Archiv der Kategorie: Teamentwicklung

Das postmoderne Drama

Ganz ehrlich: Ich liebe die Postmoderne. Was heutzutage alles möglich ist, wäre bis vor kurzem beinahe ein Wunder gewesen:

  • Wir sprechen in Unternehmen offen über psychische Gesundheit.
  • Führungskräfte versuchen mit Mitarbeiter*innen auf Augenhöhe zu kommunizieren.
  • Ich kann in Trainingspausen bei Nicht-Wissen schnell Chatgpt fragen, um zumindest ein paar Ideen zu bekommen.

Gleichzeitig gilt nicht nur, dass wir mehr über die Funktionsweise von Maßnahmen und Systemen wissen, als wir verändern können. Wir können auch nicht mehr so tun, als wüssten wir es nicht besser.

1 Radikale Erkenntnisgewinne bei begrenzten Umsetzungsmöglichkeiten

Die Postmoderne ist geprägt von neurobiologischem Wissen, systemtheoretischen Einsichten und Erkenntnissen aus Soziologie und Organisationspsychologie, die teilweise auch schon einige Jahre auf dem Buckel haben, aber erst jetzt so richtig im Mainstream angekommen sind. Dadurch wissen wir heute ziemlich genau, dass beispielsweise Einzelmaßnahmen in Unternehmen systemisch kaum wirken, wir wissen, welche Nebenwirkungen sie haben oder dass sie oftmals sogar kontraproduktiv sind:

  • Motivations- und Mindset-Workshops ohne strukturelle Reformen führen eher zu Frustrationen, weil dadurch die Lücke zwischen persönlichen Chancen und strukturellen Hemmnissen nur noch sichtbarer werden.
  • KI-Systeme werden meist von denjenigen genutzt, die ohnehin schon gut sind, wodurch deren Produktivität noch mehr steigt, während Skeptiker und Unsichere den Anschluss verpassen.
  • Die Arbeit im Homeoffice reproduziert nicht nur gesellschaftliche Privilegien, sondern kommt v.a. denjenigen entgegen, die ohnehin schon selbstorganisiert arbeiten und die ohne Störungen von Kolleg*innen jetzt noch schneller werden, während die Unorganisierten in der Luft hängen.

Die Liste ließe sich endlos fortführen:

  • Wer geht am liebsten auf externe Fortbildungen? Diejenigen, die es brauchen könnten oder diejenigen, die ohnehin schon gut sind und sich damit langfristig aus dem Unternehmen fortbilden?
  • Selbst die simple Frage, wer eine Aufgabe übernehmen will, erweitert oftmals die Kompetenz-Schere, weil sich darauf diejenigen melden, die sich das zutrauen und sich damit noch mehr weiterentwickeln.

Wir wissen also, dass Einzelmaßnahmen ohne strukturelle Veränderungen das aktuelle Probleme der Leistungs- und Verantwortungs-Schere eher noch verstärken. Gleichzeitig wissen wir aber auch, dass Systeme träge sind, starke Selbststabilisierungsmechanismen haben und sich einer stringenten Steuerung entziehen.

Daraus zu schlussfolgern, dass es am besten wäre, die Dinge laufen zu lassen, kann jedoch auch keine Lösung sein, wenn wir hoffnungsvoll und ernsthaft etwas verbessern wollen. Weil also echte Systemveränderung schwierig ist, machen wir das, was kurzfristig möglich ist:

  • Themenspezifische Trainings, Coachings und Mediationen
  • Etablierung von KI-Tools als Assistenz
  • Anpassung von Arbeitsmodellen in Richtung mobiles Arbeiten
  • Führungscurricula und Kompetenzprogramme

Wohl wissend, dass auch hier in den meisten Fällen gilt: Diejenigen, die offen für solche Maßnahmen sind, profitieren am meisten davon, wodurch Ungleichheiten evtl. verschärft werden.

2 Konsequenzen für Organisationen und Führungskräfte

2.1 Maßnahmen nicht isoliert durchführen, sondern als Paket

Weil beinahe jede Einzelmaßnahme Nebenwirkungen erzeugt, sollten flankierend immer strukturelle Veränderungen mitgedacht werden.

Am Beispiel KI-Nutzung:

  • KI-Recherchen greifen logischerweise auf vorhandene Daten zurück. Wurden diese Daten jedoch aus einer bestimmten Sichtweise verfasst, wird durch die Nutzung der Daten diese Sichtweise verstärkt (Stichwort: Bias). Einfach formuliert: Wird auf Daten zurückgegriffen, die nur von weißen Männern zwischen 25 und 30 Jahren verfasst wurden, braucht es eine diverse Gruppe, um diese Daten zu bewerten.
  • Der Zugang zu KI-Tools sollte allen zugänglich sein.
  • Es braucht ein Mentoring für weniger digital-affine Gruppen.

2.2 Kleine kulturelle Veränderungen

Um Abhängigkeiten von individuellen Kompetenzen zu verhindern, braucht es gleichzeitig kleine Eingriffe, die jedoch langfristig den kulturellen Rahmen verändern können:

  • Transparente Beförderungskriterien statt rein informellen Entscheidungen
  • Standardisierte Kompetenzprogramme und Führungscurricula anstatt individuellen Leistungsbeurteilungen
  • Interne (Pflicht-)Seminare für alle anstatt freien Weiterbildungsbudgets, die nur wenige nutzen
  • Rotationsprogramme, um Wissen und Chancen fair zu verteilen

2.3 Reflexive Führung fördern

Postmoderne Organisationen brauchen Führungskräfte, die verstehen, dass Maßnahmen Nebenwirkungen haben, Verantwortung immer geteilt werden sollte und sie daher häufig kontraintuitiv handeln sollten:

  • Diejenigen zu Fortbildungen schicken, die keine Lust haben.
  • Aufgaben an diejenigen verteilen, die etwas noch nicht können.
  • Und diejenigen zurück pfeifen, die nur allzu gerne neue Aufgaben übernehmen.

Sie sollten daher immer die langfristige Perspektive mitdenken:

  • Kurzfristig ist es sinnvoll, Aufgaben an bereits kompetente Mitarbeiter*innen zu verteilen, weil es Zeit spart und die Qualität vermutlich passt.
  • Langfristig ist es sinnvoller, genau das Gegenteil zu tun, um Kompetenz- und Verantwortungsverhältnisse zu verändern.

Mir ist vollkommen klar, dass damit ein riesiger Aufwand einhergeht, gerade weil die Zeit dafür im Grunde nicht zur Verfügung steht. Dennoch ist das Wissen um diese Effekte hilfreich, um zumindest in manchen Fällen kontra-intuitiv zu handeln.

2.4 Individuen nicht nur fördern, sondern auch unterstützen

Damit Einzelmaßnahmen die soziale Schere nicht noch weiter vergrößern, sollten Individuen nicht nur gefördert, sondern auch strukturell entlastet werden:

  • Lernzeit und Ressourcen garantieren: Wer KI-Tools, Wissen aus Seminaren oder Homeoffice nutzt, braucht Lernzeit, einen guten Zugang und Unterstützung.
  • Psychologische Sicherheit als Grundbedingung: Wer den Anschluss an die „early adopter“ nicht verpassen will, braucht das klare Signal aus der Führungsriege: „Es ist OK, etwas auszuprobieren und Fehler zu machen.“
  • Orientierung bieten statt nur auf Eigenverantwortung zu setzen: Das neoliberale Denken überfordert Mitarbeiter*innen oft mit Appellen wie „Du musst dich selbst entwickeln, wenn die den Anschluss nicht verpassen willst“ oder konkreter „Du musst KI nutzen“ oder „Du musst Verantwortung übernehmen“. Im Sinne einer kollektiv lernenden Organisation ist es sinnvoller, klare Lernpfade zu definieren und flankierende niederschwellige und verbindliche Hilfsangebote zu schalten.

3 Vom individuellen zum solidarischen Optimismus

3.1 Das Problem des traditionellen Optimismus

Damit stellt sich auch die Frage, ob wir uns den klassischen, individuellen Optimismus noch leisten können?

Der traditionelle Optimismus lautet: „Wir schaffen das, wenn wir uns anstrengen.“ Das klingt auf den ersten Blick motivierend, ist jedoch systemisch betrachtet problematisch:

  • Für Optimist*innen ist die Entscheidung für oder gegen eine Veränderung bereits abgeschlossen. Sie denken bereits an deren Umsetzung, während Skeptiker*innen noch mit der Entscheidung hadern.
  • Manche Pessimist*innen sehen sich selbst als wertvolle Ressource, indem sie auf mögliche Fehlentwicklungen hinweisen, was jedoch selten gerne gehört wird.
  • Andere Pessimist*innen haben Angst vor Veränderungen und sind deshalb kritisch. Auch damit vergrößert sich die Wissens- und Kompetenz-Lücke zu den Optimist*innen.
  • Optimist*innen nutzen Einzelmaßnahmen wie Coachings oder Seminare schneller und häufiger.
  • Da Unternehmen grundsätzlich dafür da sind, Veränderungen positiv anzugehen – alles ändere wäre paradox – kann die Illusion entstehen, dass Probleme im Grunde individuell vorhanden und folglich auch individuell zu lösen sind.

Dabei wird meistens vergessen, dass Skepsis heute oft die realistischere Sichtweise ist, sofern Pessimismus nicht pauschal bedeutet, dass alles immer schlimmer wird, sondern dass jede Veränderung neben einem positiven Effekt auch negative Nebenwirkungen nach sich zieht. Dies wiederum ist kein Argument gegen Veränderungen, sondern ein Argument für wohldurchdachte Veränderungen.

3.2 Prinzipien eines solidarischen Optimismus

Aus diesen Gründen können wir uns den klassischen, indivuellen und damit spalterischen Optimismus nicht mehr leisten. Stattdessen brauchen wir eine postmoderne Form des Optimismus, die nicht individuell überhöht und moralisiert (Sei doch optimistisch!), sondern einen Austausch, in dem sowohl die Optimist*innen als auch die Pessimist*innen voneinander lernen. Bezogen auf den Optimismus sprechen wir hier von einem relationalen oder solidarischen Optimismus: Optimismus ist keine persönliche Tugend, sondern eine Beziehungsqualität, mit der wir uns unterstützen, Kompetenzlücken kompensieren und uns gegenseitig entlasten, um gemeinsam etwas zu erreichen.

Das angestrebte Beziehungsziel lässt sich als Hoffnung auf ein besseres, produktives, gemeinschaftliches Miteinander begreifen. Und da Hoffnungen sich als Zusammenspiel von Zuversicht und Zweifel definieren lassen, brauchen wir für das Erreichen dieses Ziels sowohl die Skeptiker*innen als auch die Optimist*innen.

Deshalb gewinnen hier beide Seiten:

  • Pessimist*innen werden nicht stigmatisiert, sondern bringen wichtige Signale über Risiken, Grenzen und strukturelle Barrieren in die Diskussion mit ein.
  • Optimist*innen erweitern ihre Vorreiter-Rolle um eine Fürsorge-Funktion. Sie übersetzen, ermutigen, bauen Brücken und stellen Ressourcen zur Verfügung.

Optimismus wird damit zum Bindungskitt und nicht zu einer persönlichen Leistung.

Mehr zu einem solchen Bindungsmindset in meinem Buch (externer Link) „Hoffnung! Die unterschätzte Führungsstärke in turbulenten Zeiten

Von der Tabuisierung zur Inszenierung – Krankheit als neues Statussymbol

1. Verletzlichkeit als neue Währung

In klassischen kapitalistischen Kulturen erhielt man Anerkennung für Leistung, Stärke und Kontrolle. In der gegenwärtigen, postheroischen Kultur dagegen ist Authentizität und Verletzlichkeit eine neue Währung.

Damit entsteht eine neue Statuslogik: Nicht der Gesunde, Erfolgreiche oder Schöne steht im Zentrum, sondern der, der offen über sein Leiden spricht.

Lange Zeit galt Krankheit – besonders psychische – als etwas, worüber man schweigt. Krankheit bedeutete Schwäche, Scham und Kontrollverlust und damit etwas, das überhaupt nicht in unsere neoliberale Leistungsgesellschaft passt.

Dieses Schweigen prägte Familien genauso wie Organisationen und ganze Gesellschaften. Wer in Unternehmen psychisch war sprach nicht darüber, sondern schob lieber eine physische Krankheit vor.

In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich diese kulturelle Logik radikal verschoben. Heute wird über Depression, Angststörungen, ADHS, Burnout oder Autismus öffentlich gesprochen – in Talkshows, Podcasts und auf sozialen Medien. Diese neue Offenheit ist zunächst ein Fortschritt: Sie bricht Tabus, befreit von Scham und ermöglicht vielen Menschen, Hilfe zu suchen und Solidarität zu erfahren.

Doch gerade im Kontext sozialer Medien hat diese Entwicklung eine beunruhigende Wendung genommen, als wäre etwas aus dem Lot geraten. Anstatt einem Zuwenig haben wir jetzt ein Zuviel des Ganzen.

2. Die Logik der Sichtbarkeit

Plattformen wie TikTok oder Instagram belohnen als Aufmerksamkeitsmaschinen starke Emotionen, Mut und Individualität – je persönlicher und radikaler, desto besser.
In dieser Logik wird das Private gleichzeitig politisch und marktfähig. Der eigene Körper, die eigene Geschichte und sogar das eigene Leid werden zu Kommunikationsvehikeln.

Dadurch entsteht eine paradoxe Dynamik: Was früher tabu war, erhöht heute den eigenen gesellschaftlichen Status und verschafft damit Reichweite. Krankheit wird nicht mehr versteckt, sondern gezeigt – manchmal sogar ästhetisch inszeniert, mit sanften Filtern, Hintergrundmusik und emotionaler Erzählung. Krankheit wird in der kapitalistischen Logik zu einer Ware, die mit anderen Krankheiten um Aufmerksamkeit kämpft.

Damit geht es jedoch nicht mehr darum, sich einem kranken Menschen empathisch zu widmen, was eher in einem kleinen, sensiblen Kreis gelingt, sondern einem kranken Menschen lediglich für den Mut seines Outings in der Öffentlichkeit zu applaudieren.

3. Die Ambivalenz des Fortschritts

Diese Entwicklung hat zwei Gesichter:

  • Emanzipatorisch: Sie bricht Schweigen, schafft Bewusstsein und ermöglicht Solidarität durch Sichtbarkeit.
  • Problematisch: Sie kann dazu führen, dass Krankheit langfristig durch eine inflationäre Benutzung entwertet wird.

Wer sich und seine Sichtbarkeit v.a. über eine Krankheit oder Schwächen definiert, riskiert, in einer „Identität des Leidens“ stecken zu bleiben. Der Philosoph Byung-Chul Han würde sagen: In der „Transparenzgesellschaft“ wird alles Sichtbare zum Wert – selbst das, was eigentlich Intimität verlangt.

Damit bekommen Krankheit und Leiden zwar Aufmerksamkeit, es findet jedoch keine Heilung statt, weil Heilungsprozesse langsamer ablaufen und oftmals weit weniger spektakulär sind als Krankheiten. Heilungen fehlen das Affizierende, um auch weiterhin spannend zu sein.

Das gleiche gilt auch für andere Themen: Ein Absturz auf Drogen generiert wesentlich mehr Aufmerksamkeit als ein Treffen bei den Anonymen Alkoholikern.

4. Übertragung auf Unternehmen

In meiner Arbeit mit Führungskräften erlebe ich gerade drei Dimensionen:

  1. Das Sprechen über Krankheiten und Belastungen als echten Fortschritt
  2. Das Kokettieren mit Krankheit und Leiden, um Aufmerksamkeit zu generieren.
  3. Das Drohen mit Krankheit aus Mitarbeiterseite, wenn ihnen etwas nicht passt.

Anscheinend bekommen wir niemals das Gute ohne entsprechende Nebenwirkungen.

4.1 Psychologisierung der Arbeitswelt

Bis vor einigen Jahren galt noch: Wer sich als Opfer der Umstände zeigte, riskierte einen Gesichtsverlust oder Ausschluss aus der Gemeinschaft. Nur die Harten kommen in den Garten. Hier fehlte zwar häufig die emotionale Intelligenz in der Führung, es führte aber dazu, dass Selbstmitleid zumindest sozial nicht belohnt wurde.

Im gegenwärtigen kulturellen Klima – geprägt durch eine neue Sensibilität, psychologische Sprache und ehrliche Selbstoffenbarungen – wird auch in Unternehmen anders mit Schwächen umgegangen:

  • Verletzlichkeit gilt als authentisch.
  • Überforderung gilt als menschlich.
  • Opferstatus kann sogar moralische Autorität verleihen („Ich leide, also habe ich Recht“).

Das ist zunächst auch hier eine Emanzipation weg von einseitigen Leistungs-Idealen. Der gute Ansatz, Krankheiten und Schwäche aus der Tabuzone zu befreien, kippt jedoch um, wenn Verletzlichkeit zur Identitätsstrategie wird:

  • Mitarbeiter*innen sehen dann nicht mehr, was sie alles leisten, sondern betonen Überlastungen, fehlende Ressourcen oder „toxische Strukturen“.
  • Führungskräfte äußern Resignation: „Man kann ja eh nichts ändern.“
  • Ganze Teams entwickeln eine Kultur der Selbstentlastung: Schuld sind immer „die da oben“ oder „das System“.

Die Folge ist eine Art strukturelle Erschöpfungskultur. Das in Maßen sinnvolle Instrument des kollektiven Jammerns und Beschwerens wirkt nicht mehr entlastend, sondern verstärkt im Gegenteil die kollektive Belastung, weil das Positive nicht mehr gesehen wird.

Aus diesem Grund baue ich seit einiger Zeit in meine Seminare einen Hoffnungsquellen-Block ein:

Aus der (politischen) Aktivismus-Forschung lässt sich lernen:

  • Wer sich nicht dauerhaft in Frustrationen verlieren will, sollte auch sehen, was bereits erreicht wurde.
  • Gleichzeitig gilt es zu reflektieren, mit welchen Aktionen, Maßnahmen oder Haltungen die Ziele erreicht wurden, um zu wissen, wie neue Ziele angegangen werden sollten.

Der Philosoph Robert Pfaller würde sagen: Wir müssen wieder lernen, Lust an unserer Beute zu haben.

4.2 Opferhaltungen als Selbstdefinition

In vielen Unternehmen lässt sich heute eine subtile Kultur der Opferhaltung beobachten. Sie zeigt sich dort, wo Menschen Verantwortung abgeben, weil sie sich als Getriebene der Umstände erleben – „zu viel Arbeit“, „zu wenig Ressourcen“, „zu viele Veränderungen“. Diese Haltung ist menschlich verständlich, aber kulturell folgenreich: Sie legitimiert Stillstand.

Im Spannungsfeld zwischen dem Wunsch, weniger Belastung zu spüren, und der Angst vor Neuem entsteht eine paradoxe Dynamik. Einerseits wird Veränderung abgelehnt, weil sie Unsicherheit bedeutet. Andererseits wird Überforderung beklagt, weil alles so bleibt, wie es ist. Das Resultat ist eine kollektive Selbstentlastung: Man leidet lieber passiv unter dem System, als aktiv Verantwortung zu übernehmen, es zu gestalten.

So wird aus dem „Ich kann nicht“ ein „Ich muss nicht“.
Und aus berechtigtem Schutzbedürfnis entsteht schleichend eine Kultur der Ohnmacht, die sich unter dem Deckmantel der Erschöpfung selbst reproduziert.

In Verbindung mit der kulturellen Akzeptanz nicht nur von Krankheit und Verletzlichkeit, sondern auch von Leiden, befinden sich Führungskräfte hier in einer Zwickmühle: Einerseits müssen Sie Leistung fördern, um ihren Auftrag zu erfüllen. Andererseits ist es mittlerweile ein Tabu, Schwächen zu kritisieren und Krankheiten infrage zu stellen.

4.3 Krankheit als Machtinstrument

Zusätzlich wird in Unternehmen Krankheit heutzutage als Druckmittel eingesetzt: „Wenn ich nicht bekomme, was ich will, bin ich morgen krank.“

Dies wird durch eine deutliche Verschiebung von einem Arbeitgeber- zu einem Arbeitnehmermarkt ermöglicht: Mitarbeiter*innen wissen ihre neue Macht zu nutzen.

Auch hier zeigt sich, dass Krankheit nur vermeintlich ein Makel ist, sondern aus der Tabuzone heraus geholt wurde, um als Druckmittel eingesetzt zu werden, was Führungskräfte in eine schwierige Situation bringt: Die Krankheit an sich darf ich nicht kritisieren, auch wenn ich weiß, dass sie im Grunde nicht existent ist.

Die Parallelen zur skizzierten gesellschaftlichen Kultur liegen auf der Hand: Auf TikTok gilt Krankheit mittlerweile als Statussymbol. In Unternehmen wird sie als Symbol der Stärke und des Mutes eingesetzt. Krankheit ist kein Tabu mehr. Während früher ein Mitarbeiter „heimlich“ krank wurde, wird heute offen damit gedroht.

4.4 Soziale Kulturen verstehen

Der klassische Dreiklang zum Verständnis einer sozialen Kultur hat sich damit verschoben:

Boomer, Gen-X, Gen-Y
  1. Wofür bekommt man Anerkennung? → Für Leistung, Belastbarkeit und Anpassung.
  2. Worüber wird nicht gesprochen? → Über Stress, Überlastung oder psychische Probleme.
  3. Was ist verboten oder wird sanktioniert? → Fehlzeiten, mangelnde Leistung, Fehler durch Schwächen.
Gen-Y
  1. Wofür bekommt man Anerkennung? → Für Krankheit, Verletzlichkeit, Unangepasstheit.
  2. Worüber wird nicht gesprochen? → Weniger über Leistung und Erfolge.
  3. Was ist verboten oder wird sanktioniert? → Krankheiten, Schwächen oder Opferhaltungen zu kritisieren ist zwar nicht verboten, wird aber sozial stark sanktioniert. Stichwort: Bodyshaming

Fazit:

Um aus der Zwickmühle herauszukommen, einerseits Leistung zu fördern und andererseits echte Hilfsbedürftigkeit anzuerkennen, können Führungskräfte folgendes tun:

  1. Analyse der Anliegen: Unterscheiden Sie zwischen einer echten Hilfsbedürftigkeit, Krankheit als Drohung und einem Leiden, um Aufmerksamkeit zu generieren.
  2. Psychologische Sicherheit statt psychologische Bequemlichkeit: Letztlich geht es immer um Hilfe zur Selbsthilfe. Verabschieden Sie sich von der Retter-Rolle: Wer vermeintlichen Opfern dauerhaft hilft, macht sie unmündig. Wenn Mitarbeiter*innen sagen „Ich kann das nicht“, kann das auch bedeuten „Ich will das nicht alleine machen“.
  3. Verantwortlichkeiten klären: Menschen dürfen Fehler machen und Zweifel äußern. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht auch Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen müssen. Wer genau weiß, wofür er oder sie zuständig ist und welche Rolle er oder sie im Team einnimmt, kann sich weniger leicht aus seiner Verantwortung stehlen.
  4. Verletzlichkeit statt Leiden: Eine moderne Führung löst den vermeintlichen Widerspruch zwischen Opferhaltungen und Leistung auf, indem sie Verletzlichkeit anerkennt und gleichzeitig Leistung einfordert. Verletzlichkeiten fördern die Teambindung, weil die Schwächen des einen durch die Stärken des anderen kompensiert werden. Dafür braucht es einerseits einen offenen Umgang mit Schwächen, andererseits aber auch den Stolz auf die eigenen Stärken, um die Schwächen anderer aufzuwiegen.

Postmoderner Aufstieg

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Die Gesellschaft der Moderne ist auf Aufstieg ausgerichtet. Der Mensch strengt sich an, kann sich etwas leisten, bildet sich weiter, wird eine Führungskraft und macht Karriere. Das Aufstiegsversprechen sorgte jahrzehntelang für eine hierarchische Klarheit und Motivation in Unternehmen.

Doch was passiert, wenn einerseits dieses Aufstiegsversprechen nicht mehr funktioniert und andererseits junge Menschen kein Interesse mehr an diesem klassischen Aufstiegsmodell haben?

Manifest eines neuen Aufstiegsversprechens

I. Das Ende der neoliberalen Erzählung

Über Generationen galt: Wer sich anstrengt, wird belohnt. Bildung, Fleiß und Disziplin galten als Schlüssel zum Aufstieg. Doch dieses Versprechen ist gebrochen. Nicht, weil Menschen faul geworden wären, sondern weil die Strukturen erstarrt sind. Wer oben ist, bleibt oben. Wer unten anfängt, arbeitet oft sein Leben lang gegen unsichtbare Wände.
Erbe und Herkunft zählen mehr als Einsatz und Anstrengung. Die alte Erzählung von der Leistungsgesellschaft hat damit ihre Glaubwürdigkeit verloren.

Früher war Bildung der Schlüssel, um soziale Grenzen zu durchbrechen. Heute reproduziert sie bestehende Unterschiede. Eine Freundin meiner älteren Tochter studiert in Köln. Dort hieß es: „Das Studium ist ein Vollzeitstudium. Wer meint, er könne nebenher arbeiten, um sich das Studium zu finanzieren, kann sich das abschminken. Sinnvoller ist es, zuhause bei seinen Eltern um mehr Geld zu bitten.“

Auch die Diskussion über den Sinn in der Arbeit, neudeutsch purpose, ist für viele mittlerweile eine schale Angelegenheit. In einer Gesellschaft, die Erfolg in Zahlen ausdrückt – Einkommen, Eigentum und Status – wirkt das Wedeln mit dem Sinn schnell wie ein Trostpflaster dafür, dass ein Unternehmen nicht mehr zu bieten hat.

II. Die Leere im postoptimistischen Zeitalter

Wo kein Aufstieg mehr möglich ist, entsteht Resignation. Wer nicht aufsteigen kann, grenzt sich wenigstens nach unten ab. Und wer auch darin scheitert, greift nach der Zerstörung – aus Wut, Ohnmacht oder dem Gefühl, überflüssig zu sein. Symptomatisch dafür sind Aussagen wie „Eigentlich bin ich kein Fan der AfD, aber ich will, dass die da oben einen Denkzettel bekommen“. Auf der anderen Seite gehen viele junge Menschen unter 25 nicht mehr zu Wahlen (siehe Brexit, Trump oder Bundestagswahlen → Studien der WZB, Friedrich-Ebert-Stiftung oder Bundeszentrale für politische Bildung).

Ein ähnliches Pendeln zwischen Resignation, Wut und Egoismus finden wie in Unternehmen wieder, wenn scheinbar ohne Grund sinnvolle Aufgaben abgelehnt oder Veränderungen blockiert werden.

Erscheint jedoch der Aufstieg als Karriere nicht mehr möglich, fällt auch ein wichtiger Motivator in der Arbeit weg: „Warum sollte ich mich anstrengen, wenn es ohnehin nichts bringt? Dann reicht es auch, das Nötigste zu tun und ansonsten mein Leben zu genießen?“

Dies betrifft vor allem die neue Mittelschicht, die sich im Gegensatz zur alten Mittelschicht weniger auf Materielles verlassen kann (Stichworte: Hausbesitz, Handwerk), sondern in einer Sharing-Community groß wurde und sich mit kreativen und digitalen Tätigkeiten einen höheren Status erarbeitete (→ Andreas Reckwitz: Gesellschaft der Singularitäten). Dieser Status besitzt jedoch wenig Fundament und kann schnell schwinden, bspw. wenn eine KI den eigenen Job übernimmt. Kein Wunder, dass aktuell ein enormer Druck im Kessel ist:

  • Die Oberschicht grenzt sich ab.
  • Die alte Mittelschicht schlägt zurück, bspw. durch horrende Handwerker-Rechnungen.
  • Die neue Mittelschicht hat Angst vor dem Absturz.
  • Die Unterschicht kämpft um ihr Überleben.
  • Und viele junge Menschen weigern sich, Teil eines solchen toxischen Systems zu werden.

III. Ein neues Aufstiegsversprechen

Soll ein neues Aufstiegsversprechen wieder zu mehr Motivation in Unternehmen führen, darf es nicht mehr individuell und exklusiv sein, im Sinne von: „Ich will höher hinaus als du.“ Sondern kollektiv und inklusiv: „Wir wollen gemeinsam besser leben und zusammenarbeiten.“

Aufstieg sollte kein Wettlauf mehr sein, sondern ein Projekt kollektiver Gerechtigkeit, Sicherheit, Solidarität, Zufriedenheit, Autonomie, Sicherheit und Würde.

Tatsächlich zeigen Umfragen, dass junge Menschen v.a. deshalb nicht zu Wahlen gehen, weil sie weniger in Parteiprogrammen, sondern themenorientiert denken:

  • Klima ist wichtig, aber die Grünen sind zu elitär.
  • Solidarität ist wichtig, aber die SPD hängt noch zu sehr in der Vergangenheit und die Linke ist zu wenig liberal.
  • Autonomie ist wichtig, aber die FDP agiert lediglich wirtschaftsliberal.

Übertragen wir diese Erkenntnisse auf Unternehmen, bedeutet ein postmoderner Aufstieg:

  • dass niemand Angst vor einem gesellschaftlichen Absturz haben muss,
  • dass Bildung und Seminare kein Privileg sind, um Karriere zu machen, sondern eine Möglichkeit persönlicher Weiterentwicklung,
  • dass Arbeit Anerkennung erfährt, egal ob sie im Büro, in der Pflege oder an einer Maschine geleistet wird,
  • dass alternative Lebensläufe verstanden, respektiert und gefördert werden,
  • dass sich Wohlstand und finanzielle Sicherheit in einer guten Balance zu Freizeitzeit, Gesundheit und Sinn befinden.

Dieser qualitative Aufstieg funktioniert weniger vertikal, sondern horizontal:

  • Sinnvoll verbrachte (Arbeits-)Zeit,
  • Bildung für alle (Interessierte),
  • Gesundheit als zentraler Baustein,
  • persönliche statt verordnete Sinnsuche,
  • Gemeinschaft statt Abgrenzung,
  • Teilhabe an Unternehmensentscheidungen, wo es möglich und sinnvoll erscheint.

Fazit: Eine Zeitenwende

Es erscheint einfach, sich über die Arbeitsmoral junger Menschen zu beklagen. Schwieriger ist es, zu erkennen, dass wir aktuell mitten in einer großen Zeitenwende stehen. Noch schwieriger ist es Strukturen in Unternehmen anzupassen, damit Motivation auch für diejenigen wieder möglich ist, die nicht vertikal aufsteigen wollen. Logischerweise braucht es hier hybride Lösungen, um nicht die Mitarbeiter*innen vor den Kopf zu stoßen, die mit dem Aufstiegsmodell der Moderne groß wurden. Ein erster wichtiger Schritt wäre es jedoch, zu akzeptieren dass junge Menschen anders arbeiten wollen.

Wieviel Führung braucht der Mensch?

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O.K. Leute. Manche von euch müssen jetzt ganz stark sein. Aber wenn wir Wissenschaft ernst nehmen (Follow the Science!) – in diesem Fall Studien über den Umgang mit Katastrophen – wird klar, dass Menschen viel weniger Führung brauchen als uns das sowohl die Politik als auch Hollywood vormachen wollen. In Wirklichkeit organisieren sich Gruppen von Menschen viel besser als uns weisgemacht wird: Sie helfen sich gegenseitig, sind weniger egoistisch als wir denken und reagieren weniger panisch als wir es aus großen Blockbustern kennen. So geordnet wie Menschen unter Druck reagieren ist fast schon langweilig.

Aber der Reihe nach …

Unser sozialer Aktivierungsmechanismus in Krisen

Geraten Menschen in eine Bedrohungssituation, passiert typischerweise Folgendes:

  • Sie erkennen ihr gemeinsames Schicksal.
  • Dadurch entsteht spontan eine geteilte soziale Identität.
  • Diese neue, gemeinsame Identität und kollektive Hoffnung auf eine Rettung aktiviert die gegenseitige Unterstützung und Koordination.

In der Katastrophen-Forschung nennt sich dieser Mechanismus „emergent social identity“.

Emergenz bezeichnet das Phänomen, dass sich aus geordneten Strukturen unter Chaos eine eigene Ordnung herausbildet, die niemand von außen steuert. Das Prinzip der Selbstorganisation ohne Führung klingt komplizierter als es ist. Wenn wir genauer hinsehen, erlebt jede*r von uns täglich solche Situationen.

Ein Beispiel: Spontane Koordination in einer Fußgängerzone

  1. Situation: Ein Gehweg ist plötzlich durch ein Hindernis blockiert (Bauarbeiten, Lieferwagen).
  2. Einzelverhalten: Jeder Fußgänger weicht intuitiv aus, sucht eine Lücke, passt seine Geschwindigkeit an oder wartet, bis es frei ist. Kinderwägen werden gemeinsam getragen. Ältere Menschen werden gestützt.
  3. Emergentes Muster: Es entsteht ein geordnetes „Fließsystem“ ohne Anordnung: Menschen teilen sich automatisch in zwei Richtungen auf, lassen andere passieren und passen ihr Tempo an. Niemand sagt „Du gehst links, du rechts“, keine Ampel regelt das Geschehen. Dennoch funktioniert das System erstaunlich reibungslos – es wirkt fast wie eine organisierte Struktur.

Führung funktioniert anders als wir denken

Wer die Cinefin-Matrix (externer Link) auf Führung überträgt, kann zu der Erkenntnis kommen,

  • dass sich einfache Aufgaben gut delegieren lassen,
  • komplizierte Aufgaben ein gutes Gruppengefüge benötigen,
  • komplexe Aufgaben Schwarmintelligenz brauchen,
  • aber unüberschaubare Situationen, also Krisen und Chaos, eine stringente Führung brauchen, bis wieder Klarheit hergestellt ist.

Fakt ist: Medial präsent sind Plünderungen, Egoismen und Regelbrecher. Auswertungen von Tausenden Überlebenden von 9/11 ergaben jedoch: Die meisten Menschen verließen die Gebäude geordnet, halfen einander, trugen Mobilitätseingeschränkte mehrere Stockwerke nach unten und warteten aufeinander, obwohl sie alleine schneller gewesen wären. Panik in Krisensituationen sind weitgehend ein Mythos.

Das Bild von panischen Menschenmassen hat sich tief in unser kollektives Gedächtnis eingeprägt und bestimmt daher auch unsere Entscheidungen und unser Wahlverhalten. Wer daran glaubt, dass Menschen in Krisen zu Plünderern werden (Bsp. Hurrican Kathrina) oder während einer Terrorattacke unkoordiniert durch die Gegend rennen, ist auch dafür, die Befugnisse von Führung jeglicher Art auszubauen. Wer darauf vertraut, dass Menschen sich gerade in Krisen gut selbst organisieren, ist ein Anhänger weitgehender Liberalität. Genau jene Liberalität, die wir brauchen, um sowohl gesellschaftlich als auch beruflich Vertrauen zueinander zu haben.

Studien im Nachgang vieler Katastrophen (Erdbeben, Brände, 9/11) konnten zeigen:

  • Es bilden sich spontan Koordinationsnetzwerke.
  • Rollen entstehen und lösen sich wieder auf.
  • Nach der Krise verschwinden diese flach organisierten Gruppen wieder oder werden formalisiert.

Die „Plünderer“ während Kathrina erwiesen sich im Nachhinein als Menschen, die für andere Menschen Essen besorgten.

Alltag- versus Krisen-Führung

Soziologische Studien zu vermeintlichem Panikverhalten legen nahe, dass Menschen im Alltag, in dem es keine unmittelbare gemeinsame Bedrohung gibt und damit eine gemeinsame Identität weniger notwendig ist, mehr Führung brauchen, weshalb Routinen, Autoritäten und klare Rollen wichtig sind, während in Krisen weniger Führung notwendig ist.

Kommt in Krisen eine Führung von außen, bspw. durch eine Autorität, der die Gruppe nicht vertraut, kann dies eine verheerende Wirkung haben. Auf gesellschaftlicher Ebene passiert dies, wenn sich Politiker*innen als Legislative oder Polizist*innen als Exekutive in die Selbstorganisation einmischen. Auf beruflicher Ebene kann ein externes Krisenmanagement mehr kaputt machen als gedacht. Daher ist es gerade in Krisensituationen hilfreich, wenn das Management der Krise von einer vertrauten Person übernommen wird.

Führung in Krisen ist also nicht ganz obsolet. Sie muss jedoch ein Teil der Gruppe sein, um Gegenwehr zu verhindern. Während in klassischen Modellen davon ausgegangen wird, dass Menschen insbesondere in chaotischen Situationen irrational handeln und von oben gelenkt werden müssen, gehen neuere Modelle davon aus, dass Führung emergent sein sollte: Eine Person oder kleine Gruppe übernimmt dann die Führung, wenn sie als Teil des „Wir“ wahrgenommen wird und glaubwürdig handelt.

Ein Beispiel: Nach dem Anschlag in der Londoner U-Bahn 2005 halfen sich Menschen spontan gegenseitig und befolgten Anweisungen der Einsatzkräfte nicht, weil sie befehligt wurden, sondern weil sie die Einsatzkräfte als ihre Leute wahrnahmen.

Zusammengefasst lässt sich daher festhalten:

Wenn das nicht Hoffnung auf die Zukunft macht?

Literatur

John Drury & Stephen Reicher (Hrsg.) – Crowds in the 21st Century: Perspectives from Contemporary Social Science (Routledge, 2012) → Überblick über moderne Crowd-Psychologie; zeigt, dass „Panik“ selten ist und Solidarität dominiert.

E. L. Quarantelli – What Is a Disaster? Perspectives on the Question (Routledge, 1998) → Klassiker; entwickelt die Idee, dass Katastrophen nicht durch Panik, sondern durch soziale Organisation geprägt sind.

Michael J. Reiss, Roz Diane Lasker, Robyn R. Gershon (Hrsg.) – World Trade Center Evacuation Study: Lessons for Emergency Preparedness
(Centers for Disease Control and Prevention / Columbia University, 2004–2006, diverse Publikationen) → Empirische Auswertung: geordnetes, solidarisches Verhalten, kaum Panik.

Dirk Helbing – Social Self-Organization: Agent-Based Simulations and Experiments to Study Emergent Social Behavior (Springer, 2012) → Quantitative Perspektive auf emergentes Verhalten, auch bei Evakuierungen und Katastrophen.

Handlungsfähig bleiben in der Postmoderne

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1. Die Notwendigkeit einer Festlegung trotz widersprüchlichem Wissen

Der postmoderne Mensch glaubt, Handeln sei eine Funktion von Erkenntnis: Wer die Welt versteht, kann rational entscheiden. In der postmodernen Logik bricht diese Beziehung zusammen. Wissen wird unendlich, Gründe widersprechen sich, Perspektiven sind plural. Was bleibt, ist das Bewusstsein der eigenen Vorläufigkeit und damit eine Lähmung durch zu viel Wissen.

Dieses Phänomen hat vermutlich jede*r schon einmal erfahren: Wissen ist hilfreich, um gute Entscheidungen zu treffen. Doch ab einem bestimmten Punkt ist Wissen nicht mehr hilfreich und führt zu Zweifeln. Ein Beispiel aus der Entscheidungsforschung steht stellvertretend für diesen Effekt: Werden an einem Stand im Supermarkt drei Marmeladensorten zum Probieren angeboten, bleiben dort weniger Menschen stehen als an einem Stand mit sieben Sorten. Der Stand mit den drei Sorten führt allerdings zu mehr Verkäufen. Wie soll man sich auch bei sieben Sorten entscheiden?

Extrapolieren wir dieses Beispiel auf unsere Welt wird klar, dass in der Postmoderne jede Handlung auf unzählige Gründe trifft, die sich gegenseitig neutralisieren. Für alles gibt es ein „Ja, aber“. Jedes Argument ruft sein Gegenargument hervor:

  • Ja, wir sollten Frieden und Diplomatie fördern. Aber versteht Putin nicht nur das Argument der Waffen?
  • Ja, wir sollten Putin mit Waffen bekämpfen. Aber widerspricht das nicht der langfristigen Sehnsucht der meisten Menschen nach einem friedlichen Zusammenleben?

Alles scheint lediglich eine Frage der Verhandlung zu sein. In dieser Lage droht das Subjekt – überinformiert, selbstreflexiv und skeptisch – handlungsunfähig zu werden.

Der Philosoph Slavoj Žižek diagnostiziert genau hier das Paradox der Freiheit: Wir können alles begründen, aber gerade deshalb nichts wirklich tun. Handlungsfähigkeit entsteht, so seine These, nicht durch Wissen, sondern durch eine Setzung. Wir sammeln also nicht Wissen, um darauf aufbauend eine Entscheidung zu treffen. Sondern wir entscheiden uns auf der Basis mangelhaften oder widersprüchlichen Wissens, im vollen Bewusstsein, falsch liegen zu können.

Žižek greift hier auf eine Linie zurück, die von Kierkegaard über Sartre bis Lacan reicht: Der entscheidende Akt ist nicht rational begründet, sondern existentiell. Kierkegaard nannte ihn den „Sprung des Glaubens“, Lacan spricht vom acte, Badiou vom „Treueakt zum Ereignis“. In jedem Fall gilt: Der Moment der Festlegung ist ein Moment des Trotzes: Wir wissen nicht, ob wir richtig liegen, aber tun es dennoch, um uns gegen die Logik der Unsicherheit zu stellen.

Festlegung bedeutet also nicht, zu handeln, weil wir Recht haben, sondern um handlungsfähig zu bleiben. Erst unser Handeln zwingt in einer Kettenreaktion die Festlegung unseres Umfelds, was dem postmodernen Menschen schwer zu fallen scheint, weil er sich damit angreifbar macht. Sie ist jedoch ein zentraler Baustein als Ausweg aus einer postmodernen Beliebigkeit.

2. Formen der Festlegung

In einer pluralen, relativistischen Welt kann Festlegung verschiedene Formen annehmen, die sich nach Motiv und Funktion unterscheiden.

a) Existenzielle Festlegung auf Werte und Haltungen

Der Mensch legt sich fest, um nicht zu zerfallen: „Ich vertraue“, „Ich glaube“, „Und deshalb handle ich“. Solche Entscheidungen sind Akte der Selbstvergewisserung. Ohne sie bleibt das Subjekt ein reflektierendes, aber ohnmächtiges Wesen. Hier geht es nicht um Wahrheit, sondern um Stabilität. Der Akt selbst schafft den Grund, auf dem er steht. In diesem Sinne können wir uns alle festlegen, indem wir sagen: Ich glaube an die Solidarität. Ich vertraue meinen Kolleg*innen. Ich glaube daran, dass ich im Team mehr erreichen kann als alleine. An dieser Stelle finden wir auch unsere Hoffnungen wieder. Obwohl es naiv erscheint, an das Gute im Menschen zu glauben, erscheint es das einzig Sinnvolle zu sein in einer Welt voller Krieg und Hass. Weil wir ansonsten bereits aufgegeben hätten. Andererseits ist das Warten auf eine endgültige Beweisführung, ob der Mensch im Grunde gut oder schlecht ist, ebenfalls naiv, weil es diesen Beleg niemals geben wird. Existenzielle Festlegungen bieten damit einen Ausweg aus dem dialektischen „Sowohl, als auch“.

b) Politische Festlegung auf Meinungen

Neutralität ist feige. Eine politische Festlegung – etwa „Ich setze mich für ein nachhaltiges Wirtschaften ein“ – ist niemals vollständig begründbar, aber sie ist notwendig, weil eine Nicht-Positionierung ebenfalls eine passive Positionierung darstellt, indem die bestehenden Umstände unterstützt werden, ohne zu handeln. Die Festlegung wird zum Akt der Verantwortung und fördert kontroverse Diskussionen.

c) Ironische Übertreibung von Positionen

Gerade im Bewusstsein, dass alles im agilen Fluss ist und sich beständig verändert, kann man sich (temporär) ironisch festlegen: als Spiel, Stil oder Pose. Hier wird die Postmoderne mit ihren eigenen Mitteln überboten. Durch Übertreibung einer Überzeugung wird die Oberflächlichkeit einer ernsthaften und durchaus sinnvollen Ambivalenz als Gesprächsgrundlage entlarvt.

In einer Welt, die aktuell wieder zurück pendelt zu einer strengen, klar hierarchischen Führung, zeigt sich auch die Sehnsucht nach Eindeutigkeit. Auf der anderen Seite ist es ebenso übertrieben, Mitarbeiter*innen an allem zu beteiligen, so wie es Eltern machen, die ihre Kinder in alle Entscheidungen mit einbeziehen und sie damit überfordern. Beides lässt sich ironisch übertreiben und dadurch bloß stellen:

  • Wenn du hierarchisch führen willst, während deine Mitarbeiter*innen im Homeoffice sitzen: Rufst du dann im 30-Minuten-Takt an und fragst nach Ergebnissen? Es wäre sicherlich auch hilfreich, ihnen Essensvorschläge zu machen, damit ihre Leistung konstant bleibt.
  • Wenn du auf Augenhöhe führen willst: Lässt du dann deine Mitarbeiter*innen abstimmen, welche Kaffeesorte beim nächsten Mal eingekauft werden soll und stellst eine Liste auf, dass alle über das Jahr verteilt gleich oft mit dem Einkaufen dran sind? Wobei eine Liste aufzustellen evtl. schon zu hierarchisch ist. Vielleicht sollten wir erst diskutieren, ob eine Liste das richtige Tool ist?

3. Festlegung als Provokation

In all diesen Formen liegt eine provokative Dimension. Die Festlegung irritiert jene, die im Schwebezustand der Postmoderne verharren wollen. Wer sich festlegt, stört den Diskurs der offenen Möglichkeiten, der oft nichts anderes ist als die Ideologie der Passivität. Eine entschiedene Geste – ethisch, politisch oder ironisch – zwingt andere, Stellung zu beziehen: Bist du dafür oder dagegen?

Vor diesem Hintergrund lassen sich auch manche radikale Aussagen als Einladung zur Selbstpositionierung und Diskussion wahrnehmen. Mir scheint beinahe, Politiker*innen oder allgemein Menschen in der Öffentlichkeit wie Marie Agnes Strack-Zimmermann, Oskar Lafontaine, Sarah Wagenknecht oder Alice Schwarzer hätten Slavoj Zizek gelesen.

Im Gegensatz zur landläufigen Wahrnehmung gerade in gesellschaftlichen Kreisen, denen ein gewaltfreier Diskurs wichtig ist, ist eine Festlegung, wenn sie auf gegenseitigem Respekt basiert, kein Hindernis von, sondern förderlich für Diskussionen. In diesem Sinne stehen Entscheidungen nicht am Ende einer Reflexion, sondern am Anfang:

  1. Individuelle Vor-Reflexion
  2. Provokation durch Festlegung
  3. Respektvoller Austausch
  4. Gemeinsame Entscheidung