Archiv der Kategorie: Führung und Kommunikation

Ross oder Reiter*in?

Bild von Freepik

Was erfahren wir über Persönlichkeitstests?

Psychologische Persönlichkeitstests in Unternehmen sollen ergründen, was Mitarbeiter*innen als Menschen ausmacht, was ihnen wichtig ist, was sie stresst und wie sie folglich geführt werden können, um erfolgreich(er) zusammen zu arbeiten.

Nehmen wir dazu als Beispiel das sehr häufig eingesetzte DISG-Modell:

  • Ein dominanter Stil steht u.a. für Entschlossenheit, Willensstärke, Konkurrenzdenken, Ergebnisorientierung, Durchsetzungsfähigkeit, Direktheit, Mut, manchmal auch Sturheit, Aggressivität, Hartnäckigkeit und Ungeduld.
  • Ein initiativer Stil deutet u.a. auf Beziehungsorientierung, Emotionalität, Gesprächigkeit, Optimismus, Spontaneität oder Geselligkeit hin.
  • Ein stetiger Stil zeigt sich u.a. in Treue, Loyalität, Hilfsbereitschaft, Teamfähigkeit, Unterstützung, Bescheidenheit, Geduld, Pragmatik, Zuverlässigkeit, Aufmerksamkeit, Beständigkeit und Verbindlichkeit.
  • Ein gewissenhafter Stil schließlich äußert sich u.a. über hohe Maßstäbe, Detailorientierung, Disziplin, Vorsicht, umfangreiche Analysen, Logik, Genauigkeit, Gründlichkeit und Vorausplanung.

Damit wird jedoch lediglich die Oberfläche einer Person beschrieben. Als Persona wird die nach außen gezeigte Einstellung eines Menschen bezeichnet. Dieses Bild kann mit dem Ich einer Person identisch sein, muss es jedoch nicht. Es kann sich auch lediglich um eine nach außen getragene Identität handeln, um gut durchs Leben (oder die Arbeit) zu kommen.

Am Beispiel des DISG-Modells: Vielleicht wurde ein Mitarbeiter so sozialisiert, dass er glaubt, mit einem gewissenhaften Stil würde er es am weitesten in der Arbeit bringen und Karriere machen. Oder aber der dominante Stil ist nicht nur ein Stil, sondern tatsächlich ein wesentlicher Teil des Ichs dieser Person.

Mit Hilfe eines Persönlichkeitstests finden wir also heraus, wie ein Mensch in seiner Umgebung auftritt, weil er glaubt, dass er so am besten (leichtesten, erfolgreichsten, reibungsfreiesten, …) durchs Leben kommt.

Die Frage nach dem Wofür?

Das gleiche Prinzip gilt für alle mir bekannten Persönlichkeitstest, was auch logisch ist. Es handelt sich schließlich um Persönlichkeits- und keine Ich-Tests. Aber reicht das aus? Wollen, dürfen oder sollten Führungskräfte hier eine Grenzen ziehen? Schließlich ist Führung keine Psychotherapie.

Wer mehr wissen will, kann sich in ein Gebiet einarbeiten, das seine Höhepunkte der Beliebtheit in den 70er bis 90er Jahren hatte, heute jedoch kaum noch bekannt ist: Die Transpersonale Psychologie. Einer der bekanntesten Vertreter dieser Richtung ist vermutlich Abraham Maslow. Die meisten werden sich an seine Bedürfnispyramide erinnern. Ganz oben in der Pyramide steht unter Selbstverwirklichung: Das eigene Potential voll ausschöpfen und damit eine Art Ich der Zukunft anzustreben.

Oder Sie stellen die Wofür-Frage. Ich beispielsweise bin ab und an dominant. Wofür?

  • Weil ich ungeduldig bin und will, das etwas vorwärts geht.
  • Weil ich manchmal denke, ich weiß es besser – was manchmal stimmt und manchmal nicht, vermutlich eine Trainer-Krankheit.
  • Weil ich meine Freiheit liebe und gerne selbst entscheide, bevor jemand anders über mich entscheidet.

Ich kenne aber auch die anderen Stile sehr gut:

  • Initiativ bin ich, weil ich weiß, dass eine gute, optimistische Zusammenarbeit mehr bringt und mehr Spaß macht, als nur alleine in meinem Kämmerchen vor mich hin zu werkeln.
  • Stetig bin ich, weil mir langfristige Beziehungen wichtig sind. Darauf aufbauend lässt sich nicht nur prima zusammenarbeiten, sondern sie erleichtern auch das Leben, wenn es weniger gut läuft.
  • Und gewissenhaft bin ich, weil ich Qualität in einer Arbeit als schön betrachte. Die Grafiken in Präsentationen können beinahe einem Kunstwerk gleichen, das gesehen werden will. Aber ganz ehrlich: Ich will auch im Anschluss keinen Ärger haben.

Die vier Stile sind sozusagen das Ross. Doch was ist mir als Reiter wichtig?

Summa summarum fühle ich mich in allen vier Bereichen wohl. Ich kenne also die vier möglichen Pferdchen in meinem Stall. Letztlich geht es mir persönlich jedoch darum, dass Menschen zueinander kommen. Ob dies per „dominanter“ Anleitung geschieht, mit Optimismus und Emotionalität, mit Geduld und Beharrlichkeit oder langsam und vorsichtig, erscheint mir nachrangig.

Wenn Sie also selbst nach der Analyse von Mitarbeiter*innen vor der Frage stehen, um was es einer bestimmten Person wirklich geht: Vielleicht bringen Sie mit der Wofür-Frage ein wenig Licht ins Dunkel dieser Persönlichkeit.

Der Kampf um gutes Personal

Bild von storyset auf Freepik

Bild von storyset auf Freepik

Neulich tauchte in einem Seminar die Frage auf, wie mit dem Personalmangel aus Führungssicht umgegangen werden sollte:

  • Sollen potentielle Bewerber*innen mit Samthandschuhen angefasst werden, selbst wenn sie sich nicht einmal die Webseite des Unternehmens angesehen haben, damit sie weiterhin Interesse haben?
  • Sollen Mitarbeiter*innen trotz eindeutiger Verfehlungen oder Schlampigkeiten gehätschelt werden, anstatt klar und deutlich zu sagen, was Sache ist, damit sie sich nicht frustriert abwerben lassen?

Eine Machtverschiebung hat stattgefunden

Fakt ist, dass aufgrund des Personalmangels eine Machtverschiebung stattfand. Das Angebot regelt die Nachfrage. Mitarbeiter*innen wissen das und stellen sich entsprechend darauf ein. Gibt es eigentlich noch Bewerbungs-Trainings? Oder müssen jetzt Unternehmen zurück auf die Rekrutierungs-Schulbank?

Angst essen Ehrlichkeit und Leistung auf

Die Tendenz liegt nahe: Wer Angst hat, Bewerber*innen oder Mitarbeiter*innen zu verprellen, vermeidet Kritik. Ansonsten könnte die Gefahr bestehen, dass Bewerber- und Mitarbeiter*innen sich anderweitig orientieren. Das wiederum geht nicht nur gegen die eigene Authentizität, langfristig leidet auch die Leistung des Unternehmens.

Dabei wirkt sich eine mangelnde Klarheit, die auch Kritik beinhaltet, nicht nur auf Einzelpersonen aus, sondern strahlt in das gesamte Unternehmen. Denn wer sich heute noch anstrengt könnte sich morgen schon denken: „Wenn ich mit einer mangelhaften Leistung so leicht durchkomme, warum strenge ich mich dann an?“

Damit besteht die Gefahr, dass langfristig die Stimmung kippt und auch diejenigen unzufrieden werden, die bislang noch zufrieden waren.

Wie also umgehen mit dem Dilemma „Kampf um gutes Personal“?

Der Umgang mit Bewerber*innen ist heikel, weil einem Bewerber*innen-Gehirn meist eher kurzfristige Gewinne (Homeoffice, Vergütung) wichtiger sind als langfristige Gewinne (gute Teambindung, spannende Arbeit, Möglichkeiten der persönlichen Weiterentwicklung). Dennoch kann es hilfreich sein, diesen Widerspruch anzusprechen: „Denken Sie nicht, dass Sie glücklicher wären, wenn Sie sich mit einer entsprechenden Vorbereitung gut in ein Team einfinden würden?“

Für Mitarbeiter*innen sollten jedoch klare Regeln gelten: Fehler müssen aufgearbeitet werden. Wer für eine Aufgabe ungeeignet ist, sollte sich weiterbilden oder eine besser geeignete Aufgabe bekommen. Auch eine Positive Führung bedeutet nicht, Mitarbeiter*innen emotional zu pampern, sondern sie im besten Sinne zu fördern, um etwas von ihnen fordern zu können.

Etabliert sich jedoch unternehmensweit eine Laissez-Faire-Haltung in der Hoffnung, so Mitarbeiter*innen zu halten, gehen langfristig auch noch die guten Leute verloren.

Das eigene Ich als Heimatquelle in Zeiten des Wandels

Bild von pikisuperstar auf Freepik

In einer alten Geschichte überqueren zehn Narren einen Fluss. Auf der anderen Seite angekommen zählen sie durch, ob es alle geschafft haben. Der erste Narr kommt jedoch nur auf neun, weil er sich selbst vergisst. Dem zweiten ergeht es ebenso. Sie sind schon ganz verzweifelt, weil sie glauben, einen von ihnen verloren zu haben. Da kommt ein Wanderer des Weges, erkennt, welchen Fehler sie gemacht haben und zählt die Narren seinerseits laut durch. Die Narren verstehen zwar ihren Fehler nicht so richtig, sind jedoch erleichtert, dass sie wieder alle beisammen sind.

Auf der Suche nach unserem Selbst

So ähnlich ergeht es uns allen. Wir besitzen einen Käfig voller Narren, vergessen jedoch, dass wir noch eine weitere Instanz als Chef dieser Narren haben (sollten). Diese Instanz wird unser Ich oder unser Selbst genannt. Und die Narren sind unsere Gefühle, Emotionen, Stimmungen, Gedanken oder komplexer innere Teilpersonen oder Antreiber.

Identifizieren wir uns in einzelnen Situationen vollkommen mit unseren einzelnen Narren, vergessen wir, dass diese nur einen Teil von uns ausmachen. Deshalb empfiehlt die Psychosynthese (nach Roberto Assagioli) eine Disidentifikation mit unserer einzelnen Erlebensmodalitäten, um uns in einem zweiten Schritt mit unserem Selbst zu identifizieren.

Wir disidentifizieren uns von unseren Narren, indem wir sie wahrzunehmen, ohne mit ihnen eins zu werden:

  • Ich habe körperliche Empfindungen (Schmerzen, Verspannungen, Unruhe, …), aber ich bin nicht meine körperlichen Empfindungen.
  • Ich habe Gefühle (Wut, Angst, Enttäuschung, …), aber ich bin nicht meine Gefühle.
  • Ich habe Gedanken, aber ich bin nicht meine Gedanken.
  • Ich habe Wünsche, aber ich bin nicht meine Wünsche.

Unser Selbst würde stattdessen sagen: Ich bin. Ich bin da. Ich bin präsent. Ich nehme wahr. Ich beobachte.

Bei der Identifikation mit dem Selbst ergibt sich jedoch ein Problem: Unser Selbst kann lernen, unsere inneren Narren mit Abstand zu beobachten („Aha, da ist also eine Wut“), es kann sich jedoch nicht selbst beobachten. Wir kommen unserem Selbst also nur mehr oder weniger indirekt auf die Spur, indem wir das aus dem Weg räumen, was nicht zu unserem Selbst gehört.

Unser Wille als Kern unseres Ichs

Stellen wir uns dazu einen Fluss vor, der automatisch seinen Weg sucht, wenn er nicht daran gehindert wird. Dieser Fluss hat einen Willen, eine Bestrebung, Motivation und Energie. Er hat den Antrieb, genau wie unser Selbst, sich eine Spur durch die Natur zu bahnen. Er verfolgt geduldig und beharrlich sein ganzes Leben lang seinen Weg. Sein Wille ist manchmal schwach, wenn sein Wasser beinahe versiegt. In anderen Zeiten ist sein Wille stark, wenn er zu einem reißenden Strom wird. Der Fluss untersteht gleichzeitig stetigen Veränderungen und doch ist das Wasser in ihm immer dasselbe. Es kommt stetig aus derselben Quelle.

In der Psychosynthese wird davon ausgegangen, dass unser Ich ein stabiler Teil unseres Wesens ist, während alles andere in uns einem stetigen Wandel unterzogen wird. Unser Selbst war schon immer da und wird uns trotz aller Veränderungen und Anpassungen als innere Heimatquelle dienen.

Wenn ich persönlich an meine Kindheit zurückdenke, war ich schon immer neugierig, eher zurückhaltend als mutig, hilfsbereit, ausgestattet mit einem großen Gerechtigkeitssinn und eher langsam und geduldig.

In der Grundschule hatte ich einen türkischen Freund. Ich erinnere mich sogar noch an seinen Namen: Ismail, wie in Moby Dick. Eines Tages auf dem Nachhauseweg wurde er von zwei „Schulkameraden“ verbal-rassistisch angemacht. Ich meinte nur, sie sollten ihn in Ruhe lassen, weil er mein Freund ist. Ich erinnere mich auch, dass ich nicht verstanden habe, warum er anscheinend stinken solle. Ich hatte damals keine Ahnung von Rassismus. Doch hier war ich einmal mutig. Ansonsten hielt sich mein Mut bspw. gegenüber Lehrer*innen eher in Grenzen. Ich war schon damals der stille Beobachter, der so lange abwartet, bis es fast schon zu spät ist um einzugreifen. Ich war schon als Kind der Typ, der draußen steht, während andere sich balgen.

Wie also könnte der Wille meines Ichs aussehen? Ich denke, mein größtes Bestreben besteht in der Harmonie der Menschen untereinander. Auf dem Weg dorthin darf durchaus gestritten werden. Ich will keinen Burgfrieden oder eine Pseudoharmonie, sondern eine langfristige, ehrliche Harmonie, bei der jeder Mensch sich ernst- und wahrgenommen fühlt.

Zu entdecken, dass Harmonie über einen gesunden Streit führen kann, oft sogar muss, hat jedoch in meinem Fall einige Jahrzehnte gebraucht.

Den eigenen Willen erkennen lernen

Den eigenen reinen Willen zu erkennen ist folglich nicht gerade einfach, weil sich uns stattdessen viele periphere Willensfragmente aufdrängen. Oftmals glauben wir unserem Willen zu folgen. Dabei folgen wir lediglich inneren Mustern und Prägungen, Stimmungen oder äußeren Erwartungen.

Umso wichtiger ist es, den eigenen Willen immer wieder zu überprüfen:

  • Mache ich oft eher das, was andere von mir wollen anstatt dem eigenen Willen nachzuspüren?
  • Handle ich impulsiv, weil ein inneres Muster („Sei stark, mach schneller, sei perfekt, sei beliebt“) in mir angetriggert wird (siehe auch: https://www.m-huebler.de/erlauber-ausnahmen-von-der-regel)?
  • Handle ich oft aus Wut, Angst, Enttäuschung, Ekel, … heraus?
  • Lasse ich mich leicht ablenken?
  • Mache ich das, was leicht erscheint, anstatt das, was ich wirklich will?
  • Handle ich (nicht), weil ich zu träge oder müde bin?
  • Mache ich mir zu viele Gedanken, bevor ich handle und mache dann im Zweifel lieber gar nichts?

Unser Selbst zu entdecken ist eine spannende Aufgabe, die uns – gerade in turbulenten Zeiten – eine immense Sicherheit bietet. Denn wer weiß, was ihm oder ihr wirklich wichtig ist im Leben, lässt sich nicht (mehr) so leicht aus der Ruhe bringen.

Literatur

Ken Wilber – Wege zum Selbst

Piero Ferrucci – Werde was du bist

Starre Grenzen als Konflikt-Turbo

… und was die Quantenphysik mit Grenzziehungen zu tun hat.

Bild von rocketpixel auf Freepik

Grenzen als Machtinstrument

Grenzen bedeuten und verdeutlichen Macht, was nirgendwo deutlicher wird als auf einer Landkarte: Landesgrenzen zeigen, wer über welchen Bereich Verwaltungs- und Regierungsmacht besitzt. Wer über Macht verfügt, kann Grenzen setzen, bspw. als Eltern bestimmen, was zuhause erlaubt ist und was nicht. In Unternehmen werden Grenzen oft durch den Zugang zu Ressourcen definiert. Werden Grenzen akzeptiert, wird auch die Macht des oder der Grenzen-Definierenden akzeptiert. Werden Grenzen abgelehnt, kommt es zu Auseinandersetzungen.

Fließende Grenzen

In der Natur gibt es auch Grenzen, insbesondere zwischen Wasser und Land. Diese Grenzen sind allerdings nicht starr, sondern fließend, was anhand von Ebbe und Flut sehr deutlich wird. Ähnliche natürliche Grenzen gibt es bei Charaktereigenschaften von Menschen. Wenn wir sagen, jemand ist unpünktlich oder unzuverlässig, klingt das, als hätten wir es hier mit klar zu beschreibenden Grenzen zu tun. Dabei definiert sich die Unpünktlichkeit oder Unzuverlässigkeit erst durch den Vergleich mit der Pünktlichkeit oder Zuverlässigkeit anderer. Nehmen wir jedoch die klar definierten und oftmals mit dem Lineal gezogenen Landesgrenzen auf einer Landkarte (siehe die Grenzen der US-Bundesstaaten) als Vorbild für menschliche Eigenschaften anstatt der natürlichen Grenzziehungen an einem Meeresufer, sind Konflikte vorprogrammiert, da Grenzen dann nicht mehr als fließend betrachtet werden, sondern machtvoll definiert und durchgesetzt werden wollen. Wäre es stattdessen nicht eine spannende Vorstellung, sich einen Flussverlauf oder einen Berggrad als Vorbild zu nehmen? So wie die Grenzen durch den Bayerischen Wald, die Oder, Maas, Our, den Rhein, Bodensee und die bayerisch-österreichischen Alpen Tschechien, Polen, die Niederlande, Luxemburg, Frankreich, die Schweiz und Österreich unscharf von Deutschland trennen, sind auch Eigenschaften von Menschen unscharf und bieten damit eine jederzeit fließende, immer wieder neu zu definierende Diskussionsgrundlage.

Klassische Physik versus Quantenphysik

Einen großen Anteil an unserem Verständnis von Grenzen hat die klassische Physik:

  • Ein Schalter ist an oder aus.
  • Ein Objekt wird magnetisch angezogen oder nicht.
  • Ein Objekt schwimmt oder geht unter.

In der Quantenphysik werden diese strikten Grenzen aufgehoben (siehe für eine kurze und einfache Einführung hier (externer Link): https://www.youtube.com/watch?v=tt0uynvzBUQ). Von weitem scheinen die Grenzen unseres Körpers oder der Erde klar definiert zu sein. Je näher wir jedoch herangehen, desto unschärfer werden die Grenzen und desto unklarer wird es, wo das eine aufhört und das andere anfängt. Aus der Nahsicht sind Grenzziehungen zwischen Land und Wasser nicht mehr so eindeutig wie aus der Ferne. Und in unserer Haut nisten sich Partikel ein, die nicht zu uns gehören, bspw. die Luft unter unseren Nägeln oder Mikroben auf der Haut. Betrachten wir unseren Körper noch genauer, erkennen wir, dass die Atome und Elektronen als kleinste Bausteine unseres Körpers niemals still stehen, sondern immer in Bewegung sind. Deshalb geht die Quantenphysik davon aus, dass ein Zustand wie eindeutig 0 oder eindeutig 1 nur selten vorkommt. Stattdessen befindet sich ein Objekt, bzw. dessen Atome, in der Mehrzahl der Momente in einem Zustand zwischen 0 und 1. Fällt bspw. ein Glas auf den Boden, ist es (evtl.) erst ganz am Ende eindeutig kaputt. Im Moment des Aufpralls ist es sowohl ganz als auch kaputt. Es hat sich sozusagen noch nicht entschieden, pendelt also zwischen 0 und 1.

Übertragen wir dieses Phänomen auf uns Menschen gibt es auch hier in den wenigsten Fällen Menschen, die eindeutig unzuverlässig oder unpünktlich sind. Auch hier sind die Grenzen fließend.

Grenzen fördern die eine temporäre Fokussierung

Dennoch brauchen wir Grenzen, um uns zu fokussieren. Würden wir tatsächlich annehmen, dass alles fließend ist, würde uns dies sicherlich überfordern. Als Führungskraft müssen Sie eine (künstliche) Grenze zu Themen wie Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Motivation, Kundenfreundlichkeit, usw. definieren. Diese Grenze besteht jedoch lediglich für den aktuellen Zeitpunkt und ist als Diskussionsgrundlage beständig auf dem Prüfstand.

Damit wird deutlich, dass Grenzen nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich variabel sind. Dass sich für den Aufenthaltsort eines Elektrons lediglich eine Wahrscheinlichkeit berechnen lässt, bedeutet auch, dass das Elektron irgendwann einmal an einem x-beliebigen Ort auftauchen wird. Entsprechend sind auch die Grenzen, die wir selbst setzen variabel – oder sollten es sein. Stellen wir heute eine Regel auf, ist diese Regel von der Zeit abhängig, in der sie aufgestellt wurde und kann (oder sollte) sich entsprechend mit dem zeitlichen Kontext weiterentwickeln.

Sind jüngere Menschen weniger resilient als früher?

Bild von storyset auf Freepik

Weniger Stress – mehr Stressempfinden

Fakt ist: Das Stressempfinden hat zugenommen. Noch nie fühlte sich die Menschheit so erschöpft wie heute. Dabei hat der tatsächliche Stress im Vergleich zu früher sicherlich nicht zugenommen. Ich möchte jedenfalls nicht das Leben meiner Eltern gelebt haben – mit Vertreibung als Kind, Schlägen in der Schule und Zuhause und später dominanten Chefs und mit dem Geld lange Zeit immer gerade so mit der Lippe über Wasser.

Ein Forscher der Universität Mainz (externer Link) jedenfalls geht davon aus, dass gerade die junge Generation nicht mehr so resilient ist wie die Vorgängergenerationen (auch wenn Generationenfragen immer ein wenig heikel sind).

Die Diskussion nach der Resilienz ploppte aktuell (Juli 2023) durch das Ausscheiden der Deutschen Fußball-National-Damenschaft wieder auf. Unsere Frauen konnten mit dem unerwarteten Widerstand der Südkoreanierinnen nicht umgehen, wären also weniger resilient. An dieser Stelle würde ich lieber die Kirche im Dorf lassen. Denn vielleicht ist das Ganze auch einfach ein riesengroßer Zufall. Ein Tor anstatt einem Lattentreffer und wir hätten keine Diskussion über ein anti-resilientes Nationalteam am laufen. Aber hey! Wir haben beinahe Sommer. Kümmern wir uns also um die echten Fakten.

Nun belegen neuere Studien tatsächlich eine geringere Resilienz bei jüngeren Mitarbeiter*innen (die Studien aus Mainz waren aus 2018). Laut der Studien sind sie sensibler, haben mehr Krisen im Kopf, empfinden einen größeren Druck (was wohl auf alle jüngeren Generationen zutrifft) und schneller enttäuscht, wenn ihr Humor nicht verstanden wird.

Warum sind jüngere Menschen häufig weniger resilient?

2014 schrieb ich zum ersten mal auf diesem Blog über Resilienz. Wow! Schon fast 10 Jahre ist das her. Und zufälligerweise ebenfalls über die Nationalmannschaft. Damals lief es recht gut für die Deutschen. Wir erinnern uns: Brasilien gegen Deutschland: 1 zu 7. Those were the days.

Da ich damals schon recht ausführlich über Resilienz schrieb, folgt hier lediglich eine kurze Zusammenfassung, um zu klären, warum junge Menschen evtl. weniger resilient sind. Was also macht einen Menschen resilient? Dazu gibt es einige Faktoren, auf die sich die Resilienz-Forschung einigen konnte:

  • Zielorientierung: Wer weiß, wofür er leidet, hält einiges mehr aus, als jemand, der einfach nur so leidet. Stellen Sie sich dazu einfach vor, Sie und ein Kind von Ihnen (oder ein anderer lieber Mensch) wären von einem Terroristen gekidnappt worden. In der Version A befiehlt Ihnen der Terrorist, ein Messer durch ihre Hand zu rammen, ansonsten würde er selbst Hand anlegen. In der Version B sagt der Terrorist zu Ihnen: Wenn Sie ein Messer durch Ihre Hand rammen, kommt Ihr Kind frei. Schätzen Sie bitte für beide Versionen Ihren Schmerz auf einer Skala von 0-10 ein. Ich denke, es ist Ihnen klar, worauf ich hinaus will. Schmerz ist relativ. Wenn ich weiß wofür, ertrage ich mehr als wenn es einfach so passiert. Nun stellt sich die große Preisfrage, wofür junge Menschen leiden, wenn es hart auf hart kommt? Die „Letzte Generation“ ist sicherlich leidensfähig. Diese Leute haben ein Ziel. Aber was ist mit all den anderen? Während früher geackert wurde, um sich ein teures Auto zu leisten, ein Haus zu bauen und Karriere zu machen, sind viele dieser Ziele obsolet. Die Welt erscheint aufgrund der täglichen Hiobsbotschaften immer weniger rettbar. Und der Kinderwunsch sah auch schon mal bessere Zeiten. Kein Wunder, dass jungen Menschen die Lebensziele abhanden kamen. Und damit fehlt auch häufig der Sinn im Leben. So lebe ich von Moment zu Moment oder von Event zu Event, es ergibt sich jedoch kein großer biographischer Zusammenhang.
  • Optimismus: Damit habe ich bereits den nächsten Punkt angesprochen. In einer Welt voller globaler Krisenherde fällt es immer schwerer, sich mit einem optimistischen „Einfach weitermachen“ auf das eigene kleine Leben zu konzentrieren. Darf ich mir das überhaupt erlauben in dieser Welt optimistisch zu sein? Wäre das nicht blauäugig? Wer in den medialen Blätterwald blickt erkennt jedenfalls: Der Pessimismus gibt den Ton an.
  • Persönlicher Einfluss: Bei all dem erscheint der eigene Einfluss viel zu klein, um einen Unterschied in der Welt auszumachen. Während die Vorgängergenerationen die Dramen der Welt viel weniger und viel langsamer mitbekamen, konnten sie sich auf ihr eigenes Leben konzentrieren. Vermutlich dachten sie viel weniger über ihren Einfluss auf die Welt nach, sondern machten einfach: Ein wenig Mülltrennung hier, ein bisschen Stromsparen da, ansonsten wurde mehr gelebt und gemacht als gedacht. Heutzutage wissen wir: Alles was ich mache hat Schattenseiten. Wer E-Autos fördert, fördert gleichzeitig den Abbau von Cobalt in Afrika (externer Link). Und dass unser sorgsam getrennter Plastikmüll zu großen Teilen auf afrikanischen Müllhalden oder gleich im Meer landet, wissen wir auch (externer Link). Warum also sich anstrengen, wenn es ohnehin nichts bringt. Eine solche Haltung kann schnell zu einer allgemeinen Grundhaltung führen und sich auch aufs Berufliche übertragen.
  • Akzeptanz einer schwierigen Situation: Um resilient zu werden muss ich auch lernen, Situationen, die ich nicht verändern kann auszuhalten (siehe dazu auch meine Artikel zum Thema „Radikale Akzeptanz“ und „Techniken zum Erlernen einer Radikalen Akzeptanz“). Wer jedoch zur Schule gefahren wird, während unsereins bei Wind und Wetter kilometerweit gelaufen ist, nicht mehr gezwungen wird, ein Instrument zu lernen, ungeliebte Bekannte mit einem Klick „entfreunden“ kann und aufgrund des Personalmangels leichter als früher seinen Job wechseln kann, wenn es nicht mehr passt, muss sich nicht mehr mit Widerständen arrangieren.
  • Soziale Verbundenheit: Bislang schauten wir uns v.a. persönliche Komponenten an. Dabei spielt für die Resilienz auch der soziale Zusammenhalt eine enorme Rolle. Kein Wunder, dass sich in Krisenzeiten die Menschen wieder mehr zurückziehen und auf Freunde und Familie konzentrieren. Nun haben gerade jüngere Menschen in der Regel ein größeres soziales Netzwerk als die Vorgängergenerationen. Dabei zeigen Studien immer wieder (Quelle: Mein Gedächtnis), dass weniger Personen, auf die ich mich wirklich in der Not verlassen kann wesentlich resilienter machen als ein großes Netzwerk voller Menschen, die lediglich ab und an meine Nachrichten „liken“. Follower sind nunmal kein tragendes Netzwerk. Und ein solches entsteht auch nicht virtuell, sondern erst durch gemeinsame reale Aktionen, Projekte oder ganz häufig die gemeinsam (erlittene) Schul- oder Uni-Zeit.

Unter’m Strich steht die jüngere Generation also tatsächlich aufgrund der Globalisierung und Digitalisierung in Sachen Resilienz schlechter da als ihre Vorgängergenerationen.

Was jüngere Menschen selbst tun können?

Die Konsequenzen liegen auf der Hand:

  • Weniger Krisen konsumieren,
  • sich selbst klare Ziele setzen (und dennoch mit ein wenig Chaos im Leben rechnen),
  • den eigenen Einfluss gedanklich auf sein Umfeld begrenzen,
  • mehr reale Freunde treffen und
  • schwierige Situationen aushalten lernen und nach Lösungen suchen.

Was Führungskräfte tun können?

  • Klare Ziele setzen und den Sinn der Arbeit erläutern,
  • die Ziele optimistisch verfolgen,
  • den Einfluss jeder einzelnen Person analysieren und betonen,
  • erklären, warum es wichtig ist, Herausforderungen anzunehmen und auch mal zu scheitern und
  • reale soziale Kontakte insbesondere bei virtuellen Teams soweit möglich fördern.