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Warum wir einen Minimalkonsens in Diskussionen brauchen

Leben wir in postfaktischen Zeiten? Gibt es keine festen Wahrheiten mehr, auf die wir uns verlassen können? Ist wirklich alles verhandelbar oder sollte es sein?

Um das zu klären, ist eine klare Trennung zwischen einem radikalen und gemäßigten Konstruktivismus hilfreich:

  • Ein radikaler Konstruktivismus stellt alles in Frage.
  • Ein gemäßigter Konstruktivismus basiert auf einem gemeinsamen Diskussionsgerüst. Hier gibt es Fakten, auf die wir uns einigen.

Machen wir dazu ein Beispiel: Ein Stuhl ist nicht nur ein Stuhl, weil wir ihn als Stuhl bezeichnen, sondern weil sich die deutschsprachige Menschheit darauf einigte, ihn so zu definieren. Bei genauer Betrachtung ist dies weniger beliebig als es scheint. Immerhin klingt ein Stuhl wesentlich unbequemer als ein Sessel. Denken wir an den Gegensatz zwischem dem eher harten St in Stuhl und dem eher weichen S in Sessel. Oder wie wäre es mit einem Sofa. Klingt das nicht noch gemütlicher als der Stuhl? Es kommt also nicht von ungefähr, dass sich die Menschen auf diese Begriffe einigten.

Der Konsens eines gemäßigten Konstruktivismus besteht nun darin, dass wir nicht mehr darüber streiten, …

  • was wir als Stuhl bezeichnen: ein eher schlichtes, funktionales Sitzmöbel mit einer Lehne und vier Beinen (ohne Lehne und häufig nur drei Beinen hieße es Hocker);
  • und was wir als Sessel bezeichnen: ein eher gemütliches Sitzmöbel für eine Person zur Entspannung in der Freizeit.

Auf der Basis dieses Grundkonsens können wir dennoch darüber diskutieren, wie ein perfekter Büro-Stuhl oder Freizeitsessel geformt sein und aussehen sollte.

Übertragen wir diese Unterscheidung zwischen einem radikalen und gemäßigten Konstruktivismus auf unsere Diskussionskultur wird deutlich, dass wir auch hier einen Minimalkonsens brauchen, um diskussionsfähig zu bleiben. Wir brauchen eine Einigkeit darüber, ob es Covid 19 gibt, was eine Diktatur ist, was ein Krieg ist, usw. Es ist folglich sinnvoll in den aktuellen Diskussionen zuerst einmal abzuklären, ob es überhaupt einen Grundkonsens gibt, auf dessen Basis wir unterschiedliche Meinungen diskutieren können, bevor wir darüber streiten, welche Rolle ein Staat in der Gesundheitsfürsorge einnehmen sollte oder wie sich Deutschland in dem Ukraine-Krieg verhalten sollte.

Anliegen und Sorgen vs. Verschwörungstheorien

Das Internet ist derzeit voller Verschwörungstheorien, vermeintlichen Aufdeckungen und dem Kampf dagegen mittels Fakten-Checkern. Google spendiert aktuell über 6 Millionen Euro an Startups oder bereits etablierte Seiten im Netz zur Aufdeckung von Fake News. Eine zeitlang hatte ich das Gefühl, die ARD ist mehr damit beschäftigt, Verschwörungstheoretiker zu entlarven als tatsächlich Nachrichten zu vermitteln. Das ganze mutet sehr nach einem Kampf um die Meinungshoheit an.

Wie im Krieg gibt es bei Kämpfen selten Gewinner. Der Krieg um die Wahrheit lässt sich ohnehin nicht gewinnen, zumal in jeder Falschnachricht ein Fünkchen Wahrheit steckt und in jeder offiziellen Nachricht etwas verschwiegen wird. Und Wahrheiten bezüglich einer szenarischen Zukunft werden erst in einigen Monaten oder sogar Jahren falsifiziert oder verifiziert. Ein Fakten-Check, der auf Szenarien in der Zukunft angewandt werden kann, muss erst noch erfunden werden. Diejenigen jedoch, deren Beiträge auf Youtube gelöscht werden, fühlen sich bestätigt, dass sie auf dem richtigen Weg sind: “Die sagen uns nicht die (ganze) Wahrheit.” Und diejenigen, die gegen Fake News vorgehen, fühlen sich selbstredend ebenso bestätigt: “Die sind einfach unbelehrbar.”

Damit schaukelt sich der Kampf um die Wahrheit so lange hoch, bis er entweder explodiert oder implodiert. Eine Implosion wäre für die Gesellschaft vielleicht verkraftbar, auch wenn ich mir ernsthafte Sorgen mache um all die Menschen, die aktuell kein Gehör finden. Wollen wir wirklich die Menschen (eine Schätzung fällt schwer, aber mir dünkt, es seien viele), die Verschwörungstheorien anhängen an den medialen Pranger stellen? Können und wollen wir uns das leisten als Gesellschaft, die auf den Grundfesten der Meinungsvielfalt beruht? Sind wir ernsthaft damit zufrieden, Menschen, die sich Sorgen um den Rechtsstaat machen wegzusperren oder medial mundtot zu machen?

Eine Explosion könnte ebenso fatale Folgen haben. Ich spreche nicht von einer Revolution auf der Straße, auch wenn wir nach der Lockerung sicherlich einiges zu sehen bekommen werden. Da wird so manches Pegida-Revival dabei sein. Und mancher wird sich wundern, wer neben ihm demonstriert. Aber was wäre, wenn all diese Unzufriedenen in der kommenden Wahl ihrer Unzufriedenheit mit einem Kreuz Luft machen würden? Ist dieses Risiko wirklich kalkulierbar? Wer ein wenig im Internet surft oder allgemein die Augen und Ohren offen hält, merkt, dass die Unzufriedenheit nicht nur von den üblichen Verdächtigen kommt, sondern von ganz normalen Soloselbständigen, Gaststättenbesitzern, Zwangsrentnern, Künstlern, Kleinstunternehmern, Handwerkern, Familienmenschen, usw. Wollen wir diese breite Masse der Menschen, die sich aktuell Sorgen um ihre Zukunft machen, wirklich an Verschwörungstheoretiker verlieren? Wen werden sie wählen, wenn sie jetzt kein Gehör bekommen?

Der mediale Kampf zwischen Verschwörungstheorie- und Regierungsanhängern vertieft Gräben, die ohnehin vorhanden sind. Es gibt die Denke, dass jetzt nicht die Zeit wäre, aufeinander zuzugehen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob es nach den ersten Schockwellen der Krise überhaupt noch möglich ist, die Wunden zu heilen, die jetzt aufgebrochen sind?

Das Vertrauen in den Staat, die Hin- und Her-Kommunikation um Verdopplungszahlen, Masken und Tests wirft ein schlechtes Licht auf die Regierung. Medien, die einseitig berichten, verspielen gerade ihre Rolle als Medium und Moderator, als Vermittler in diesem Kampf um die Meinungsdeutung. Während früher lediglich rechtsgerichtete Menschen von Systemmedien sprachen, kommt diese Kritik mittlerweile aus einer Ecke (externer Link), aus der wir das nie vermutet hätten. Der Ethikrat spricht von einem Obrigkeitsstaat, wenn Diskussionen nicht auf eine breite gesellschaftliche Basis gestellt werden.

Würden wir anfangen, Menschen, die Verschwörungstheorien anhängen, endlich aus dem Dunkel des Unheimlichen herauszuholen und zu akzeptieren, dass dahinter echte Sorgen und Anliegen stehen, wäre bereits viel getan. Wer die Maßnahmen der Regierung kritisiert, ist noch lange kein Feind der aktuellen Vorgehensweisen, sondern macht sich vielleicht Sorgen um seine Gesundheit. Für Vampire ist die Sonne ungesund. Für uns Menschen gilt das Gegenteil. Wer sich Sorgen um Kindeswohlgefährdungen und depressive alte Menschen macht, wünscht sich, dass der Ethikrat mehr Gehör in einem Expertenrat findet. Wenn er nun sieht, dass im bayerischen Expertenrat wieder nur ein Virologe, Arzt und Epidemiologe sitzt, fühlt er sich abgehängt. Kein Wirtschaftswissenschaftler, kein Psychologe, kein Kirchenvertreter, kein Ethiker, kein Sozialwissenschaftler. Und wer aktuell als Selbständiger keine Aufträge bekommt, findet es befremdend, wenn über den Exit aus dem Shutdown nicht gesprochen werden darf. Er hält vielleicht noch einen Monat durch. Aber was dann?

Der Mensch braucht Ziele zur Motivation. Der Mensch sucht beständig nach einem Sinn. Wenn er diesen Sinn lediglich über eine spekulative Kurve bekommt, deren Zahlen ungesichert sind (externer Link), jedoch nicht weiß, ob er das Ende der Kurve überhaupt erleben wird, sucht er sich seinen Sinn anderswo.

Politik in der Krise funktioniert über klare Entscheidungen. Ich bin froh, derzeit kein Politiker zu sein. Sie funktioniert aber auch über Signale und ein Zugehen auf den medialen “Gegner”. Es wäre an der Zeit, Kritiker an Bord zu holen, um Verschwörungstheoretikern den Wind aus den Segeln zu nehmen.

(Update 08.04.: Mittlerweile wurde der Expertenrat erweitert und breiter aufgestellt.)