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Nachhaltige Veränderungen brauchen Struktur und Haltung

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Was Agilität und Homeoffice mit Materialismus und Idealismus zu tun haben

Materialismus versus Idealismus

Wenn es um große Veränderungen in der Gesellschaft geht, gibt es zwei Strömungen. Die eine steht in der Tradition des marxistischen Materialismus und geht davon aus, dass Strukturen verändert werden müssen. Die andere beruft sich auf den Hegelschen Idealismus und geht davon aus, dass sich v.a. das Bewusstsein verändern sollte.

Wer materialistisch denkt ist beispielsweise für eine Frauenquote in Unternehmen. Wer hegelianisch denkt, versucht, Vorurteile gegenüber Frauen aufzudecken. Beide Vorgehensweisen haben Vor- und Nachteile: Wer lediglich eine Frauenquote für Führungspositionen einführt, sorgt zwar dafür, dass mehr Frauen in der Führung präsent sind. Bleibt die Veränderung jedoch auf der Strukturebene stehen, kann es sein, dass Frauen ihre Karriere geneidet wird und diese sich mehr anstrengen (müssen) als Männer, um gegen bewusste oder unbewusste Vorurteile anzukämpfen.

Die Wirkmächtigkeit solcher Vorurteile untersuchte insbesondere der französische Soziologe Pierre Bourdieu. Für nachhaltige Veränderungen reicht es also nicht aus, lediglich Strukturen zu verändern, wie im Falle der Frauenquote eine Regel einzuführen Als Ergänzung braucht es die Beschäftigung mit Bewertungen, Neigungen und typischen Verhaltensweisen, als Bündel bei Bourdieu Habitus genannt:

  • Was verbindest du eher mit Leistung und Zuverlässigkeit: Männer oder Frauen?
  • Was verbindest du eher mit Emotionalität: Männer oder Frauen?
  • Wer ist eher für eine Führungsposition geeignet: Männer oder Frauen?
  • Wen würdest du eher als Kolleg*in wählen: Einen Mann oder eine Frau? Usw.

Die Fragen erscheinen plump, insbesondere wenn wir der Meinung sind, gesellschaftlich weiter zu sein, was Egalität angeht. Zudem lassen sich sicherlich elegantere Fragen stellen. Doch auch wenn sich Strukturen in der Praxis bereits verändert haben, hängt unsere Geisteshaltung oft viele Jahre hinterher. Es kann also nicht schaden, zumindest darauf aufmerksam zu machen, dass wir häufig noch nicht so weit sind, wie wir uns das eigentlich wünschen oder es gesellschaftspolitisch erwartet wird.

Materialismus und Idealismus als Streitpunkt in Veränderungen

Die Unterscheidung zwischen Materialismus und Idealismus erscheint simpel, bildet jedoch die Grundlage vieler heftig geführter Debatten. Während die eine Seite am liebsten alle Reiterstandbilder aus kolonialistischen Vorzeiten abreißen, jedes N-Wort aus Büchern und Lesungen verbannen und bei Personenbezeichnungen einen Genderstern dazu basteln will, behauptet die andere Seite, dass damit noch lange nichts erreicht ist. Denn nur weil wir Ungerechtigkeiten mit Strukturveränderungen bekämpfen, sind sie nicht aus der Welt geschafft.

Auf den ersten Blick erscheinen die oben genannten Beispiele wie eine Strukturveränderung. In Wirklichkeit folgen sie jedoch dem (jugendlichen) Idealismus, mit Worten die Welt zu verändern. Tatsächlich verändert Sprache unser Denken und unseren Blick auf die Welt (Ideal = lateinisch „dem Urbild entsprechend“) und schafft damit eine zukünftige, andere Wirklichkeit. Bis dahin bleiben jedoch die aktuellen Strukturen unangetastet, bspw. Hungerlöhne und Kinderarbeit in der 3. Welt, auch wenn es seit einigen Jahren offiziell „Eine Welt“ heißt. Der strukturelle Rassismus geht also weiter, egal ob wir das N-Wort benutzen oder nicht.

Und was hat das alles mit Agilität zu tun?

Machen wir zum Ende dieses Artikels noch einen kurzen Schwenk zurück in die Arbeitswelt. Was hat nun Agilität mit der ganzen Diskussion um Materialismus und Idealismus zu tun?

Agile Führung setzt an zwei Fronten an:

  • Zum einen sollte sich das Mindset von Führungskräften verändern. Sie sollten insbesondere mehr mit Vertrauen führen und Prozesse wie auch sich selbst transparenter machen, um das Vertrauen ihrer Mitarbeiter*innen zu gewinnen. Dieser Ansatz ist zutiefst idealistisch. Oder wie En Vogue 1992 sangen „Free your mind and the rest will follow“. In der Ursprungsversion von Funkadelic 1970 hieß es übrigens noch „Free your mind and your ass will follow“. Auch schön.
  • Zum anderen gibt es mit Scrum, Objectives & Keyresults (OKR) oder Design Thinking Frameworks mit festen Strukturen aus Ritualen (Dailys, Weeklys, Reviews, Retrospektiven), Rollen (Scrum-Master, Product-Owner), Prinzipien und Regeln (Agiles Manifest, Design Thinking-Regeln). Dieser Ansatz ist zutiefst strukturell.

Dieses Zusammenspiel ist nicht nur in agilen Projekten und einer agilen Führung sinnvoll, sondern sollte in jeder Veränderung mitgedacht werden, um eine psychologisch-strukturelle Sicherheit zu bieten und Rückschläge zu vermeiden.

Mindset und Struktur im Homeoffice

Wer beispielsweise die Zusammenarbeit auf Distanz nachhaltig gestalten will, sollte neben dem Mindset des Vertrauens und der Transparenz folgende Strukturen klären bzw. vorgeben:

Richtlinien:

  • Chatten zur Bindung auf Distanz sollte erwünscht sein.
  • Erreichbarkeiten sollten transparent gemacht werden.
  • Bei den Einarbeitungszeiten muss geklärt werden, was im Homeoffice möglich ist und wofür es Präsenzzeiten braucht.

Regeln:

  • Verbindliche Kernzeiten und Erreichbarkeiten müssen klar sein.
  • Rückrufe sollten innerhalb … stattfinden.
  • Missverständnisse sollten frühzeitig und besser in Präsenz geklärt werden.
  • Wer krank ist, ist krank und arbeitet auch nicht im Homeoffice.
  • Nach … Uhr werden keine eMails mehr verschickt / beantwortet.

Rituale:

  • Regelmäßige Aktionstage dienen der Bindung im Team.
  • Fehler werden regelmäßig reflektiert und aufgearbeitet.

Literatur:

Jana Glaese – Was heißt hier Struktur? In: Philosophie Magazin 06/2023

Serendipity – Den Zufall für sich nutzen

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Was bedeutet Serendipität?

Serendip ist ein alter Sanskrit-Name für Ceylon, dem heutigen Sri Lanka. Der Name geht auf eine Geschichte zurück, in der die Söhne des weisen Königs Jafer allerlei kuriose Erlebnisse entlang ihrer Reisen erleben. Die Moral von der Geschichte: Mit der nötigen Beobachtungsgabe erkennt man Dinge, die anderen verborgen bleiben – und hilft damit seinem Glück auf die Sprünge.

Das Kunstwort Serendipität oder häufiger Serendipity bezeichnet also das Stolpern über eine Sache, nach der man nicht gesucht hat, die jedoch ein Problem auf überraschende Weise lösen kann, wenn ich offen dafür bin. Es braucht also sowohl ein Ziel als auch die Bereitschaft, offen für ungeplante Erkenntnisse auf dem Weg dorthin zu sein.

Welche Rolle spielt der Zufall in unserem Leben?

Der Zufall spielt in unserem Leben eine größere Rolle als wir glauben. Alleine die Liste an zufälligen Erfindungen ist riesig und reicht von Teflon-Pfannen über Penicilin, Post-its, Weißwürste und Brezeln bis zu Kartoffel-Chips. Der Zufall durchdringt sozusagen unser Leben und spielt auch in alltäglichen Begegnungen eine große Rolle. Ein Team um den Sozialpsychologen Mitja Back untersuchte vor Jahren, wie Freundschaften entstehen. Die Forscher verteilten Studienanfänger per Los in einem Hörsaal. Auf ihrem Platz angekommen, stellte sich jede/r kurz vor und wurde von den anderen bezüglich ihrer oder seiner Sympathie eingeschätzt. Ein Jahr später wurde untersucht, wer miteinander befreundet war. Die Sympathiewerten spielten hier allerdings keine große Rolle. Wichtig war v.a. wer neben wem in der Reihe saß.

Zufall versus Planung

Im Rückblick versucht der Mensch Begebenheiten oft einen Sinn zu vermitteln oder sich selbst eine gute Planung zuzuschreiben: „Es musste einfach so kommen. Das war schon gut so. Wer weiß, wozu es gut war? Auf jeden Fall habe ich genau richtig gehandelt.“

Dass vieles aus Zufall entstand fühlt sich seltsam an. Stattdessen ist der eigene Partner der perfekte „match“. Der Urlaub der bestmögliche. Und der eigene Job genau der richtige. Wir wissen genau, dass das nicht stimmt. Wir wären auch mit jemand anderem glücklich geworden. Woanders wäre es auch schön geworden. Und vielleicht hätten wir insgeheim ganz gerne einen anderen Job. Aber daran zu denken könnte unglücklich machen. Denn dann hätten wir eventuell anders handeln müssen. Und wichtige Ereignisse in unserem Leben dem Zufall zuzuschreiben fühlt sich stark nach Kontrollverlust an.

Zufall versus Schicksal

Ein wenig anders sieht es mit dem Schicksalsgedanken oder einer (göttlichen) Fügung aus. Dann wird aus einem langweiligen und beliebigen Zufall eine Bestimmung. Dass ich meine Partnerin kennenlernte war vorbestimmt. Dass ich diesen Menschen in genau dieser Stadt zu diesem Zeitpunkt traf, der mir später einen Job vermittelte, war ebenfalls Fügung. Natürlich könnte ich auch sagen: Zufall. Oder: Ich habe viel dafür unternommen. Viele Kontakte geknüpft und irgendwas davon musste ja fruchten. Doch während ich beim einen keine Kontrolle über mein Leben habe, kann mich das zweite – auf Dauer überfordern. Bei einem erfolgreichen Leben kann ich mich vielleicht noch auf meine Serendipity verlassen und den Zufall herausfordern. Doch bei einem weniger erfolgreichen Leben, Durststrecken oder unerklärlichen Begebenheiten kann es sehr entlastend sein, das eigene Scheitern an eine äußere Instanz, das Schicksal meinetwegen, abzugeben.

Wie wird der Zufall positiv herausgefordert?

Ich kann bspw. in einem Gespräch meinem Gegenüber möglichst viele Anknüpfungspunkte bieten, über meine Arbeit sprechen, Filme erwähnen, Hobbys oder das Buch, das ich gerade lese.

In Projekten kann ich zu Beginn möglichst viele Ideen sammeln, diese ein Stück weit weiterverfolgen und dann fallen lassen, wenn sich nichts daraus ergibt. Ich sollte mich also nicht sofort festlegen.

Im Urlaub könnte ich mich durch eine Stadt treiben lassen, Menschen im Restaurant beobachten und darauf reagieren, was mir im übertragenen Sinn die Katze vor die Tür legt.

Hilfreich dafür sind nicht nur Neugier und eine hohe Frustrationstoleranz, sondern auch die Fähigkeit Situationen schnell zu erfassen, zu analysieren und Schlüsse daraus zu ziehen. Mit solchen Eigenschaften geht meist auch ein großes soziales Netzwerk einher.

Doch anstatt uns von etwas Unerwartetem positiv überraschen zu lassen, ärgern wir uns meist darüber. Wir sehen das Unerwartete eher als Hindernis, um unser Ziel zu erreichen anstatt als Chance.

Mehr Führung wagen

Wir leben in einer Zeit, in der Selbstständigkeit und Beteiligung als hohe Werte gelten. Sowohl in der Arbeit als auch privat. Wir erledigen unsere Bankgeschäfte selbst, sollen uns eine fundierte Meinung bilden (am besten zu allem) und uns in Diskussionen einbringen, im Homeoffice eigene Entscheidungen treffen und uns in Teamprozesse partizipativ einbringen.

Soweit so gut. New Work ist eine feine Sache. Es macht ja die Menschen durchaus glücklich und zufrieden, wenn sie nach ihrer Meinung gefragt werden, selbst- und mitbestimmen dürfen. Vermutlich will kaum jemand von uns zu einer Führung nach Gutherren-Manier zurück.

Kann es jedoch sein, dass die ständige Selbst- und Mitbestimmung viele Menschen nach einer anfänglichen Euphorie überfordert?

Kann es sein, dass die Überindividualisierung unserer westlichen Welt im Homeoffice viele Mitarbeiter*innen zunehmend vereinzelt und sie sich sehnlichst ein soziales Auffangbecken wünschen, in dem sie für kritische Entscheidungen nicht selbst verantwortlich sind?

Kann es sein, dass sich im Zuge krisenhafter Bedingungen (hohe Fluktuation, Krankheitswellen, strukturelle Dauerunterbesetzung, private soziale Belastungen, etc.) viele Mitarbeiter*innen weitaus weniger Partizipation und Selbstbestimmung wünschen, sondern stattdessen wieder mehr Regeln, vorgegebene Dienstpläne und klare Verhaltensanweisungen?

Brauchen wir folglich gerade in Krisenzeiten wieder eine deutlichere Führung, die ihren Mitarbeiter*innen einen Krisenplan vorgibt, in dem beschrieben wird, dass es in Notfällen nur noch um ein Überleben im weitesten Sinn geht, indem weniger dringende Projekte verschoben werden, eine 80%-Leistung nicht nur erlaubt, sondern erwünscht ist, Meetingzeiten reduziert werden, usw.?

Aus meiner Erfahrung ist es genau das, was sich überforderte Mitarbeiter*innen in Krisenzeiten wünschen und erhoffen, sich jedoch selten auszusprechen trauen, weil es nicht dem Zeitgeist entspricht.

Was bedeutet Führung heutzutage?

Führungskraft zu sein ist heutzutage mehr Tun als Sein. Den Respekt seiner Leute müssen sich Führungskräfte immer wieder neu erarbeiten, damit Mitarbeiter*innen Vertrauen in ihre Führungskraft haben, gute Ergebnisse erzielt werden und resilient mit Belastungen umgehen.

Damit dies gelingt, gibt es verschiedene Ansatzpunkte:

  • Eine Positive Führung schafft eine Grundlage für ein vertrauensvolles, aber auch ehrliches Miteinander. Dazu gehört auch, gerade in stürmischen Zeiten hoher Belastungen mit Hoffnung, Zuversicht und Optimismus zu führen.
  • Wer auf Distanz führt, sollte sich vor allem damit auseinander setzen, wie Bindung und Kreativität in einem Team trotz Distanz aufrecht erhalten bleiben.
  • Veränderungen und komplexe Themen lassen sich am besten meistern, wenn möglichst viele Mitarbeiter*innen beteiligt werden. Deshalb ist auch das Bild der Führungskraft als Moderator*in oder Mediator*in wichtiger denn je.

Diese drei Themen machen aktuell den Kern meiner Angebote im Führungsbereich aus.

Wann ist Agilität sinnvoll und wann nicht?

Der Hype um agile Vorgehensweisen dringt in alle Bereiche vor. Dabei wehren sich manche Mitarbeiter vehement gegen die Veränderungen, die stetige Anpassungsprozesse mit sich bringen. Dass sie mit dieser Weigerung ab und an durchaus recht haben, zeigt die folgende Auseinandersetzung damit, wann Agilität sinnvoll ist und wann nicht:

  1. Manche Tätigkeiten und Abläufe sind für stetige Anpassungsprozesse schlichtweg nicht geschaffen. Adaptionsprozesse würden nur zu einem Chaos führen.

  2. Es gibt Tätigkeiten und Abläufe, bei denen es cleverer ist, Experten zu fragen anstatt Kunden. Der Kunde hat zwar Bedürfnisse und oft auch clevere Ideen, ist oftmals aber auch momentgetrieben, zum Beispiel übertrieben preisorientiert, ohne an langfristige Effekte seines Kaufverhaltens zu denken.

  3. Am prädestiniertesten für Schwarmintelligenz und Agilität sind komplexe, undurchsichtige Situationen, die zuerst einmal geklärt werden müssen.

  4. Chaotische Situationen hingegen können durch eine agile Führung zu Panik führen. In diesen Situationen braucht es eine klare Führung und Lenkung, um die Kontrolle über die Situation zurück zu gewinnen.

Da Bilder mehr als 1000 Worte sagen: Ein Schiff macht sich auf die Reise.

  1. Das Schiff wird gepackt. Dazu gibt es klare Listen, Vorgaben und logische Abläufe.

  2. Für die Reise braucht es Experten im Team, die navigieren, steuern, kochen können, usw. Auf die Essenswünsche der Crew einzugehen, ist sinnvoll. Eine Kartoffelsuppe kann jedoch nur gekocht werden, wenn genügend Kartoffeln da sind.

  3. Strandet das Schiff auf einer Insel, in der es nicht mehr darum geht, zu navigieren oder zu kochen, in der also die Experten überfragt sind, ist es sinnvoll, alle Crewmitglieder vom Offizier bis zum Ruderer, nach ihrer Meinung zu Erkundung der Insel zu befragen.

  4. Gerät das Schiff in einen Sturm, muss der Kapitän, evtl. in Absprache mit dem Steuermann, klare Ansagen machen, bis sich der Sturm wieder legt.