffnung: Die Hoffnung über das eigene Leben hinaus eine positive Wirkung zu haben.

Postmoderner Aufstieg

https://de.freepik.com/autor/vectorjuice

Die Gesellschaft der Moderne ist auf Aufstieg ausgerichtet. Der Mensch strengt sich an, kann sich etwas leisten, bildet sich weiter, wird eine Führungskraft und macht Karriere. Das Aufstiegsversprechen sorgte jahrzehntelang für eine hierarchische Klarheit und Motivation in Unternehmen.

Doch was passiert, wenn einerseits dieses Aufstiegsversprechen nicht mehr funktioniert und andererseits junge Menschen kein Interesse mehr an diesem klassischen Aufstiegsmodell haben?

Manifest eines neuen Aufstiegsversprechens

I. Das Ende der neoliberalen Erzählung

Über Generationen galt: Wer sich anstrengt, wird belohnt. Bildung, Fleiß und Disziplin galten als Schlüssel zum Aufstieg. Doch dieses Versprechen ist gebrochen. Nicht, weil Menschen faul geworden wären, sondern weil die Strukturen erstarrt sind. Wer oben ist, bleibt oben. Wer unten anfängt, arbeitet oft sein Leben lang gegen unsichtbare Wände.
Erbe und Herkunft zählen mehr als Einsatz und Anstrengung. Die alte Erzählung von der Leistungsgesellschaft hat damit ihre Glaubwürdigkeit verloren.

Früher war Bildung der Schlüssel, um soziale Grenzen zu durchbrechen. Heute reproduziert sie bestehende Unterschiede. Eine Freundin meiner älteren Tochter studiert in Köln. Dort hieß es: „Das Studium ist ein Vollzeitstudium. Wer meint, er könne nebenher arbeiten, um sich das Studium zu finanzieren, kann sich das abschminken. Sinnvoller ist es, zuhause bei seinen Eltern um mehr Geld zu bitten.“

Auch die Diskussion über den Sinn in der Arbeit, neudeutsch purpose, ist für viele mittlerweile eine schale Angelegenheit. In einer Gesellschaft, die Erfolg in Zahlen ausdrückt – Einkommen, Eigentum und Status – wirkt das Wedeln mit dem Sinn schnell wie ein Trostpflaster dafür, dass ein Unternehmen nicht mehr zu bieten hat.

II. Die Leere im postoptimistischen Zeitalter

Wo kein Aufstieg mehr möglich ist, entsteht Resignation. Wer nicht aufsteigen kann, grenzt sich wenigstens nach unten ab. Und wer auch darin scheitert, greift nach der Zerstörung – aus Wut, Ohnmacht oder dem Gefühl, überflüssig zu sein. Symptomatisch dafür sind Aussagen wie „Eigentlich bin ich kein Fan der AfD, aber ich will, dass die da oben einen Denkzettel bekommen“. Auf der anderen Seite gehen viele junge Menschen unter 25 nicht mehr zu Wahlen (siehe Brexit, Trump oder Bundestagswahlen → Studien der WZB, Friedrich-Ebert-Stiftung oder Bundeszentrale für politische Bildung).

Ein ähnliches Pendeln zwischen Resignation, Wut und Egoismus finden wie in Unternehmen wieder, wenn scheinbar ohne Grund sinnvolle Aufgaben abgelehnt oder Veränderungen blockiert werden.

Erscheint jedoch der Aufstieg als Karriere nicht mehr möglich, fällt auch ein wichtiger Motivator in der Arbeit weg: „Warum sollte ich mich anstrengen, wenn es ohnehin nichts bringt? Dann reicht es auch, das Nötigste zu tun und ansonsten mein Leben zu genießen?“

Dies betrifft vor allem die neue Mittelschicht, die sich im Gegensatz zur alten Mittelschicht weniger auf Materielles verlassen kann (Stichworte: Hausbesitz, Handwerk), sondern in einer Sharing-Community groß wurde und sich mit kreativen und digitalen Tätigkeiten einen höheren Status erarbeitete (→ Andreas Reckwitz: Gesellschaft der Singularitäten). Dieser Status besitzt jedoch wenig Fundament und kann schnell schwinden, bspw. wenn eine KI den eigenen Job übernimmt. Kein Wunder, dass aktuell ein enormer Druck im Kessel ist:

  • Die Oberschicht grenzt sich ab.
  • Die alte Mittelschicht schlägt zurück, bspw. durch horrende Handwerker-Rechnungen.
  • Die neue Mittelschicht hat Angst vor dem Absturz.
  • Die Unterschicht kämpft um ihr Überleben.
  • Und viele junge Menschen weigern sich, Teil eines solchen toxischen Systems zu werden.

III. Ein neues Aufstiegsversprechen

Soll ein neues Aufstiegsversprechen wieder zu mehr Motivation in Unternehmen führen, darf es nicht mehr individuell und exklusiv sein, im Sinne von: „Ich will höher hinaus als du.“ Sondern kollektiv und inklusiv: „Wir wollen gemeinsam besser leben und zusammenarbeiten.“

Aufstieg sollte kein Wettlauf mehr sein, sondern ein Projekt kollektiver Gerechtigkeit, Sicherheit, Solidarität, Zufriedenheit, Autonomie, Sicherheit und Würde.

Tatsächlich zeigen Umfragen, dass junge Menschen v.a. deshalb nicht zu Wahlen gehen, weil sie weniger in Parteiprogrammen, sondern themenorientiert denken:

  • Klima ist wichtig, aber die Grünen sind zu elitär.
  • Solidarität ist wichtig, aber die SPD hängt noch zu sehr in der Vergangenheit und die Linke ist zu wenig liberal.
  • Autonomie ist wichtig, aber die FDP agiert lediglich wirtschaftsliberal.

Übertragen wir diese Erkenntnisse auf Unternehmen, bedeutet ein postmoderner Aufstieg:

  • dass niemand Angst vor einem gesellschaftlichen Absturz haben muss,
  • dass Bildung und Seminare kein Privileg sind, um Karriere zu machen, sondern eine Möglichkeit persönlicher Weiterentwicklung,
  • dass Arbeit Anerkennung erfährt, egal ob sie im Büro, in der Pflege oder an einer Maschine geleistet wird,
  • dass alternative Lebensläufe verstanden, respektiert und gefördert werden,
  • dass sich Wohlstand und finanzielle Sicherheit in einer guten Balance zu Freizeitzeit, Gesundheit und Sinn befinden.

Dieser qualitative Aufstieg funktioniert weniger vertikal, sondern horizontal:

  • Sinnvoll verbrachte (Arbeits-)Zeit,
  • Bildung für alle (Interessierte),
  • Gesundheit als zentraler Baustein,
  • persönliche statt verordnete Sinnsuche,
  • Gemeinschaft statt Abgrenzung,
  • Teilhabe an Unternehmensentscheidungen, wo es möglich und sinnvoll erscheint.

Fazit: Eine Zeitenwende

Es erscheint einfach, sich über die Arbeitsmoral junger Menschen zu beklagen. Schwieriger ist es, zu erkennen, dass wir aktuell mitten in einer großen Zeitenwende stehen. Noch schwieriger ist es Strukturen in Unternehmen anzupassen, damit Motivation auch für diejenigen wieder möglich ist, die nicht vertikal aufsteigen wollen. Logischerweise braucht es hier hybride Lösungen, um nicht die Mitarbeiter*innen vor den Kopf zu stoßen, die mit dem Aufstiegsmodell der Moderne groß wurden. Ein erster wichtiger Schritt wäre es jedoch, zu akzeptieren dass junge Menschen anders arbeiten wollen.

Wieviel Führung braucht der Mensch?

https://de.freepik.com/autor/brgfx

O.K. Leute. Manche von euch müssen jetzt ganz stark sein. Aber wenn wir Wissenschaft ernst nehmen (Follow the Science!) – in diesem Fall Studien über den Umgang mit Katastrophen – wird klar, dass Menschen viel weniger Führung brauchen als uns das sowohl die Politik als auch Hollywood vormachen wollen. In Wirklichkeit organisieren sich Gruppen von Menschen viel besser als uns weisgemacht wird: Sie helfen sich gegenseitig, sind weniger egoistisch als wir denken und reagieren weniger panisch als wir es aus großen Blockbustern kennen. So geordnet wie Menschen unter Druck reagieren ist fast schon langweilig.

Aber der Reihe nach …

Unser sozialer Aktivierungsmechanismus in Krisen

Geraten Menschen in eine Bedrohungssituation, passiert typischerweise Folgendes:

  • Sie erkennen ihr gemeinsames Schicksal.
  • Dadurch entsteht spontan eine geteilte soziale Identität.
  • Diese neue, gemeinsame Identität und kollektive Hoffnung auf eine Rettung aktiviert die gegenseitige Unterstützung und Koordination.

In der Katastrophen-Forschung nennt sich dieser Mechanismus „emergent social identity“.

Emergenz bezeichnet das Phänomen, dass sich aus geordneten Strukturen unter Chaos eine eigene Ordnung herausbildet, die niemand von außen steuert. Das Prinzip der Selbstorganisation ohne Führung klingt komplizierter als es ist. Wenn wir genauer hinsehen, erlebt jede*r von uns täglich solche Situationen.

Ein Beispiel: Spontane Koordination in einer Fußgängerzone

  1. Situation: Ein Gehweg ist plötzlich durch ein Hindernis blockiert (Bauarbeiten, Lieferwagen).
  2. Einzelverhalten: Jeder Fußgänger weicht intuitiv aus, sucht eine Lücke, passt seine Geschwindigkeit an oder wartet, bis es frei ist. Kinderwägen werden gemeinsam getragen. Ältere Menschen werden gestützt.
  3. Emergentes Muster: Es entsteht ein geordnetes „Fließsystem“ ohne Anordnung: Menschen teilen sich automatisch in zwei Richtungen auf, lassen andere passieren und passen ihr Tempo an. Niemand sagt „Du gehst links, du rechts“, keine Ampel regelt das Geschehen. Dennoch funktioniert das System erstaunlich reibungslos – es wirkt fast wie eine organisierte Struktur.

Führung funktioniert anders als wir denken

Wer die Cinefin-Matrix (externer Link) auf Führung überträgt, kann zu der Erkenntnis kommen,

  • dass sich einfache Aufgaben gut delegieren lassen,
  • komplizierte Aufgaben ein gutes Gruppengefüge benötigen,
  • komplexe Aufgaben Schwarmintelligenz brauchen,
  • aber unüberschaubare Situationen, also Krisen und Chaos, eine stringente Führung brauchen, bis wieder Klarheit hergestellt ist.

Fakt ist: Medial präsent sind Plünderungen, Egoismen und Regelbrecher. Auswertungen von Tausenden Überlebenden von 9/11 ergaben jedoch: Die meisten Menschen verließen die Gebäude geordnet, halfen einander, trugen Mobilitätseingeschränkte mehrere Stockwerke nach unten und warteten aufeinander, obwohl sie alleine schneller gewesen wären. Panik in Krisensituationen sind weitgehend ein Mythos.

Das Bild von panischen Menschenmassen hat sich tief in unser kollektives Gedächtnis eingeprägt und bestimmt daher auch unsere Entscheidungen und unser Wahlverhalten. Wer daran glaubt, dass Menschen in Krisen zu Plünderern werden (Bsp. Hurrican Kathrina) oder während einer Terrorattacke unkoordiniert durch die Gegend rennen, ist auch dafür, die Befugnisse von Führung jeglicher Art auszubauen. Wer darauf vertraut, dass Menschen sich gerade in Krisen gut selbst organisieren, ist ein Anhänger weitgehender Liberalität. Genau jene Liberalität, die wir brauchen, um sowohl gesellschaftlich als auch beruflich Vertrauen zueinander zu haben.

Studien im Nachgang vieler Katastrophen (Erdbeben, Brände, 9/11) konnten zeigen:

  • Es bilden sich spontan Koordinationsnetzwerke.
  • Rollen entstehen und lösen sich wieder auf.
  • Nach der Krise verschwinden diese flach organisierten Gruppen wieder oder werden formalisiert.

Die „Plünderer“ während Kathrina erwiesen sich im Nachhinein als Menschen, die für andere Menschen Essen besorgten.

Alltag- versus Krisen-Führung

Soziologische Studien zu vermeintlichem Panikverhalten legen nahe, dass Menschen im Alltag, in dem es keine unmittelbare gemeinsame Bedrohung gibt und damit eine gemeinsame Identität weniger notwendig ist, mehr Führung brauchen, weshalb Routinen, Autoritäten und klare Rollen wichtig sind, während in Krisen weniger Führung notwendig ist.

Kommt in Krisen eine Führung von außen, bspw. durch eine Autorität, der die Gruppe nicht vertraut, kann dies eine verheerende Wirkung haben. Auf gesellschaftlicher Ebene passiert dies, wenn sich Politiker*innen als Legislative oder Polizist*innen als Exekutive in die Selbstorganisation einmischen. Auf beruflicher Ebene kann ein externes Krisenmanagement mehr kaputt machen als gedacht. Daher ist es gerade in Krisensituationen hilfreich, wenn das Management der Krise von einer vertrauten Person übernommen wird.

Führung in Krisen ist also nicht ganz obsolet. Sie muss jedoch ein Teil der Gruppe sein, um Gegenwehr zu verhindern. Während in klassischen Modellen davon ausgegangen wird, dass Menschen insbesondere in chaotischen Situationen irrational handeln und von oben gelenkt werden müssen, gehen neuere Modelle davon aus, dass Führung emergent sein sollte: Eine Person oder kleine Gruppe übernimmt dann die Führung, wenn sie als Teil des „Wir“ wahrgenommen wird und glaubwürdig handelt.

Ein Beispiel: Nach dem Anschlag in der Londoner U-Bahn 2005 halfen sich Menschen spontan gegenseitig und befolgten Anweisungen der Einsatzkräfte nicht, weil sie befehligt wurden, sondern weil sie die Einsatzkräfte als ihre Leute wahrnahmen.

Zusammengefasst lässt sich daher festhalten:

Wenn das nicht Hoffnung auf die Zukunft macht?

Literatur

John Drury & Stephen Reicher (Hrsg.) – Crowds in the 21st Century: Perspectives from Contemporary Social Science (Routledge, 2012) → Überblick über moderne Crowd-Psychologie; zeigt, dass „Panik“ selten ist und Solidarität dominiert.

E. L. Quarantelli – What Is a Disaster? Perspectives on the Question (Routledge, 1998) → Klassiker; entwickelt die Idee, dass Katastrophen nicht durch Panik, sondern durch soziale Organisation geprägt sind.

Michael J. Reiss, Roz Diane Lasker, Robyn R. Gershon (Hrsg.) – World Trade Center Evacuation Study: Lessons for Emergency Preparedness
(Centers for Disease Control and Prevention / Columbia University, 2004–2006, diverse Publikationen) → Empirische Auswertung: geordnetes, solidarisches Verhalten, kaum Panik.

Dirk Helbing – Social Self-Organization: Agent-Based Simulations and Experiments to Study Emergent Social Behavior (Springer, 2012) → Quantitative Perspektive auf emergentes Verhalten, auch bei Evakuierungen und Katastrophen.