Archiv der Kategorie: Teamentwicklung

Warum wir die Bindung jüngerer Generationen an Unternehmen komplett neu denken sollten

Zusammenfassung: Wer jüngere Generationen verstehen will, um entsprechende Schlüsse für Bindungsangebote in Unternehmen zu ziehen, kommt an zwei Erkenntnissen nicht vorbei:

  1. Außenwirkung: Die Identität junger Menschen ist so stark wie noch nie von einer digitalen Außenwirkung geprägt.
  2. Fomo: Gleichzeitig haben sie aufgrund des Überangebots an Möglichkeiten das steitge Gefühl, etwas zu verpassen (fomo = fear of missing out), sobald sie etwas als sinnlos erleben oder sich festlegen sollten.

Bringen wir diese beiden Erkenntnissen zusammen, sind junge Menschen einerseits durch ihre Außenorientierung auf der Suche nach Vernetzung, Solidarität oder Bindung, haben andererseits jedoch Angst davor.

Aus diesem Grund schrecken klassische Unternehmensangebote von Karriereleitern bis hin zu Grillabenden viele junge Menschen eher ab. Bindungsangebote von Unternehmen sollten daher komplett neu gedacht werden.

A. Selbstfindung vs. Außenorientierung

Die Generation X (geboren ca. 1965–1980) wuchs in einer Phase der Individualisierung und Selbstverwirklichung auf. Spätestens in den 90ern wurden Ideen aus der Psychotherapie, Selbsthilfe, Identitätsarbeit und „Innere Kind“-Diskurse massenwirksam. Gleichzeitig fand die Maxime des Neoliberalismus, etwas aus sich zu machen, breiten Anklang, nicht zuletzt in Ich-AGs.

Die Generationen Y, Z und Alpha wuchsen in einer Welt auf, in der die eigene soziale Identität orientiert an TikTok-Trends in Chats, Communities oder Online-Freundeskreisen im stetigen Austausch entsteht. Der Raum zur Selbsterkundung ist wesentlich geringer als noch in den 90ern. Identität wird weniger intern erarbeitet, sondern stetig synchronisiert mit relevanten Bezugsgruppen.

Was oft als schamlos wahrgenommen wird, z.B. eine sehr direkte Selbstdarstellung auf Social Media Kanälen, ist letztlich ein Mittel, Anschluss zu finden oder gesehen zu werden, immer auf Suche nach der eigenen Identität.

Gleichzeitig nimmt die gefühlte Einsamkeit junger Menschen zu. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn drei Punkte betrachtet werden:

  1. Digitale Nähe ist nicht automatisch emotionale Nähe: Junge Menschen sind ständig mit anderen Menschen in Austausch. Dennoch fühlen sich viele unsicher gebunden. Sie pflegen viele Kontakte, haben aber nur wenige wirklich vertraute Beziehungen. Sie sind immer erreichbar, aber selten tief im Kontakt mit anderen.
  2. Höhere Erwartungen: In einer Kultur der ständigen Selbstoptimierung und des Nach-oben-Vergleichens (Wer ist besser? Wer hat mehr? Wem geht es besser?) kommt schnell das Gefühl auf, nicht gut (fleißig, hübsch, …) genug zu sein.
  3. Der Verlust stabiler sozialer Milieus: Früher war die Familie vor Ort. Es gab einen Sportverein. Man ging in die Kirche, kannte seine Nachbarn und hatte feste Arbeitswelten. Heute bestimmt für viele städtisch und v.a. akademisch geprägte junge Menschen Mobilität das Leben. Die Berufs- und Lebenswege sind flexibler. Jobs sind prekärer. Das Homeoffice macht es schwerer, Kolleg*innen kennen zu lernen.

Zudem wird Alleinsein heute negativer bewertet. Früher gehörte es zum Alltag vieler Menschen dazu. Heute wird Alleinsein im Kontrast zu einer ständigen digitalen Präsenz als viel störender wahrgenommen: Wer permanent sieht, wie gut es anderen geht, bewertet sein eigenes Alleinsein als negativer als früher. Dabei wird ausgeblendet, dass auch andere, die sich offensiv online präsentieren, nicht unbedingt glücklicher sind.

B. Moderne Generationen haben nicht weniger Bindungsbedürfnis, sondern mehr Bindungsangst

In den Generationen Y, Z & Alpha finden wir zwei parallele Bewegungen:

  1. Hohe Sehnsucht nach Verbindung: Die Sensibilität für emotionale Nähe ist hoch. Der Wunsch nach gemeinschaftlichen Werten ist ebenso groß wie das Interesse an Nähe und Intimität. Privates wird stärker geäußert als früher.
  2. Gleichzeitig gibt es eine große Angst vor Abhängigkeit oder Festlegung: Jüngere Generationen sind geprägt durch hohe Scheidungsraten in der Elterngeneration, Patchwork-Familien und damit frühen Erfahrungen mit unklaren bis instabilen Strukturen. Die ökonomische und ökologische Situation (Mieten, Arbeitsmarkt, prekäre Jobs, Klimawandel, Kriege) führen zu einer grundsätzlichen Verunsicherung. Dadurch entsteht eine große Angst, falsche Lebensweg-Entscheidungen zu treffen, sowohl in der Arbeit als auch privat.

Im Grunde hat sich der Mensch als soziales Tier nicht verändert. Er sucht nach wie vor nach Nähe und Bindung. Verändert hat sich jedoch das soziale Umfeld. Im Angesicht eines offen zur Schau getragenen Überangebots fühlen sich Entscheidungen riskanter als früher an. Dadurch entsteht das bekannte Fomo (fear of missing out)-Gefühl: Sobald ich mich für etwas entscheide, habe ich Angst, etwas anderes zu verpassen:

  • Es gibt sicherlich noch andere tolle Beziehungen.
  • Sich sexuell auszuprobieren gehört im Grunde zur Selbstfindung dazu.
  • Es gibt so viele Orte auf der Welt zu entdecken.
  • Warum länger in einem Job beiben, wenn ich was anderes ausprobieren kann?

Flexibilität wird zum Wert an sich, nicht weil man sich nicht binden will, sondern weil man sich nicht festlegen kann, ohne das Gefühl zu riskieren, etwas zu verpassen oder sich falsch zu entscheiden. Dadurch wird vieles oberflächlich angerissen, aber nur selten etwas zu Ende gebracht. Insofern wirkt ein gutes Gefühl in einer Beziehung oder einem Job schon beinahe bedrohlich, weil es einen Wechsel verhindern könnte.

Für Unternehmen bedeutet das: Häufige Berufswechsel sind keine mangelnde Loyalität, sondern die Angst davor, zu loyal zu sein und am Ende enttäuscht zu werden. Gleichzeitig ist dieses Wechselverhalten ein Versuch, in einer instabilen Umwelt ein Stück Kontrolle zurückzugewinnen. Wem es an innerer Stabilität fehlt, sucht im Außen nach einer Bestätigung seiner Selbst. Die Formel dazu lautet:

Hohes Bedürfnis nach Verbundenheit + geringes Selbstvertrauen = brüchige Bindungsfähigkeit

C. Die Konsequenzen für Unternehmen

1. Herstellung psychologischer Sicherheit

Da viele Mitarbeitende bindungsunsicher oder übervergleichend sozialisiert sind, gilt es ein Umfeld zu schaffen, das Sicherheit vermittelt, ohne Abhängigkeit zu erzeugen. Dieser Unterschied ist essentiell. Viele Unternehmen machen immer noch Angebote mit der Absicht, Mitarbeiter*innen zu binden. Das jedoch wird als unlauter und einengend wahrgenommen und entsprechend rigoros abgelehnt. Würden die Angebote darauf abzielen, dass jüngere Menschen gut in ein Team integriert werden und ihren Job selbstsicher erledigen können, ohne abhängig machende Hintergedanken, steht der aktuelle Moment im Fokus. So paradox es klingt, aber Bindung funktioniert heutzutage leichter, wenn sie nicht im Mittelpunkt steht.

Das bedeutet konkret:

  • Vergleichbarkeit in sichere Bahnen lenken: Klare Erwartungen an die Arbeit, klare Prioritäten, realistische Arbeitslast, Kriterien einer guten Arbeit bieten Orientierung in der Vergleichbarkeit mit anderen.
  • Unsicherheit reduzieren: Mentoring-Programme, regelmäßige Feedback-Gespräche, konsistente Regeln, mentale Gesundheitsprogramme und ein fairer Umgang mit Fehlern bieten Sicherheit.
  • An richtigen Ort sein und nichts verpassen: Gelebte Werte und sinnvolle Tätigkeiten, aber auch stringent geplante Meetings fördern das Gefühl, am richtigen Ort zu sein und verhindern das Fomo-Gefühl, etwas zu verpassen.
  • Soziale Stabilität: Integrative, dauerhaft stabile Teams, berechenbare Prozesse, echte Gemeinschaft ohne Fassade und partizipative Entscheidungsprozesse fördern die soziale Sicherheit.

Für jüngere Menschen gilt mehr denn je: Auch wenn oft finanzielle Gründe angeführt werden, wird entweder wegen unempathischen Chefs, einem schlechten Teamsetting oder Unsicherheit in der Arbeit gekündigt.

2. Strukturierte Flexibilität

Jüngere Generationen fordern Remote-Arbeit, flexible Arbeitszeitmodelle, projektorientiertes Arbeiten und einen flexible berufliche Entwicklung anstatt starrer Karriereleitern. Diese Hyperflexibilität bringt jedoch gleichzeitig durch die Tendenz zu Unsicherheit und sozialen Vergleichen ein hohes Maß an Distress mit.

Aus diesem Grund braucht es:

  • flexible, aber klare Regeln
  • transparente Workflows
  • definierte und begrenzte Kommunikationszeiten, insbesondere freie Wochenenden
  • abgestimmte Erreichbarkeiten
  • Fokuszeiten ohne Meetings
  • Pausen- und Ruheinseln

Der Trend bei jüngeren Menschen geht ohnehin wieder mehr in Richtung Work Life Balance statt Work Life Blending. Aktuell scheint noch ein Corona-Jahre-Nachhol-Effekt hinzuzukommen: „Arbeiten ist OK, aber ich will auch feiern gehen. Deshalb gehören Feier(!)abend und Wochenende mir.“

3. Investition in die psychologische Kompetenz der Führungskräfte

Moderne Organisationen brauchen Führungskräfte mit psychologischem Grundverständnis, Konfliktkompetenz, Wissen über Bindungs- und Teamentwicklungsdynamiken, Mentoring- und Coaching-Kompetenzen.

Menschen mit unsicheren Bindungsmustern reagieren empfindlicher auf:

  • unerwartete Kritik
  • unklare Rollen
  • chaotische Projektverläufe
  • abwesende oder emotional distanzierte Führung
  • Konkurrenzdruck
  • Überforderung

4. Das Bedürfnis nach sinnvoller Gemeinschaft bedienen

Junge Menschen wollen (meist) keine Grillpartys mehr mit ihrem Chef, wenn sie stattdessen mit ihren richtigen Freunden abhängen könnten (Fomo!). Sinnvoller ist es, Workshops zur gemeinsamen Reflexion und Verbesserung der Arbeit und Zusammenarbeit durchzuführen, bspw, im Rahmen bezahlter Teamtage. Zudem erzeugen klassische Teamevents sozialen Druck. After-Work-Partys oder Bowlingabende werden oft nicht nur als unauthentisch, verpflichtend und übergriffig in die private Zeit erlebt, sondern auch als sozial riskant: „Über was soll ich mich mit meiner Chefin unterhalten?“ Das wird v.a. von unsicher gebundenen, introvertierten und stark außenorientierten jungen Menschen als enorm stressreich erlebt. In solchen Momenten vermischen sich die Erwartungen an die arbeitende und private Person: „Was, wenn ich unsympathisch wirke? Hat das Auswirkungen auf meine Arbeitsverhältnis oder sogar auf Zeugnisse?“ Die daraus folgende emotionale Überforderung führt nicht selten zu einem Rückzug als Schutzmechanismus, der von Chefs oft als mangelndes Interesse gedeutet wird.

Dennoch erfordert die Außenorientierung junger Menschen soziale Resonanzräume. Sinnvoller als After-Work-Veranstaltungen, bei denen Privates und Berufliches vermischt werden sind „Veranstaltungen“, bei denen es um die Sache geht und nicht um die Person:

  • integrative Onboarding-Prozesse
  • gemeinsame als sinnvoll empfundene Rituale
  • Kultur der gegenseitigen Unterstützung
  • regelmäßige Teamtreffen (v.a. in Präsenz)
  • soziale Aktivitäten als Angebot, nicht als Zwang
  • gemeinsames Lösen komplexer Aufgaben
  • Arbeiten im Tandem
  • selbstorganisierte Workshops
  • Aufteilung großer Meetings in Kleingruppen

Konstruktives vs. destruktives Misstrauen

In unserer Gesellschaft herrscht spätestens seit Corona ein großes Misstrauen vor. Misstrauen gegenüber dem Staat, der Justiz oder der Polizei. Dieses Misstrauen schwappt auch in Unternehmen, wenn es heißt: „Die da oben …“ Dabei ist Misstrauen an sich wichtig, um Prozesse zu verbessern. Wird es jedoch das gesamte System – Staat oder Unternehmen – angezweifelt, wird es destruktiv. Dann geht es nur noch darum, Fehler aufzudecken und nicht mehr darum Abläufe zu verbessern. Deshalb ist es enorm wichtig, zwischen einem konstruktiven und destruktiven Misstrauen zu unterscheiden.

Konstruktives Misstrauen

  1. Vertrauen gegenüber Personen oder Systemen bleibt erhalten, weil der Fokus auf der Sachebene liegt. Es geht nicht gegen eine grundsätzliche Absicht vermeintlich betrügerischer Personen oder eines „bösen“ Systems.
  2. Verbesserung als Ziel: Ein konstruktives Misstrauen richtet sich auf eine bestimmte Sache, einen Prozess oder eine Tätigkeit, die verbessert werden soll.
  3. Situativ begründet: Ein konstruktives Misstrauen basiert auf konkreten Hinweisen, Erfahrungen oder Daten, die jedoch nicht auf eigenen Faust veröffentlicht werden, um andere an den Pranger zu stellen, sondern als Möglichkeit gesehen werden, Fehler aufzuarbeiten. Eine Aktivierung findet nur situativ statt, wenn sie erforderlich ist. Es geht nicht darum, dauerhaft nach einem Haar in der Suppe zu suchen.

→ Ziele: Qualität sichern, Risiken erkennen, Handlungssicherheit schaffen

Typische Aussagen

  • „Ich möchte verstehen, wie es zu diesen Ergebnissen / Entscheidungen / … kam.“
  • „Sofern ich die Kompetenz mitbringe, würde ich mir gerne ein eigenes Bild machen.“
  • „Es ist mir wichtig, Prozesse zu verbessern.“
  • „Es geht mir um die Sache, nicht um eine Vorverurteilung.“

Wirkungen

  • Erhöht Qualität und Robustheit von Entscheidungen.
  • Fördert Feedback, Dialog und wechselseitige Verlässlichkeit.
  • Reduziert Risiken ohne Angstkultur.

Destruktives Misstrauen

  1. Personalisierend bzw. gegen das gesamte System gerichtet: Ein destruktives Misstrauen richtet sich gegen Motive oder Integrität. Anderen Menschen oder dem gesamten System wird unterstellt, dass es grundsätzlich Böses im Sinn hat, heimlich Pläne ausheckt und nur am eigenen Wohl interessiert sind.
  2. Zerstörerisch: Es geht nicht darum, Prozesse oder Systeme zu verbessern, sondern darum, das System an sich infrage zu stellen und es letztlich zu zerstören. Deshalb werden Verbesserungen auf Kritik lediglich als Eingeständnis gewertet, entdeckt worden zu sein, was allerdings an der Gesamteinstellung nichts verändert.
  3. Dauerhaft: Ein grundsätzliches Misstrauen wird zur Grundhaltung. Destruktiv misstrauische Menschen sind stetig auf der Suche nach Fehlern. Deshalb braucht es auch keinen konkreten Anlass für das Misstrauen.

→ Ziele: Das System oder einzelne Personen grundsätzlich in Frage stellen, Kontrolle sichern, Macht ausüben

Typische Aussagen

  • „Man darf hier ja eh nichts mehr sagen.“
  • „Ich würde würde ja eigentlich ganz anders vorgehen.“
  • „Es ändert sich ja doch nichts.“

Wirkungen

  • Erzeugt Angst, Passivität und Vermeidungsverhalten.
  • Spaltet die Belegschaft in Optimisten und Pessimisten.

Umgang mit destruktiv misstrauischen Mitarbeiter*innen

Als erstes ist es grundsätzlich wichtig, die misstrauische Kritik eines Mitarbeiters positiv wertzuschätzen im Sinne von: „Danke für die Kritik. Lass uns das genauer ansehen.“

Im Weiteren ist es hilfreich, dieses genauere Hinsehen mit Fragen zu vertiefen, nicht inquisitorisch, sondern immer mit einer offenen, neugierigen Haltung, damit Gegenfragen das Misstrauen nicht noch weiter verschärfen:

  • „Was genau ärgert dich gerade?“
  • „Was ist dir besonders wichtig?“
  • „Wenn wir alles Drumherum wegnehmen: Worum geht es dir wirklich?“
  • „Welche Befürchtung steckt hinter deiner Aussage?“
  • „Was hast du konkret beobachtet?“
  • „Welche Fakten oder Situationen führen dich zu dieser Einschätzung?“
  • „Was wäre eine alternative Erklärung für das, was du wahrnimmst?“
  • „Was denkst Du, welchen Einfluss wir als Team und ich als Führungskraft auf die aktuelle Lage haben?“
  • „Was wäre ein konstruktiver nächster Schritt aus deiner Sicht?“
  • „Was bräuchtest du, um gut mitzugehen?“
  • „Was kannst Du selbst machen, damit es besser läuft?“
  • „Wie würde die Situation aussehen, wenn sie gut genug wäre?“
  • „Was ist uns aus Deiner Sicht beiden wichtig, trotz unterschiedlicher Sichtweisen?“
  • „Woran würdest Du erkennen, dass sich die Situation verbessert hat?“
  • „Was ist die kleinste sinnvolle Veränderung, die realistisch ist?“
  • „Wie können wir sicherstellen, dass wir aus der Sache etwas lernen?“
  • „Wie wollen wir beide Kritik so äußern, dass sie uns weiterbringt?“
  • „Welche Form der Zusammenarbeit möchtest du selbst nicht erleben – und wie tragen wir beide dazu bei?“
  • „Willst Du, dass sich etwas verändert und Abläufe verbessert werden? Oder willst du grundsätzlich Kritik üben?“

Quelle:

Hotel Matze: Vertrauensverlust in Deutschland, Populismus, Migration – Soziologe Aladin El-Mafaalani

Workshop: Mit Trickster-Strategien Veränderungen voran bringen

In Zeiten postmoderner Multikrisen – geprägt von Gleichzeitigkeit, Widersprüchen und der Abwesenheit eindeutig richtiger Lösungen – brauchen Organisationen ein Denken in Übergängen. In der Mythologie ist dafür die Figur des Tricksters zuständig. Deren Strategien zur Infragestellung alter Ordnungen und Regeln und Etablierung neuer Vorgehensweisen und Innovationen sind gerade in Krisenzeiten aktuell wie nie.

Dieser Workshop zeigt Ihnen, wie Sie als Führungskraft mithilfe der vier Archetypen Athene, Hermes, Prometheus und Loki Reformstaus auflösen, Silos überwinden und einen Wandel in Ihrem Unternehmen sinnstiftend, strategisch, verbindend und bei Bedarf auch disruptiv voranbringen.

Die Inhalte im Einzelnen:

  • Warum Trickster perfekt in die heutige Zeit passen.
  • Ein Reformstau-Diagnose-Tool aus Trickster-Sicht.
  • Klassische und moderne Trickster-Geschichten als Lernmaterial.
  • Trickster-Strategien als Transfer zur direkten Umsetzung.

Ort: Online. Die Adresse wird nach Überweisung mitgeteilt.

Zeit: 15.01.2026, 9.00 – 12.00 Uhr

Kosten: 100 €, zzgl. UsSt.

Anmeldung: info@m-huebler.de

Zum warm werden mit den Trickstern: Trickster-Strategien für Veränderungen im Selbst-Check

Das postmoderne Drama

Ganz ehrlich: Ich liebe die Postmoderne. Was heutzutage alles möglich ist, wäre bis vor kurzem beinahe ein Wunder gewesen:

  • Wir sprechen in Unternehmen offen über psychische Gesundheit.
  • Führungskräfte versuchen mit Mitarbeiter*innen auf Augenhöhe zu kommunizieren.
  • Ich kann in Trainingspausen bei Nicht-Wissen schnell Chatgpt fragen, um zumindest ein paar Ideen zu bekommen.

Gleichzeitig gilt nicht nur, dass wir mehr über die Funktionsweise von Maßnahmen und Systemen wissen, als wir verändern können. Wir können auch nicht mehr so tun, als wüssten wir es nicht besser.

1 Radikale Erkenntnisgewinne bei begrenzten Umsetzungsmöglichkeiten

Die Postmoderne ist geprägt von neurobiologischem Wissen, systemtheoretischen Einsichten und Erkenntnissen aus Soziologie und Organisationspsychologie, die teilweise auch schon einige Jahre auf dem Buckel haben, aber erst jetzt so richtig im Mainstream angekommen sind. Dadurch wissen wir heute ziemlich genau, dass beispielsweise Einzelmaßnahmen in Unternehmen systemisch kaum wirken, wir wissen, welche Nebenwirkungen sie haben oder dass sie oftmals sogar kontraproduktiv sind:

  • Motivations- und Mindset-Workshops ohne strukturelle Reformen führen eher zu Frustrationen, weil dadurch die Lücke zwischen persönlichen Chancen und strukturellen Hemmnissen nur noch sichtbarer werden.
  • KI-Systeme werden meist von denjenigen genutzt, die ohnehin schon gut sind, wodurch deren Produktivität noch mehr steigt, während Skeptiker und Unsichere den Anschluss verpassen.
  • Die Arbeit im Homeoffice reproduziert nicht nur gesellschaftliche Privilegien, sondern kommt v.a. denjenigen entgegen, die ohnehin schon selbstorganisiert arbeiten und die ohne Störungen von Kolleg*innen jetzt noch schneller werden, während die Unorganisierten in der Luft hängen.

Die Liste ließe sich endlos fortführen:

  • Wer geht am liebsten auf externe Fortbildungen? Diejenigen, die es brauchen könnten oder diejenigen, die ohnehin schon gut sind und sich damit langfristig aus dem Unternehmen fortbilden?
  • Selbst die simple Frage, wer eine Aufgabe übernehmen will, erweitert oftmals die Kompetenz-Schere, weil sich darauf diejenigen melden, die sich das zutrauen und sich damit noch mehr weiterentwickeln.

Wir wissen also, dass Einzelmaßnahmen ohne strukturelle Veränderungen das aktuelle Probleme der Leistungs- und Verantwortungs-Schere eher noch verstärken. Gleichzeitig wissen wir aber auch, dass Systeme träge sind, starke Selbststabilisierungsmechanismen haben und sich einer stringenten Steuerung entziehen.

Daraus zu schlussfolgern, dass es am besten wäre, die Dinge laufen zu lassen, kann jedoch auch keine Lösung sein, wenn wir hoffnungsvoll und ernsthaft etwas verbessern wollen. Weil also echte Systemveränderung schwierig ist, machen wir das, was kurzfristig möglich ist:

  • Themenspezifische Trainings, Coachings und Mediationen
  • Etablierung von KI-Tools als Assistenz
  • Anpassung von Arbeitsmodellen in Richtung mobiles Arbeiten
  • Führungscurricula und Kompetenzprogramme

Wohl wissend, dass auch hier in den meisten Fällen gilt: Diejenigen, die offen für solche Maßnahmen sind, profitieren am meisten davon, wodurch Ungleichheiten evtl. verschärft werden.

2 Konsequenzen für Organisationen und Führungskräfte

2.1 Maßnahmen nicht isoliert durchführen, sondern als Paket

Weil beinahe jede Einzelmaßnahme Nebenwirkungen erzeugt, sollten flankierend immer strukturelle Veränderungen mitgedacht werden.

Am Beispiel KI-Nutzung:

  • KI-Recherchen greifen logischerweise auf vorhandene Daten zurück. Wurden diese Daten jedoch aus einer bestimmten Sichtweise verfasst, wird durch die Nutzung der Daten diese Sichtweise verstärkt (Stichwort: Bias). Einfach formuliert: Wird auf Daten zurückgegriffen, die nur von weißen Männern zwischen 25 und 30 Jahren verfasst wurden, braucht es eine diverse Gruppe, um diese Daten zu bewerten.
  • Der Zugang zu KI-Tools sollte allen zugänglich sein.
  • Es braucht ein Mentoring für weniger digital-affine Gruppen.

2.2 Kleine kulturelle Veränderungen

Um Abhängigkeiten von individuellen Kompetenzen zu verhindern, braucht es gleichzeitig kleine Eingriffe, die jedoch langfristig den kulturellen Rahmen verändern können:

  • Transparente Beförderungskriterien statt rein informellen Entscheidungen
  • Standardisierte Kompetenzprogramme und Führungscurricula anstatt individuellen Leistungsbeurteilungen
  • Interne (Pflicht-)Seminare für alle anstatt freien Weiterbildungsbudgets, die nur wenige nutzen
  • Rotationsprogramme, um Wissen und Chancen fair zu verteilen

2.3 Reflexive Führung fördern

Postmoderne Organisationen brauchen Führungskräfte, die verstehen, dass Maßnahmen Nebenwirkungen haben, Verantwortung immer geteilt werden sollte und sie daher häufig kontraintuitiv handeln sollten:

  • Diejenigen zu Fortbildungen schicken, die keine Lust haben.
  • Aufgaben an diejenigen verteilen, die etwas noch nicht können.
  • Und diejenigen zurück pfeifen, die nur allzu gerne neue Aufgaben übernehmen.

Sie sollten daher immer die langfristige Perspektive mitdenken:

  • Kurzfristig ist es sinnvoll, Aufgaben an bereits kompetente Mitarbeiter*innen zu verteilen, weil es Zeit spart und die Qualität vermutlich passt.
  • Langfristig ist es sinnvoller, genau das Gegenteil zu tun, um Kompetenz- und Verantwortungsverhältnisse zu verändern.

Mir ist vollkommen klar, dass damit ein riesiger Aufwand einhergeht, gerade weil die Zeit dafür im Grunde nicht zur Verfügung steht. Dennoch ist das Wissen um diese Effekte hilfreich, um zumindest in manchen Fällen kontra-intuitiv zu handeln.

2.4 Individuen nicht nur fördern, sondern auch unterstützen

Damit Einzelmaßnahmen die soziale Schere nicht noch weiter vergrößern, sollten Individuen nicht nur gefördert, sondern auch strukturell entlastet werden:

  • Lernzeit und Ressourcen garantieren: Wer KI-Tools, Wissen aus Seminaren oder Homeoffice nutzt, braucht Lernzeit, einen guten Zugang und Unterstützung.
  • Psychologische Sicherheit als Grundbedingung: Wer den Anschluss an die „early adopter“ nicht verpassen will, braucht das klare Signal aus der Führungsriege: „Es ist OK, etwas auszuprobieren und Fehler zu machen.“
  • Orientierung bieten statt nur auf Eigenverantwortung zu setzen: Das neoliberale Denken überfordert Mitarbeiter*innen oft mit Appellen wie „Du musst dich selbst entwickeln, wenn die den Anschluss nicht verpassen willst“ oder konkreter „Du musst KI nutzen“ oder „Du musst Verantwortung übernehmen“. Im Sinne einer kollektiv lernenden Organisation ist es sinnvoller, klare Lernpfade zu definieren und flankierende niederschwellige und verbindliche Hilfsangebote zu schalten.

3 Vom individuellen zum solidarischen Optimismus

3.1 Das Problem des traditionellen Optimismus

Damit stellt sich auch die Frage, ob wir uns den klassischen, individuellen Optimismus noch leisten können?

Der traditionelle Optimismus lautet: „Wir schaffen das, wenn wir uns anstrengen.“ Das klingt auf den ersten Blick motivierend, ist jedoch systemisch betrachtet problematisch:

  • Für Optimist*innen ist die Entscheidung für oder gegen eine Veränderung bereits abgeschlossen. Sie denken bereits an deren Umsetzung, während Skeptiker*innen noch mit der Entscheidung hadern.
  • Manche Pessimist*innen sehen sich selbst als wertvolle Ressource, indem sie auf mögliche Fehlentwicklungen hinweisen, was jedoch selten gerne gehört wird.
  • Andere Pessimist*innen haben Angst vor Veränderungen und sind deshalb kritisch. Auch damit vergrößert sich die Wissens- und Kompetenz-Lücke zu den Optimist*innen.
  • Optimist*innen nutzen Einzelmaßnahmen wie Coachings oder Seminare schneller und häufiger.
  • Da Unternehmen grundsätzlich dafür da sind, Veränderungen positiv anzugehen – alles ändere wäre paradox – kann die Illusion entstehen, dass Probleme im Grunde individuell vorhanden und folglich auch individuell zu lösen sind.

Dabei wird meistens vergessen, dass Skepsis heute oft die realistischere Sichtweise ist, sofern Pessimismus nicht pauschal bedeutet, dass alles immer schlimmer wird, sondern dass jede Veränderung neben einem positiven Effekt auch negative Nebenwirkungen nach sich zieht. Dies wiederum ist kein Argument gegen Veränderungen, sondern ein Argument für wohldurchdachte Veränderungen.

3.2 Prinzipien eines solidarischen Optimismus

Aus diesen Gründen können wir uns den klassischen, indivuellen und damit spalterischen Optimismus nicht mehr leisten. Stattdessen brauchen wir eine postmoderne Form des Optimismus, die nicht individuell überhöht und moralisiert (Sei doch optimistisch!), sondern einen Austausch, in dem sowohl die Optimist*innen als auch die Pessimist*innen voneinander lernen. Bezogen auf den Optimismus sprechen wir hier von einem relationalen oder solidarischen Optimismus: Optimismus ist keine persönliche Tugend, sondern eine Beziehungsqualität, mit der wir uns unterstützen, Kompetenzlücken kompensieren und uns gegenseitig entlasten, um gemeinsam etwas zu erreichen.

Das angestrebte Beziehungsziel lässt sich als Hoffnung auf ein besseres, produktives, gemeinschaftliches Miteinander begreifen. Und da Hoffnungen sich als Zusammenspiel von Zuversicht und Zweifel definieren lassen, brauchen wir für das Erreichen dieses Ziels sowohl die Skeptiker*innen als auch die Optimist*innen.

Deshalb gewinnen hier beide Seiten:

  • Pessimist*innen werden nicht stigmatisiert, sondern bringen wichtige Signale über Risiken, Grenzen und strukturelle Barrieren in die Diskussion mit ein.
  • Optimist*innen erweitern ihre Vorreiter-Rolle um eine Fürsorge-Funktion. Sie übersetzen, ermutigen, bauen Brücken und stellen Ressourcen zur Verfügung.

Optimismus wird damit zum Bindungskitt und nicht zu einer persönlichen Leistung.

Mehr zu einem solchen Bindungsmindset in meinem Buch (externer Link) „Hoffnung! Die unterschätzte Führungsstärke in turbulenten Zeiten

Von der Tabuisierung zur Inszenierung – Krankheit als neues Statussymbol

1. Verletzlichkeit als neue Währung

In klassischen kapitalistischen Kulturen erhielt man Anerkennung für Leistung, Stärke und Kontrolle. In der gegenwärtigen, postheroischen Kultur dagegen ist Authentizität und Verletzlichkeit eine neue Währung.

Damit entsteht eine neue Statuslogik: Nicht der Gesunde, Erfolgreiche oder Schöne steht im Zentrum, sondern der, der offen über sein Leiden spricht.

Lange Zeit galt Krankheit – besonders psychische – als etwas, worüber man schweigt. Krankheit bedeutete Schwäche, Scham und Kontrollverlust und damit etwas, das überhaupt nicht in unsere neoliberale Leistungsgesellschaft passt.

Dieses Schweigen prägte Familien genauso wie Organisationen und ganze Gesellschaften. Wer in Unternehmen psychisch war sprach nicht darüber, sondern schob lieber eine physische Krankheit vor.

In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich diese kulturelle Logik radikal verschoben. Heute wird über Depression, Angststörungen, ADHS, Burnout oder Autismus öffentlich gesprochen – in Talkshows, Podcasts und auf sozialen Medien. Diese neue Offenheit ist zunächst ein Fortschritt: Sie bricht Tabus, befreit von Scham und ermöglicht vielen Menschen, Hilfe zu suchen und Solidarität zu erfahren.

Doch gerade im Kontext sozialer Medien hat diese Entwicklung eine beunruhigende Wendung genommen, als wäre etwas aus dem Lot geraten. Anstatt einem Zuwenig haben wir jetzt ein Zuviel des Ganzen.

2. Die Logik der Sichtbarkeit

Plattformen wie TikTok oder Instagram belohnen als Aufmerksamkeitsmaschinen starke Emotionen, Mut und Individualität – je persönlicher und radikaler, desto besser.
In dieser Logik wird das Private gleichzeitig politisch und marktfähig. Der eigene Körper, die eigene Geschichte und sogar das eigene Leid werden zu Kommunikationsvehikeln.

Dadurch entsteht eine paradoxe Dynamik: Was früher tabu war, erhöht heute den eigenen gesellschaftlichen Status und verschafft damit Reichweite. Krankheit wird nicht mehr versteckt, sondern gezeigt – manchmal sogar ästhetisch inszeniert, mit sanften Filtern, Hintergrundmusik und emotionaler Erzählung. Krankheit wird in der kapitalistischen Logik zu einer Ware, die mit anderen Krankheiten um Aufmerksamkeit kämpft.

Damit geht es jedoch nicht mehr darum, sich einem kranken Menschen empathisch zu widmen, was eher in einem kleinen, sensiblen Kreis gelingt, sondern einem kranken Menschen lediglich für den Mut seines Outings in der Öffentlichkeit zu applaudieren.

3. Die Ambivalenz des Fortschritts

Diese Entwicklung hat zwei Gesichter:

  • Emanzipatorisch: Sie bricht Schweigen, schafft Bewusstsein und ermöglicht Solidarität durch Sichtbarkeit.
  • Problematisch: Sie kann dazu führen, dass Krankheit langfristig durch eine inflationäre Benutzung entwertet wird.

Wer sich und seine Sichtbarkeit v.a. über eine Krankheit oder Schwächen definiert, riskiert, in einer „Identität des Leidens“ stecken zu bleiben. Der Philosoph Byung-Chul Han würde sagen: In der „Transparenzgesellschaft“ wird alles Sichtbare zum Wert – selbst das, was eigentlich Intimität verlangt.

Damit bekommen Krankheit und Leiden zwar Aufmerksamkeit, es findet jedoch keine Heilung statt, weil Heilungsprozesse langsamer ablaufen und oftmals weit weniger spektakulär sind als Krankheiten. Heilungen fehlen das Affizierende, um auch weiterhin spannend zu sein.

Das gleiche gilt auch für andere Themen: Ein Absturz auf Drogen generiert wesentlich mehr Aufmerksamkeit als ein Treffen bei den Anonymen Alkoholikern.

4. Übertragung auf Unternehmen

In meiner Arbeit mit Führungskräften erlebe ich gerade drei Dimensionen:

  1. Das Sprechen über Krankheiten und Belastungen als echten Fortschritt
  2. Das Kokettieren mit Krankheit und Leiden, um Aufmerksamkeit zu generieren.
  3. Das Drohen mit Krankheit aus Mitarbeiterseite, wenn ihnen etwas nicht passt.

Anscheinend bekommen wir niemals das Gute ohne entsprechende Nebenwirkungen.

4.1 Psychologisierung der Arbeitswelt

Bis vor einigen Jahren galt noch: Wer sich als Opfer der Umstände zeigte, riskierte einen Gesichtsverlust oder Ausschluss aus der Gemeinschaft. Nur die Harten kommen in den Garten. Hier fehlte zwar häufig die emotionale Intelligenz in der Führung, es führte aber dazu, dass Selbstmitleid zumindest sozial nicht belohnt wurde.

Im gegenwärtigen kulturellen Klima – geprägt durch eine neue Sensibilität, psychologische Sprache und ehrliche Selbstoffenbarungen – wird auch in Unternehmen anders mit Schwächen umgegangen:

  • Verletzlichkeit gilt als authentisch.
  • Überforderung gilt als menschlich.
  • Opferstatus kann sogar moralische Autorität verleihen („Ich leide, also habe ich Recht“).

Das ist zunächst auch hier eine Emanzipation weg von einseitigen Leistungs-Idealen. Der gute Ansatz, Krankheiten und Schwäche aus der Tabuzone zu befreien, kippt jedoch um, wenn Verletzlichkeit zur Identitätsstrategie wird:

  • Mitarbeiter*innen sehen dann nicht mehr, was sie alles leisten, sondern betonen Überlastungen, fehlende Ressourcen oder „toxische Strukturen“.
  • Führungskräfte äußern Resignation: „Man kann ja eh nichts ändern.“
  • Ganze Teams entwickeln eine Kultur der Selbstentlastung: Schuld sind immer „die da oben“ oder „das System“.

Die Folge ist eine Art strukturelle Erschöpfungskultur. Das in Maßen sinnvolle Instrument des kollektiven Jammerns und Beschwerens wirkt nicht mehr entlastend, sondern verstärkt im Gegenteil die kollektive Belastung, weil das Positive nicht mehr gesehen wird.

Aus diesem Grund baue ich seit einiger Zeit in meine Seminare einen Hoffnungsquellen-Block ein:

Aus der (politischen) Aktivismus-Forschung lässt sich lernen:

  • Wer sich nicht dauerhaft in Frustrationen verlieren will, sollte auch sehen, was bereits erreicht wurde.
  • Gleichzeitig gilt es zu reflektieren, mit welchen Aktionen, Maßnahmen oder Haltungen die Ziele erreicht wurden, um zu wissen, wie neue Ziele angegangen werden sollten.

Der Philosoph Robert Pfaller würde sagen: Wir müssen wieder lernen, Lust an unserer Beute zu haben.

4.2 Opferhaltungen als Selbstdefinition

In vielen Unternehmen lässt sich heute eine subtile Kultur der Opferhaltung beobachten. Sie zeigt sich dort, wo Menschen Verantwortung abgeben, weil sie sich als Getriebene der Umstände erleben – „zu viel Arbeit“, „zu wenig Ressourcen“, „zu viele Veränderungen“. Diese Haltung ist menschlich verständlich, aber kulturell folgenreich: Sie legitimiert Stillstand.

Im Spannungsfeld zwischen dem Wunsch, weniger Belastung zu spüren, und der Angst vor Neuem entsteht eine paradoxe Dynamik. Einerseits wird Veränderung abgelehnt, weil sie Unsicherheit bedeutet. Andererseits wird Überforderung beklagt, weil alles so bleibt, wie es ist. Das Resultat ist eine kollektive Selbstentlastung: Man leidet lieber passiv unter dem System, als aktiv Verantwortung zu übernehmen, es zu gestalten.

So wird aus dem „Ich kann nicht“ ein „Ich muss nicht“.
Und aus berechtigtem Schutzbedürfnis entsteht schleichend eine Kultur der Ohnmacht, die sich unter dem Deckmantel der Erschöpfung selbst reproduziert.

In Verbindung mit der kulturellen Akzeptanz nicht nur von Krankheit und Verletzlichkeit, sondern auch von Leiden, befinden sich Führungskräfte hier in einer Zwickmühle: Einerseits müssen Sie Leistung fördern, um ihren Auftrag zu erfüllen. Andererseits ist es mittlerweile ein Tabu, Schwächen zu kritisieren und Krankheiten infrage zu stellen.

4.3 Krankheit als Machtinstrument

Zusätzlich wird in Unternehmen Krankheit heutzutage als Druckmittel eingesetzt: „Wenn ich nicht bekomme, was ich will, bin ich morgen krank.“

Dies wird durch eine deutliche Verschiebung von einem Arbeitgeber- zu einem Arbeitnehmermarkt ermöglicht: Mitarbeiter*innen wissen ihre neue Macht zu nutzen.

Auch hier zeigt sich, dass Krankheit nur vermeintlich ein Makel ist, sondern aus der Tabuzone heraus geholt wurde, um als Druckmittel eingesetzt zu werden, was Führungskräfte in eine schwierige Situation bringt: Die Krankheit an sich darf ich nicht kritisieren, auch wenn ich weiß, dass sie im Grunde nicht existent ist.

Die Parallelen zur skizzierten gesellschaftlichen Kultur liegen auf der Hand: Auf TikTok gilt Krankheit mittlerweile als Statussymbol. In Unternehmen wird sie als Symbol der Stärke und des Mutes eingesetzt. Krankheit ist kein Tabu mehr. Während früher ein Mitarbeiter „heimlich“ krank wurde, wird heute offen damit gedroht.

4.4 Soziale Kulturen verstehen

Der klassische Dreiklang zum Verständnis einer sozialen Kultur hat sich damit verschoben:

Boomer, Gen-X, Gen-Y
  1. Wofür bekommt man Anerkennung? → Für Leistung, Belastbarkeit und Anpassung.
  2. Worüber wird nicht gesprochen? → Über Stress, Überlastung oder psychische Probleme.
  3. Was ist verboten oder wird sanktioniert? → Fehlzeiten, mangelnde Leistung, Fehler durch Schwächen.
Gen-Y
  1. Wofür bekommt man Anerkennung? → Für Krankheit, Verletzlichkeit, Unangepasstheit.
  2. Worüber wird nicht gesprochen? → Weniger über Leistung und Erfolge.
  3. Was ist verboten oder wird sanktioniert? → Krankheiten, Schwächen oder Opferhaltungen zu kritisieren ist zwar nicht verboten, wird aber sozial stark sanktioniert. Stichwort: Bodyshaming

Fazit:

Um aus der Zwickmühle herauszukommen, einerseits Leistung zu fördern und andererseits echte Hilfsbedürftigkeit anzuerkennen, können Führungskräfte folgendes tun:

  1. Analyse der Anliegen: Unterscheiden Sie zwischen einer echten Hilfsbedürftigkeit, Krankheit als Drohung und einem Leiden, um Aufmerksamkeit zu generieren.
  2. Psychologische Sicherheit statt psychologische Bequemlichkeit: Letztlich geht es immer um Hilfe zur Selbsthilfe. Verabschieden Sie sich von der Retter-Rolle: Wer vermeintlichen Opfern dauerhaft hilft, macht sie unmündig. Wenn Mitarbeiter*innen sagen „Ich kann das nicht“, kann das auch bedeuten „Ich will das nicht alleine machen“.
  3. Verantwortlichkeiten klären: Menschen dürfen Fehler machen und Zweifel äußern. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht auch Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen müssen. Wer genau weiß, wofür er oder sie zuständig ist und welche Rolle er oder sie im Team einnimmt, kann sich weniger leicht aus seiner Verantwortung stehlen.
  4. Verletzlichkeit statt Leiden: Eine moderne Führung löst den vermeintlichen Widerspruch zwischen Opferhaltungen und Leistung auf, indem sie Verletzlichkeit anerkennt und gleichzeitig Leistung einfordert. Verletzlichkeiten fördern die Teambindung, weil die Schwächen des einen durch die Stärken des anderen kompensiert werden. Dafür braucht es einerseits einen offenen Umgang mit Schwächen, andererseits aber auch den Stolz auf die eigenen Stärken, um die Schwächen anderer aufzuwiegen.