Archiv der Kategorie: Führung und Kommunikation

Starre Grenzen als Konflikt-Turbo

… und was die Quantenphysik mit Grenzziehungen zu tun hat.

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Grenzen als Machtinstrument

Grenzen bedeuten und verdeutlichen Macht, was nirgendwo deutlicher wird als auf einer Landkarte: Landesgrenzen zeigen, wer über welchen Bereich Verwaltungs- und Regierungsmacht besitzt. Wer über Macht verfügt, kann Grenzen setzen, bspw. als Eltern bestimmen, was zuhause erlaubt ist und was nicht. In Unternehmen werden Grenzen oft durch den Zugang zu Ressourcen definiert. Werden Grenzen akzeptiert, wird auch die Macht des oder der Grenzen-Definierenden akzeptiert. Werden Grenzen abgelehnt, kommt es zu Auseinandersetzungen.

Fließende Grenzen

In der Natur gibt es auch Grenzen, insbesondere zwischen Wasser und Land. Diese Grenzen sind allerdings nicht starr, sondern fließend, was anhand von Ebbe und Flut sehr deutlich wird. Ähnliche natürliche Grenzen gibt es bei Charaktereigenschaften von Menschen. Wenn wir sagen, jemand ist unpünktlich oder unzuverlässig, klingt das, als hätten wir es hier mit klar zu beschreibenden Grenzen zu tun. Dabei definiert sich die Unpünktlichkeit oder Unzuverlässigkeit erst durch den Vergleich mit der Pünktlichkeit oder Zuverlässigkeit anderer. Nehmen wir jedoch die klar definierten und oftmals mit dem Lineal gezogenen Landesgrenzen auf einer Landkarte (siehe die Grenzen der US-Bundesstaaten) als Vorbild für menschliche Eigenschaften anstatt der natürlichen Grenzziehungen an einem Meeresufer, sind Konflikte vorprogrammiert, da Grenzen dann nicht mehr als fließend betrachtet werden, sondern machtvoll definiert und durchgesetzt werden wollen. Wäre es stattdessen nicht eine spannende Vorstellung, sich einen Flussverlauf oder einen Berggrad als Vorbild zu nehmen? So wie die Grenzen durch den Bayerischen Wald, die Oder, Maas, Our, den Rhein, Bodensee und die bayerisch-österreichischen Alpen Tschechien, Polen, die Niederlande, Luxemburg, Frankreich, die Schweiz und Österreich unscharf von Deutschland trennen, sind auch Eigenschaften von Menschen unscharf und bieten damit eine jederzeit fließende, immer wieder neu zu definierende Diskussionsgrundlage.

Klassische Physik versus Quantenphysik

Einen großen Anteil an unserem Verständnis von Grenzen hat die klassische Physik:

  • Ein Schalter ist an oder aus.
  • Ein Objekt wird magnetisch angezogen oder nicht.
  • Ein Objekt schwimmt oder geht unter.

In der Quantenphysik werden diese strikten Grenzen aufgehoben (siehe für eine kurze und einfache Einführung hier (externer Link): https://www.youtube.com/watch?v=tt0uynvzBUQ). Von weitem scheinen die Grenzen unseres Körpers oder der Erde klar definiert zu sein. Je näher wir jedoch herangehen, desto unschärfer werden die Grenzen und desto unklarer wird es, wo das eine aufhört und das andere anfängt. Aus der Nahsicht sind Grenzziehungen zwischen Land und Wasser nicht mehr so eindeutig wie aus der Ferne. Und in unserer Haut nisten sich Partikel ein, die nicht zu uns gehören, bspw. die Luft unter unseren Nägeln oder Mikroben auf der Haut. Betrachten wir unseren Körper noch genauer, erkennen wir, dass die Atome und Elektronen als kleinste Bausteine unseres Körpers niemals still stehen, sondern immer in Bewegung sind. Deshalb geht die Quantenphysik davon aus, dass ein Zustand wie eindeutig 0 oder eindeutig 1 nur selten vorkommt. Stattdessen befindet sich ein Objekt, bzw. dessen Atome, in der Mehrzahl der Momente in einem Zustand zwischen 0 und 1. Fällt bspw. ein Glas auf den Boden, ist es (evtl.) erst ganz am Ende eindeutig kaputt. Im Moment des Aufpralls ist es sowohl ganz als auch kaputt. Es hat sich sozusagen noch nicht entschieden, pendelt also zwischen 0 und 1.

Übertragen wir dieses Phänomen auf uns Menschen gibt es auch hier in den wenigsten Fällen Menschen, die eindeutig unzuverlässig oder unpünktlich sind. Auch hier sind die Grenzen fließend.

Grenzen fördern die eine temporäre Fokussierung

Dennoch brauchen wir Grenzen, um uns zu fokussieren. Würden wir tatsächlich annehmen, dass alles fließend ist, würde uns dies sicherlich überfordern. Als Führungskraft müssen Sie eine (künstliche) Grenze zu Themen wie Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Motivation, Kundenfreundlichkeit, usw. definieren. Diese Grenze besteht jedoch lediglich für den aktuellen Zeitpunkt und ist als Diskussionsgrundlage beständig auf dem Prüfstand.

Damit wird deutlich, dass Grenzen nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich variabel sind. Dass sich für den Aufenthaltsort eines Elektrons lediglich eine Wahrscheinlichkeit berechnen lässt, bedeutet auch, dass das Elektron irgendwann einmal an einem x-beliebigen Ort auftauchen wird. Entsprechend sind auch die Grenzen, die wir selbst setzen variabel – oder sollten es sein. Stellen wir heute eine Regel auf, ist diese Regel von der Zeit abhängig, in der sie aufgestellt wurde und kann (oder sollte) sich entsprechend mit dem zeitlichen Kontext weiterentwickeln.

Sind jüngere Menschen weniger resilient als früher?

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Weniger Stress – mehr Stressempfinden

Fakt ist: Das Stressempfinden hat zugenommen. Noch nie fühlte sich die Menschheit so erschöpft wie heute. Dabei hat der tatsächliche Stress im Vergleich zu früher sicherlich nicht zugenommen. Ich möchte jedenfalls nicht das Leben meiner Eltern gelebt haben – mit Vertreibung als Kind, Schlägen in der Schule und Zuhause und später dominanten Chefs und mit dem Geld lange Zeit immer gerade so mit der Lippe über Wasser.

Ein Forscher der Universität Mainz (externer Link) jedenfalls geht davon aus, dass gerade die junge Generation nicht mehr so resilient ist wie die Vorgängergenerationen (auch wenn Generationenfragen immer ein wenig heikel sind).

Die Diskussion nach der Resilienz ploppte aktuell (Juli 2023) durch das Ausscheiden der Deutschen Fußball-National-Damenschaft wieder auf. Unsere Frauen konnten mit dem unerwarteten Widerstand der Südkoreanierinnen nicht umgehen, wären also weniger resilient. An dieser Stelle würde ich lieber die Kirche im Dorf lassen. Denn vielleicht ist das Ganze auch einfach ein riesengroßer Zufall. Ein Tor anstatt einem Lattentreffer und wir hätten keine Diskussion über ein anti-resilientes Nationalteam am laufen. Aber hey! Wir haben beinahe Sommer. Kümmern wir uns also um die echten Fakten.

Nun belegen neuere Studien tatsächlich eine geringere Resilienz bei jüngeren Mitarbeiter*innen (die Studien aus Mainz waren aus 2018). Laut der Studien sind sie sensibler, haben mehr Krisen im Kopf, empfinden einen größeren Druck (was wohl auf alle jüngeren Generationen zutrifft) und schneller enttäuscht, wenn ihr Humor nicht verstanden wird.

Warum sind jüngere Menschen häufig weniger resilient?

2014 schrieb ich zum ersten mal auf diesem Blog über Resilienz. Wow! Schon fast 10 Jahre ist das her. Und zufälligerweise ebenfalls über die Nationalmannschaft. Damals lief es recht gut für die Deutschen. Wir erinnern uns: Brasilien gegen Deutschland: 1 zu 7. Those were the days.

Da ich damals schon recht ausführlich über Resilienz schrieb, folgt hier lediglich eine kurze Zusammenfassung, um zu klären, warum junge Menschen evtl. weniger resilient sind. Was also macht einen Menschen resilient? Dazu gibt es einige Faktoren, auf die sich die Resilienz-Forschung einigen konnte:

  • Zielorientierung: Wer weiß, wofür er leidet, hält einiges mehr aus, als jemand, der einfach nur so leidet. Stellen Sie sich dazu einfach vor, Sie und ein Kind von Ihnen (oder ein anderer lieber Mensch) wären von einem Terroristen gekidnappt worden. In der Version A befiehlt Ihnen der Terrorist, ein Messer durch ihre Hand zu rammen, ansonsten würde er selbst Hand anlegen. In der Version B sagt der Terrorist zu Ihnen: Wenn Sie ein Messer durch Ihre Hand rammen, kommt Ihr Kind frei. Schätzen Sie bitte für beide Versionen Ihren Schmerz auf einer Skala von 0-10 ein. Ich denke, es ist Ihnen klar, worauf ich hinaus will. Schmerz ist relativ. Wenn ich weiß wofür, ertrage ich mehr als wenn es einfach so passiert. Nun stellt sich die große Preisfrage, wofür junge Menschen leiden, wenn es hart auf hart kommt? Die „Letzte Generation“ ist sicherlich leidensfähig. Diese Leute haben ein Ziel. Aber was ist mit all den anderen? Während früher geackert wurde, um sich ein teures Auto zu leisten, ein Haus zu bauen und Karriere zu machen, sind viele dieser Ziele obsolet. Die Welt erscheint aufgrund der täglichen Hiobsbotschaften immer weniger rettbar. Und der Kinderwunsch sah auch schon mal bessere Zeiten. Kein Wunder, dass jungen Menschen die Lebensziele abhanden kamen. Und damit fehlt auch häufig der Sinn im Leben. So lebe ich von Moment zu Moment oder von Event zu Event, es ergibt sich jedoch kein großer biographischer Zusammenhang.
  • Optimismus: Damit habe ich bereits den nächsten Punkt angesprochen. In einer Welt voller globaler Krisenherde fällt es immer schwerer, sich mit einem optimistischen „Einfach weitermachen“ auf das eigene kleine Leben zu konzentrieren. Darf ich mir das überhaupt erlauben in dieser Welt optimistisch zu sein? Wäre das nicht blauäugig? Wer in den medialen Blätterwald blickt erkennt jedenfalls: Der Pessimismus gibt den Ton an.
  • Persönlicher Einfluss: Bei all dem erscheint der eigene Einfluss viel zu klein, um einen Unterschied in der Welt auszumachen. Während die Vorgängergenerationen die Dramen der Welt viel weniger und viel langsamer mitbekamen, konnten sie sich auf ihr eigenes Leben konzentrieren. Vermutlich dachten sie viel weniger über ihren Einfluss auf die Welt nach, sondern machten einfach: Ein wenig Mülltrennung hier, ein bisschen Stromsparen da, ansonsten wurde mehr gelebt und gemacht als gedacht. Heutzutage wissen wir: Alles was ich mache hat Schattenseiten. Wer E-Autos fördert, fördert gleichzeitig den Abbau von Cobalt in Afrika (externer Link). Und dass unser sorgsam getrennter Plastikmüll zu großen Teilen auf afrikanischen Müllhalden oder gleich im Meer landet, wissen wir auch (externer Link). Warum also sich anstrengen, wenn es ohnehin nichts bringt. Eine solche Haltung kann schnell zu einer allgemeinen Grundhaltung führen und sich auch aufs Berufliche übertragen.
  • Akzeptanz einer schwierigen Situation: Um resilient zu werden muss ich auch lernen, Situationen, die ich nicht verändern kann auszuhalten (siehe dazu auch meine Artikel zum Thema „Radikale Akzeptanz“ und „Techniken zum Erlernen einer Radikalen Akzeptanz“). Wer jedoch zur Schule gefahren wird, während unsereins bei Wind und Wetter kilometerweit gelaufen ist, nicht mehr gezwungen wird, ein Instrument zu lernen, ungeliebte Bekannte mit einem Klick „entfreunden“ kann und aufgrund des Personalmangels leichter als früher seinen Job wechseln kann, wenn es nicht mehr passt, muss sich nicht mehr mit Widerständen arrangieren.
  • Soziale Verbundenheit: Bislang schauten wir uns v.a. persönliche Komponenten an. Dabei spielt für die Resilienz auch der soziale Zusammenhalt eine enorme Rolle. Kein Wunder, dass sich in Krisenzeiten die Menschen wieder mehr zurückziehen und auf Freunde und Familie konzentrieren. Nun haben gerade jüngere Menschen in der Regel ein größeres soziales Netzwerk als die Vorgängergenerationen. Dabei zeigen Studien immer wieder (Quelle: Mein Gedächtnis), dass weniger Personen, auf die ich mich wirklich in der Not verlassen kann wesentlich resilienter machen als ein großes Netzwerk voller Menschen, die lediglich ab und an meine Nachrichten „liken“. Follower sind nunmal kein tragendes Netzwerk. Und ein solches entsteht auch nicht virtuell, sondern erst durch gemeinsame reale Aktionen, Projekte oder ganz häufig die gemeinsam (erlittene) Schul- oder Uni-Zeit.

Unter’m Strich steht die jüngere Generation also tatsächlich aufgrund der Globalisierung und Digitalisierung in Sachen Resilienz schlechter da als ihre Vorgängergenerationen.

Was jüngere Menschen selbst tun können?

Die Konsequenzen liegen auf der Hand:

  • Weniger Krisen konsumieren,
  • sich selbst klare Ziele setzen (und dennoch mit ein wenig Chaos im Leben rechnen),
  • den eigenen Einfluss gedanklich auf sein Umfeld begrenzen,
  • mehr reale Freunde treffen und
  • schwierige Situationen aushalten lernen und nach Lösungen suchen.

Was Führungskräfte tun können?

  • Klare Ziele setzen und den Sinn der Arbeit erläutern,
  • die Ziele optimistisch verfolgen,
  • den Einfluss jeder einzelnen Person analysieren und betonen,
  • erklären, warum es wichtig ist, Herausforderungen anzunehmen und auch mal zu scheitern und
  • reale soziale Kontakte insbesondere bei virtuellen Teams soweit möglich fördern.

Die erschöpfte Gesellschaft und der Aufstieg „Sozialer Unternehmen“

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Symptome einer erschöpften Gesellschaft

Die Bevölkerung ist erschöpft, sagt der bekannte Sozialforscher Klaus Hurrelmann (externer Link). Als Grund dafür macht er eine Art gesellschaftliche posttraumatische Belastungsstörung aus. Eine Art deshalb, weil sich die Erkrankung einzelner nicht auf eine ganze Gesellschaft übertragen lässt. Dennoch ist das Bild der PTBS hilfreich, um zu verstehen, warum sich viele Menschen derzeit erschöpft fühlen und ins Private zurückziehen (externer Link).

Die Symptome einer PTBS lauten:

  • Wiedererleben: Nach der Krise ist vor der Krise: Nach Corona kam der Krieg, damit einhergehend erhöhte Heizkosten, dann die Folgen des Klimawandels, usw.
  • Verdrängen: Wie gezeigt fliehen viele Menschen vor aktuellen Krisen ins Private. Familie und Freundschaften werden wieder wichtiger.
  • Ein Gefühl ständiger Bedrohung: Nicht nur die Krisen sind omnipräsent in Funk und Fernsehen, auch die Auswirkungen auf das eigene Leben sind es. Während Corona griff der Staat direkt in das Leben der Bürger*innen ein. Und heute geht der Spuk um den Abstieg Deutschlands um, wodurch auch der eigene Job gefährdet sein könnte, die Digitalisierung könnte uns von unserer Arbeit und unseren Kolleg*innen entfremden (siehe hier), KI-Lösungen bedrohen Arbeitsplätze ebenso, die Lebenshaltungskosten wurden teurer, usw.

Die Erschöpfung ist jedoch nichts spezifisch Deutsches. Auch nach der aktuellen Wahl in Spanien (Juli 2023) hatten die Menschen anscheinend genug von den stetigen Veränderungen und wünschten sich wieder etwas mehr Konservatismus.

Umgang mit einer PTBS in der Gesellschaft

Laut Hurrelmann müssen die Symptome zuerst einmal ernst genommen werden. Die physischen Folgen von Corona (Stichwort: Long-Covid-Plakate) werden angegangen. Auf der psychischen und sozialen Seite scheint es immer noch zu hapern. Während die psychischen Folgen nicht nur bei Jugendlichen, sondern auch bei Erwachsenen aufgrund der Pandemie und dem Umgang damit in den Hochzeiten von Corona als Unkenrufe von Traumatherapeut*innen abgetan und ungern gehört wurden, werden die psychischen Folgen auch heute noch unterschätzt. Problematisch dabei ist die Messbarkeit psychischer Probleme. Einen einfachen Test wie bei Corona gibt es dafür nicht.

Desweiteren braucht es laut Hurrelmann mehr Kohärenz, d.h. konkret:

  1. Ein Verstehen der Situation: Warum gehen die Preise hoch? Warum sollten wir welche Prozesse bei uns digitalisieren? Usw.
  2. Handlungskompetenz: Was kann ich selbst konkret tun?
  3. Sinnhaftigkeit des Handels: Macht es einen Unterschied, wenn ich so oder so handle? Was bringt mein Handeln am Ende?

Wenn einseitiger Optimismus erschöpft

Oft wird behauptet, dass wir in einem Land leben, in dem es immer mehr Verbote gibt: Du darfst nicht mehr so viel heizen, die Beweggründe des russischen Einmarschs nicht verstehen, sollst nicht mehr so viel Fleisch essen, usw. Wir kennen das alles. Was wäre jedoch, wenn wir stattdessen eher in einer Kultur leben, die das optimistische alternativlose Ja-Sagen propagiert und es damit letztendlich ein wenig übertrieben hat: Ja zu Corona-Maßnahmen. Ja zur Unterstützung der Ukraine. Ja zu den Maßnahmen gegen den Klimawandel. Auch die Sparte von New Work namens Feelgoodmanagement ist ein einziges großes Ja.

Optimismus ist wichtig, gerade im Umgang mit Krisen. Aber es gibt auch Grenzen, wenn der Optimismus als zu viel wahrgenommen wird.

Zudem sind auch vermeintlich „negative“ Emotionen wichtig in unserem Leben. In einer Studie von 1997 ließ der Psychologieprofessor James Gross 180 Frauen in zwei Gruppen traurige, emotionale und neutrale Filme anschauen. Die erste Gruppe sollte keine Gefühle zeigen. Die zweite Gruppe durfte ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Gruppe 2 war daraufhin wesentlich begeisterter von den Filmen. Gruppe 1 jedoch war erschöpfter.

Daraus lässt sich lernen, dass es nicht nur darum gehen sollte, Menschen in Veränderungen mitzunehmen. Auch Ärger und Enttäuschungen brauchen einen Raum, um gehört zu werden, damit Veränderungen einen nachhaltigen Erfolg haben.

Vielleicht liegt die Erschöpfung also tatsächlich auch in unserem dauerhaften Ja-Sage-Modus, während die Bedenken und Sorgen oftmals zu wenig ernst genommen werden.

Der Aufstieg „Sozialer Organisationen“

Was bedeutet nun all das für Unternehmen, abgesehen davon dass sich das Thema „Umgang mit Dauerbelastungen“ auch in meinen Seminaren seit über einem Jahr zu einem „Trend“ entwickelte?

Interessanterweise stellte die Deloitte Human Capital Trendstudie (externer Link) bereits 2018 den Aufstieg „Sozialer Organisationen“ fest. Ein soziales Unternehmen verbindet die Ziele Wachstum und Gewinn mit der Notwendigkeit, die Umwelt und ihre Belegschaft ebenso zu fördern. Es geht also nicht mehr um Agilität und Kundenfreundlichkeit über alles, sondern auch um Werte wie Nachhaltigkeit und Mitarbeiter*innenorientierung.

Der Aufstieg „Sozialer Organisationen“ hat drei große Treiber:

  1. Wertewandel: Kund*innen von heute kaufen nicht nur ein Produkt, sondern ein ganzes Wertepaket. Und junge Bewerber*innen achten ebenso mehr als früher auf die sozialen und umweltverträglichen Werte eines Unternehmens.
  2. Unternehmen statt Politik: Das Vertrauen in die Politik ist auf einem Tiefpunkt angelangt. Was sich bereits 2018 ankündigte, hat sich durch Corona, den Krieg, den Klimawandel, etc. nur noch verschärft. Von Unternehmen wird erwartet, dass sie dieses Führungsvakuum füllen und sich klar zu Fragen der Diversity, Nachhaltigkeit, Gesundheitsversorgung und Cybersicherheit positionieren.
  3. Schnelligkeit als Belastung: Viele Menschen haben das Gefühl, dass „Science Fiction“ bereits „Science Fact“ ist. Der technologische Wandel verläuft rasant und bringt unvorhergesehene Auswirkungen für jede/n Einzelne/n mit sich. Das Menschliche bleibt da bisweilen auf der Strecke.

In Verbindung mit der grassierenden Erschöpfung lässt sich hier der Schluss ziehen, dass Unternehmen auch im Umgang mit einer Art PTBS eine Verantwortung haben oder sich dieser zumindest bewusst werden sollten, um die Lücke zu füllen, die gesellschaftspolitisch offensichtlich nicht gefüllt werden kann. Und damit ist keine Ersatztherapie gemeint, sondern lediglich die Möglichkeit, sich über soziale und psychische Belastungen in seinen Teams auszutauschen.

Arbeitswelt und Führung der Zukunft

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Arbeitswelt der Zukunft

Die Arbeitswelt der Zukunft ist flexibel, virtuell und von Netzwerken geprägt:

  • Flexibilität: Mitarbeiter*innen werden sich auf eine hohe Flexibilität einstellen müssen. Sie werden mal im Homeoffice arbeiten, mal vor Ort. Sie werden mal in dem einen, mal in einem anderen Team arbeiten, je nachdem, welche Kompetenzen gerade gebraucht werden. Dies gilt sicherlich nicht für alle Arbeitsbereiche. Doch je projektlastiger und kreativer eine Tätigkeit ist, desto mehr Flexibilität wird verlangt werden. Damit sollten Mitarbeiter*innen der Zukunft eine Menge Sozialkompetenz, Neugier und Offenheit mitbringen, um sich immer wieder auf neue Aufgaben, Situationen und Teams einzulassen.
  • Virtualität: Hier gilt v.a. die Devise: Die Technik muss bereit gestellt werden und funktionieren.
  • Netzwerke: Aufgrund der hohen Flexibilität wird Leistung wichtiger als Hierarchien.

Organisationskultur der Zukunft

Damit trotz stetiger Wechsel keine Unruhe aufkommt, braucht es einen starken Fokus auf eine offene, vertrauensvolle Organisationskultur:

  • Positive Lern- und Fehlerkultur: Vertrauen wird am besten geschaffen durch die Möglichkeit aus Fehlern zu lernen, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen. Dazu gehört auch eine Kultur des offenen, gegenseitigen Feedbacks.
  • Kultur des offenen Austauschs: Wenn sich Menschen immer wieder aufeinander einlassen müssen, um vertrauensvoll und kreativ zusammen zu arbeiten, braucht es institutionalisierte Möglichkeiten des Austauschs und der Begegnung, bspw. eine Teamküche oder ritualisierte Treffen, in denen nicht über Arbeit gesprochen wird.
  • Kultur der persönlichen Weiterentwicklung: Und schließlich braucht eine mitarbeiterorientierte Kultur, in der die Weiterentwicklung jedes/r Einzelnen hoch aufgehängt ist, bspw. durch ein persönliches zeitliches Weiterbildungskontigent.

Führungsrollen der Zukunft

Während die ersten beiden Aspekte auch eine zentrale Aufgabe der gesamten Organisation sind, haben Führungskräfte insbesondere beim Aspekt der Weiterentwicklung der Mitarbeiter*innen eine zentrale Bedeutung. Folgende Rollen von Führungskräften werden daher in der Zukunft besonders wichtig sein:

  • Vorbild & Mentor*in: Einer Führungskraft, die Mitarbeiter*innen nicht als Vorbild betrachten, folgt niemand. Wenn also Hierarchien in einer netzwerkbasierten Zusammenarbeit zunehmend an Bedeutung verlieren, müssen Führungskräfte mehr als früher mit dem was sie tun und sind überzeugen und bestenfalls eine Art Mentor für Mitarbeiter*innen darstellen.
  • Talent-Scout & Coach: Eine wichtige Aufgabe der Zukunft in Netzwerken für Führungskräfte wird der Fähigkeit zukommen, Talente zu erkennen und/oder diese entsprechend weiterzuentwickeln, um mit den stetigen Veränderungen in einer digitalen Welt mitzukommen. Wobei ein Coach seinen Coachees durchaus liebevoll auf die Füße tritt, wenn es notwendig erscheint.
  • Visionär*in & Optimist*in: Wenn Hierarchien flacher werden, reicht es nicht mehr aus, Aufträge von oben nach unten durchzureichen. Es braucht stattdessen im Rahmen der Gesamtvision eines Unternehmens eigene Visionen und Ansätze, um die Mitarbeiter*innen zu begeistern.
  • Netzwerker*in: Sollen Teams innerhalb eines Unternehmens neu zusammen gestellt werden, müssen Führungskräfte wissen, wer mit wem am besten zu einem neuen Projekt passt. Sie müssen also sowohl die Kompetenzen als auch die sozialen Dynamiken einschätzen können. Dazu braucht es gute Netzwerken.
  • Moderator*in & Mediator*in: Wenn sich Teams immer wieder neu zusammengestellt werden, braucht es Führungskräfte, die die Prozesse in solchen Teams gut moderieren und gegebenenfalls Konflikte schlichten.

Auf dem Weg zu einer humanen Digitalisierung

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In vielen Unternehmen ist die Digitalisierung weit vorangeschritten, in anderen wird immer noch gefremdelt. Dies liegt insbesondere an branchenspezifischen Einstellungen der Menschen. Eine Studie von Sebastian Wörwag gibt Aufschluss darüber, was unterschiedliche Branchen erwarten und befürchten.

Stimmungs-Status-Quo in verschiedenen Branchen

Grob zusammengefasst erwartet die IT-Branche mehrheitlich Positives von der Digitalisierung:

  • weniger Routineaufgaben
  • mehr (kreative) Freiräume, erst recht durch KI
  • und damit auch die Zunahme spannender Arbeit

In der Finanzbranche sieht es schon anders aus. Hier wird erwartet, dass …

  • zwar einerseits Routineaufgaben abgenommen werden, bspw. durch Chatbots,
  • andererseits jedoch Standardisierungen zunehmen und damit auch persönliche Entscheidungsfreiräume wegfallen.

Die Sozialen und Gesundheits-Berufe stehen der Digitalisierung besonders skeptisch gegenüber. Hier wird erwartet, dass digitalisierte Prozesse in diesen Berufen wenig bis gar nichts bringen. Ehrlicherweise muss man auch festhalten, dass eine Tätigkeit wie die Pflege an sich kaum digitalisiert werden kann. In ferner Zukunft könnten evtl. Pflegeroboter zum Einsatz kommen. Bis dahin bezieht sich die Digitalisierung von Prozessen v.a. auf Verwaltungstätigkeiten im Hintergrund.

Die Bildungsbranche wiederum erwartet v.a. mehr Freiräume für die Lehre und Forschung durch die standardisierte Digitalisierung von Prozessen, bspw. bei Laboruntersuchungen, die 1000 mal durchgeführt werden müssen.

Und in der Öffentlichen Verwaltung schließlich scheint eine Art Gleichmut vorzuherrschen: Während auf der einen Seite mehr Routineaufgaben erwartet werden, werden auf der anderen Seite digitale Hintergrund-Prozesse eingeführt, um die eigene Arbeit zu erleichtern. Damit halten sich Befürchtungen und Begeisterung die Waage.

Kreativität versus Digitalisierung

Ein Schlüssel zur Akzeptanz digitaler Prozesse ist definitiv die Einschätzung der Notwendigkeit von Kreativität in der eigenen Arbeit. Hier ergab die Untersuchung von Wörwag Erstaunliches:

  • Während die Notwendigkeit von Kreativität im Sozialen Bereich (18%) und Gesundheitsbereich (27%) am höchsten von allen untersuchten Branchen eingeschätzt wird (Durchschnitt aller Branchen 14%),
  • liegt sie im Bereich Bildung und Forschung bei überraschenden 10%. Um es noch einmal klar zu verdeutlichen: Die befragten Angestellten gaben lediglich zu 10% an, dass Kreativität in Lehre und Forschung wichtig ist.
  • Selbst die Öffentliche Verwaltung (15%) und das Finanzwesen (13%) liegen hier höher.
  • Noch extremer ist es in der IT. Hier gaben 0% an, dass Kreativität in ihrer Arbeit erforderlich ist. Daraus lässt sich auch erklären, warum KI in der IT so wichtig erscheint, was mich als Nicht-IT-ler erstaunt: Es scheint oftmals weniger um neue Ideen zu gehen, sondern mehr um die Umsetzung von Routine-Programmierungen oder die Wartung vorhandener Systeme.

Da jedoch digitale Prozesse, insbesondere KI und die Arbeit mit Algorithmen, bereits vorhandene Daten nutzen oder analoge Prozesse digital standardisieren, werden sie nicht damit verbunden, etwas Neues in die Welt zu bringen. Es geht also nicht darum, mit einer neuen Situation kreativ umzugehen.

Je wichtiger folglich für ein/e Mitarbeiter*in – unabhängig von der Branche – Kreativität ist, desto mehr wird er oder sie die Digitalisierung ablehnen, weil mit der Digitalisierung eher eine Standardisierung verbunden ist, in der Freiräume mehr beschnitten als gefördert werden.

Eine Faustformel zur Digitalisierung von Prozessen

Der Vergleich der Branchen zeigt deutlich, dass jede Branche anders bei der Digitalisierung tickt. Umso wichtiger ist es, nicht in einen Machbarkeitswahn zu verfallen, sondern sich genau zu überlegen, wann die Digitalisierung von Prozessen sinnvoll ist.

Im Sinne einer humanen Arbeit kann eine Faustformel (mit fünf Fingern) dazu lauten:

  1. Sinnvoller Zweck und Nutzen: Worin besteht der Nutzen des digitalisierten Prozesses? Soll er die Menschen entlasten? Schneller, agiler oder kundenfreundlicher („Ihre Nachricht kam an und wir kümmern uns darum …“) machen?
  2. Weiterentwicklung statt Entfremdung: Werden Prozesse digitalisiert, die den Menschen bislang Spaß machten? Werden sie also von ihrer Arbeit entfremdet? Verstehen die Mitarbeiter*innen noch, was bei digitalen Prozessen im Hintergrund passiert, auch um es Kund*innen verständlich zu machen? Oder nimmt die Digitalisierung dem Menschen ungeliebte Tätigkeiten ab und hilft ihm sich weiterzuentwickeln?
  3. Freiräume für persönliche Entwicklungen: Schaffen digitale Prozesse Freiräume zur Entwicklung der Mitarbeiter*innen an einer anderen Stelle? Oder gilt es nur noch, im Hintergrund digitale Prozesse zu beobachten und bei Fehlern einzugreifen? Kurzum: Macht die Digitalisierung die Arbeit spannender oder langweiliger?
  4. Bindung: Fördert die Digitalisierung die Bindung zueinander, bspw. weil digitalisierte Routineaufgaben Freiräume schaffen, die für kreative Prozesse im Team genutzt werden? Oder schafft die Digitalisierung (Stichwort: Onlinemeetings) mehr Distanz zwischen den Mitarbeiter*innen? Es ist erstaunlich, wie viele Teams sich online verabreden, nur weil es einfacher ist, obwohl alle am gleichen Ort sind.
  5. Teilhabe, Integration und Inklusion: Fördert die Digitalisierung die Teilhabe möglichst vieler Mitarbeiter*innen an der Arbeit oder auch Diskussionen und Abstimmungen? Schaffen bspw. Onlinemeetings bessere Zugänge für Gehandicapte? Denken wir dabei auch an Apps für Sehbehinderte, die ihnen helfen, Einkaufswaren zu scannen oder die Möglichkeit von Übersetzungsprogrammen im interkulturellen Austausch. Und auch zur Partizipation möglichst vieler Mitarbeiter*innen an Unternehmensprozessen lassen sich digitale Hilfsmittel (Onlinemeetings, Abstimmungsplattformen) gut einsetzen. Die Frage ist nur: Ist das auch gewünscht?

Zusammenfassen lassen sich diese 5 Aspekte auch in die 3 Bereiche des Organisatorischen, Persönlichen und Sozialen:

Literatur

Sebastian Wörwag, Andrea Cloots (Hrsg.) – Human Digital Work – Eine Utopie? Springer—Gabler, 2020, S. 127ff