Wie lautet noch der Spruch zur Gewissheit? Nichts auf der Welt ist sicher, außer dem Tod und der Steuer? So oder so ähnlich, wenn mich mein Gehirn nicht enttäuscht.
Aber ernsthaft: In diesem (dieses mal ein wenig längerem) Beitrag soll es um die Frage gehen, wie wir mit Unsicherheiten im Leben umgehen. Und dabei hat es sich als äußerst praktikabel erwiesen, die Gewissheit in drei Erscheinungsformen zu unterteilen:
Zum ersten gibt es die Gewissheit, von der gar nicht so genau klar ist, ob bzw. wie umfassend sie überhaupt existiert. Natürlich liegt in Paris der Ur-Meter. Und natürlich weiß ich ziemlich genau, dass ich Steuern zahlen muss. Und ich weiß auch, dass meine Kinder, wenn sie nicht lernen, in der Schule einen schlechten Stand haben werden. Aber halt! Schon der letzte Punkt bezeichnet eigentlich eher die zweite Ebene der relativ bekannten und damit kalkulierbaren Risiken: In einem geschlossenen System (Schule) führt ein bestimmtes Verhalten (Lernen oder nicht) mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu einer bestimmten Konsequenz (Klasse wiederholen, erfolgreich abschließen).
Die Ebene der Risiken
Bleiben wir ein wenig bei dem Punkt der Wahrscheinlichkeiten, denn diese sind nicht immer für jedermann verständlich und doch für viele unserer Alltagsentscheidungen von Interesse.
Beispiel 1: Feiern oder nicht?
Um Regenrisiken einschätzen zu können, ist es wichtig, die Wettervorhersagen korrekt zu deuten. Doch was bedeutet eine Regenwahrscheinlichkeit von 30%?
- In 30% der Region wird es regnen.
- In 30% der Stunden wird es regnen.
- 30% aller Meterologen sagen, es wird regnen.
- Oder: An 30% aller Tage, für die diese Aussage gemacht wird, wird es regnen.
Tatsächlich gilt die letzte Aussage: Wenn Sie an 100 Tagen die Wettervorhersage sehen und der Wetterfrosch sagt jeweils, es gäbe eine Wahrscheinlichkeit von 30%, dannn wird es an 30 von diesen 100 Tagen regnen, an den anderen 70 jedoch nicht: Bonne Chance!
Beispiel 2: Sie machen sich über die Folgewirkungen eines bestimmten Medikaments Gedanken
In den 60er Jahren ließ eine anerkannte britische Zeitschrift namens „Dear Doctor Letters“ verlauten, die Wahrscheinlichkeit eine Thrombose zu bekommen steigt durch ein neues Präparat von Antibabypillen auf 100% an. Dies schreckte viele Frauen ab, aufgrund des enorm gestiegenen Risikos weiterhin “die Pille” zu nehmen. Die Folgen:
- 13000 zusätzliche Abtreibungen und
- 13000 zusätzliche Geburten im Jahr darauf
- sowie ein erhöhtes Thromboserisiko durch Schwangerschaften.
In Realzahlen beinhaltete das Risiko allerdings kaum eine Erhöhung: Bisher lag das Risiko, eine Thrombose zu bekommen bei 1 zu 7000. D.h. von 7000 Frauen bekam eine Frau eine Thrombose. Damit erhöhte sich das Risiko auf 2 zu 7000 bzw. 1 zu 3500! Nicht wirklich dramatisch!
Damit wird deutlich, dass es wichtig ist, neben der Wahrscheinlichkeit auch die absolute Risikozunahme zu kennen.
Tipp: Fragen Sie nicht (nur) nach Wahrscheinlichkeiten, sondern auch nach den realen Zahlen, bevor Sie eine Entscheidung treffen.
Die Ebene der Ungewissheit
Kommen wir nun zum letzten Feld: der Ungewissheit. Risiken können berechnet werden, weil sie sich in einem abgeschlossenen Gebiet befinden. Wenn Sie ein Medikament in einer gewissen Dosis regelmäßig einnehmen und zu einem bestimmten Risikotypus gehören, können Sie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die Folgen berechnen. Das diese Folgen nicht mit Sicherheit eintreten ist klar. Aber dennoch verschafft Ihnen dieses (fast) geschlossene System eine gute Rechengrundlage.
Doch wie sieht es in komplexeren Systemen wie Unternehmen aus? Hier gibt es so diverse Wirkeinflüsse, die teils berechnet werden können, teils aber auch nicht. Woher sollen wir wissen, wie sich 9/11, der Tod von Steve Jobbs, der letzte G20-Gipfel oder die Ehe-Krise von Herrn Meier auf das Geschäft auswirken? Die Antwort ist einfach: Wir wissen es nicht! Wir können nur Vermutungen anstellen. Aber: Wir können uns nur bedingt auf diesen Bereich des Nicht-Wissens vorbereiten. Auch wenn Unternehmen gerne alles berechnen und sich damit ein Gefühl der Sicherheit geben, so ist es doch unmöglich, tatsächlich alle Faktoren in eine Zukunftsprognose mit einzubeziehen. Herr Meier wird an einem schlechten Tag den Kunden Müller verärgern. Dieser ist zufällig ebenso wie Herr Berger Mitglied im Rotary-Club. Herr Berger ist wiederum Vorstand bei XY usw. Ich denke, Sie wissen, auf was ich hinaus will.
Defensives Entscheiden
Was also tun, wenn wir uns unsicher in Entscheidungen sind? Grob gesagt gibt es hier zwei Reaktionsmöglichkeiten:
1. Defensives Entscheiden
2. Bauchentscheidungen
Unsicherheiten führen häufig zu einer Art Absicherung gegen spätere Widersprüche.
Ein Beispiel: Sie wollen Innenräume in der Firma umbauen lassen. Dazu haben Sie ein Angebot eines kleineren Architekturbüros, günstig, sympathisch und offensichtlich auch sehr flexibel, was die Einarbeitung ihrer Wünsche angeht. Und Sie haben ein Angebot einer größeren Firma, die solche Aufträge schon zuhauf erledigte, allerdings auch ein wenig teurer ist und evtl. auch unflexibler. Wie würden Sie sich entscheiden?
Der erste Impuls geht vermutlich in Richtung kleines Büro. Doch was ist, wenn etwas schief geht? Was ist, wenn in dem Büro jemand krank wird? Was ist, wenn die Ergebnisse nicht so aussehen, wie sich das der Vorstand das wünscht?
Damit sind wir bei dem Begriff des defensiven Entscheidens: Sie entscheiden dann nicht aufgrund des besten Angebots, sondern wählen das Angebot, das Sie im Nachhinein besser rechtfertigen können. Und in diesem Fall sind Sie mit der großen Firma auf der sicheren Seite. Hier können Sie später – auch wenn etwas schief geht – immer sagen: “Bei so einer großen Firma sind wir davon ausgegangen, dass die professionell arbeiten. Es konnte ja keiner ahnen, dass …”
Genau deshalb tendieren Ärzte auch dazu, Empfehlungen auszusprechen, die alle anderen Ärzte ebenso aussprechen, zumeist mit dem Zusatz “Die kassenärztliche Vereinigung empfiehlt …”. Wenn der gesellschaftliche Konsens sagt: Impfen ist Standard, würden Sie sich am Ende Vorwürfe machen, nicht geimpft zu haben (trotzt aller Nebenwirkungen) und der Arzt müsste schlimmstenfalls mit einer Klage rechnen.
Tipp: Fragen Sie z.B. im Restaurant oder bei Ärzten nicht nach Empfehlungen, sondern danach, was der Kellner selber essen würde oder danach, was des Arzt machen würde, wenn es sein eigenes Kind wäre, das unters Messer soll.
Bauchentscheidungen im Management
Kommen wir zum zweiten Punkt, den Bauchentscheidungen bzw. unserer Intuition. Bauchentscheidungen im Management sind eine heikle Sache. Warum?
- Es gibt die Erwartungshaltung, nicht per „weiblichem“ Bauch zu entscheiden. Ja, die Vorurteile, Intuition wäre weiblich gibt es immer noch. Dabei ist Intuition in Wirklichkeit ehemalige Kognition, d.h. jahrlanges Erfahrungswissen, das mittlerweile schnell und damit effektiv ins Unbewusste ‘abgerutscht’ ist.
- Ohne rationale Begründungen ist es meist unmöglich, seine Meinung zu rechtfertigen. Mit Gefühlen zu argumentieren ist immer noch in den meisten Firmen eine schwierige Sache. Dabei berücksichtigt mittlerweile sogar das amerikanische Militär Intuition als wichtige Quelle für Entscheidungen:”The first danger is in trying to reduce those aspects of planning that require intuition and creativity to simplify procedures, for example, basing a COA solely on the mathematical correlation of enemy and friendly forces. Many planning skills cannot be captured in procedures. Attempts to do so restrict intuition and creativity.” Zusammenfassend: eine rein mathematische Berechnung (eines Risikos) würde in manchen Prozessen zu kurz greifen. Hier braucht es Intuition.
- Und schließlich behindert die Angst davor, etwas nicht berücksichtigt zu haben ebenso den Rückgriff auf Bauchentscheidungen.
All dies führt immer wieder zu defensiven Entscheidungen, die allerdings nicht unbedingt die besten für ein Unternehmen sein müssen.
Der Ausweg: Faustregeln
Daher stellt sich die Frage nach einem Ausweg. Und dieser befindet sich im Bereich von Faustregeln, Daumenregeln oder, wissenschaftlicher, Heuristiken.
Interessanterweise können Faustregeln die Zukunft besser vorhersagen als komplexe Berechnungen. Warum? Faustregeln reduzieren die Wirklichkeit auf das absolut Wesentliche und werfen alle Nebenfaktoren aus der vermeintlichen Risikoanalyse. Sie funktionieren wie das Fundament eines Hauses: Wenn dieses schlecht gebaut ist, können die oberen Stockwerke noch so elegant gebaut sein, das Haus wird dennoch früher oder später einstürzen.
Wie können solche Fausregeln aussehen?
Einige private Regeln könnten lauten:
- Meine persönliche Regel im Umgang mit ‘Geschenken’ von ungebetenen Anrufern lautet: Es gibt auf der Welt nichts geschenkt.
- Eine gute Regel beim Bierkauf für Partys lautet: Kaufe das Bier ein, das du auch selber gerne trinkst.
- Beim Aktienkauf gibt es die Regel: Verteile dein Geld auf verschiedene Aktien mit gleichen Anteilen.
- Rekognitionsregel: Wenn ich eine Stadt kenne, ist diese vermutlich größer als eine Stadt, die ich nicht kenne. Wenn ich ein Unternehmen kenne, übersteigt dieses vermutlich eine kritische Größe. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass diese Unternehmen nach einigen Jahren immer noch erfolgreich sein wird.
Einige berufliche Regeln könnten lauten:
- Die Mitarbeiter vor Ort wissen besser bescheid als ich.
- Befördere interne Mitarbeiter, außer es gibt Konflikte. Dann ist es besser, einen Externen zum Chef zu machen.
- Höre erst zu und gebe dann deinen Senf dazu.
- Wenn ein Mitarbeiter menschlich nicht integer, z.B. unehrlich ist, spielt alles andere keine Rolle.
- Stelle niemanden ein, der dir unsympathisch ist.
- Ermutige Mitarbeiter, Verantwortung zu übernehmen.
- Laß dich nicht von guten Zeugnissen blenden.
- Entscheide niemals aufgrund deines Stolzes.
- Ohne Kommunikation geht gar nichts.
In einer Welt, in der alle Risiken bekannt oder beinahe bekannt sind (z.B. beim Auto- oder Hauskauf) liefern Analysen eine gute Entscheidungsgrundlage. In komplexen Zusammenhängen ist es besser, sich auf wenige Argumente zu konzentrieren, insbesondere um schnelle Entscheidungen zu treffen.
Tipp: Verfassen Sie einige dieser Regeln, die für Ihren Bereich relevant und gültig sind und schreiben Sie am besten auf Karten für Ihre Pinwand oder einen Karteikartenkasten. Ein Austausch mit Kollegen kann ebenso nicht schaden.
Spannend ist auch die Frage, welche Manager oder Führungskräfte häufiger auf ihre Intuition zurückgreifen und welche weniger oft. Dazu gibt es auch wieder zwei Faustregeln:
- Je höher die Hierarchie, desto weniger müssen sich Führungskräfte rechtfertigen und desto mehr Erfahrung haben sie andererseits. Freilich müssen sie immer noch ihren Stakeholdern Rechenschaft ablegen. Aber diese Rechtfertigungen sind oftmals weit weg, sodass sie im Berufsalltag nicht immer eine Rolle spielen.
- Und: Je internationaler ein Unternehmen agiert, desto wichtiger wird Empathie und Intuition, insbesondere wenn es um den Umgang mit fremden Kulturen geht.
Buchtipps:
Gerd Gigerenzer – Risiko
Makridakis, Hogarth, Gaba – Tanz mit dem Glück