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Vom Ausstoß zur Resonanzgesellschaft – Ein geschichtlicher Abriss zum Umgang mit persönlichen und gesellschaftlichen Konflikten und ein utopischer Blick in die Zukunft

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1. Gemeinschaft und Ausstoß (ca. 10.000 v. Chr. – 1.000 v. Chr.)

In frühen Jäger- und Sammlergruppen war das Zusammenleben überlebenswichtig. Wer gegen soziale Normen durch Diebstahl, Gewalt oder Verrat verstieß, wurde oft ausgestoßen oder geächtet.

2. Das Prinzip der Ehre und Duelle (ca. 1.500 – 1.800 n. Chr.)

In der europäischen Frühneuzeit wurden persönliche Konflikte v.a. in der Hochkultur schnell zur Frage der Ehre, die mit Hilfe eines Duells wieder hergestellt werden sollte. In Frankreich wurden Duelle zwar 1626 offiziell verboten. Dennoch fiel noch 1829 der russische Dichter Alexander Puschkin einem Duell zum Opfer.

3. Vernunft und Verhandlung (18. – 20. Jahrhundert)

Mit der Aufklärung verschoben sich gewaltvolle Konfliktlösungen hin zu Verhandlungen und juristischer Klärung. Gerichte und Schiedsverfahren förderten die Gleichberechtigung in Streitfragen. Im Alltag entstanden parallel dazu bürgerliche Tugenden wie Toleranz und Zivilität. Produktiv zu streiten wurde zu einem zivilisatorischen Lernprozess.

4. Öffentliche Bühne und Medien (20. Jahrhundert)

Mit Presse, Radio und Fernsehen wurden Konflikte zunehmend Teil einer öffentlichen Inszenierung. Moralische Streitigkeiten fanden ihren Weg von privaten Haushalten und Straße in Talkshows. Skandale von Personen öffentlichen Interesses wurden medial genüsslich ausgebreitet, inklusive öffentlicher Statements, Entschuldigungen, Abgrenzung und Empörung gegenüber den betreffen Personen.

5. Digitale Ächtung und Cancel Culture (21. Jahrhundert)

Seit den 2010er-Jahren dezentralisierte die Digitalisierung die soziale Ächtung:

  • Im Internet treten Nutzer*innen sowohl als Konsument*innen als auch als Produzent*innen auf. Damit werden nicht nur Konflikte von Personen öffentlichen Interesses kommuniziert, sondern von jedem und jeder.
  • Digitale Medien ermöglichen eine kollektive Konfliktbewertung in Echtzeit. Das Internet bietet eine riesige Bühne als Konfliktverstärker, auf der nicht nur Beteiligte, sondern auch Unbeteiligte ihre Meinung äußern können.
  • Begriffe wie „Cancel Culture“ (ab ca. 2017) beschreiben moderne Formen einer digitalen Sanktionierung. Der soziale Ausschluss von früher verlagerte sich ins Virtuelle, mit teilweise ebenso existenziellen Folgen. Wie der Philosoph Robert Pfaller sagt: Wir leben nicht mehr ausschließlich in einer Leistungsgesellschaft, sondern auch wieder in einer Schamgesellschaft. Ehre erscheint heute wieder wichtiger als während der Aufklärung.

6. Vom Canceln zur Resonanz – Ein Blick in die Zukunft

Wie könnte es weitergehen? Finden wir zu einem neuen aufgeklärten Umgang mit Konflikten zurück? Oder weitet sich das gegenseitige Canceln aus und die Gesellschaft zersplittert sich in kleine Stämme, die nicht mehr miteinander sprechen?

Empathische Vernunft

Anstatt einer rein rationalen Neuauflage der Aufklärung könnte eine andere Form von Vernunft entstehen:

  • Im Zeitalter von Fakenews und Wissensschaftskritik reicht es nicht mehr aus, sich lediglich auf Argumente zu konzentrieren.
  • Die kommende Vernunft sollte stattdessen empathische Züge annehmen: Widerspruch muss keine Ablehnung oder gar Ausschluss bedeuten, sondern kann ein anderer Teil von Beziehung sein.
  • Künstliche Intelligenz und Datenethik könnten (und sollten) uns dabei helfen, kollektive Empörungen zu kontextualisieren: „Diese Aussage stammt aus 2020, am Anfang der Corona-Pandemie, als noch wenige Informationen über das Virus vorhanden waren.“

Auswählen statt Canceln

Im Internet treffen sich verschiedene soziale Blasen, die bislang in den analogen Stammtischen getrennt waren. Dadurch entstehen Konflikte, die früher nicht entstanden bzw. über Parteien kanalisiert wurden:

  • In einer überfordernden Informationswelt werden Menschen langfristig lernen müssen, nicht mehr zu allem Stellung zu beziehen, sondern bewusster auszuwählen.
  • Da die digitale Welt nicht vergisst, muss zudem niemand sofort auf eine Äußerung reagieren. Stattdessen fassen K.I.-gesteuerte Plattformen die soziale Reputation einer Person langfristig zusammen. Was auf den ersten Blick bedrohlich wirkt, kann auf den zweiten Blick als Regulator fungieren, um Diskussionen zu befrieden und eine neue Zivilität herzustellen.
  • Anstatt zu Canceln gilt es folglich, wieder ein Mindestmaß an ziviler Kinderstube, basierend auf Toleranz und Respekt herzustellen.
  • Plattformen können zusätzlich Feedbackräume schaffen, die mehr auf Reparatur als auf Strafe setzen, indem sie digitale Mediationsräume anbieten oder KI-gestützte Deeskalationen einsetzen.

Retro-Stämme, Zersplitterungen und Neu-Gruppierungen

Wenn wir an X denken oder allgemein die gesellschaftliche Entwicklung in den USA, zeigt sich bereits der Ansatz von Retro-Stämmen in der Gesellschaft:

  • Meinungsgruppen ziehen sich in digitale Stämme mit gemeinsamen Werten und einer gemeinsamen Sprache zurück, wodurch in einem Zwischenschritt Parallelgesellschaften mit je eigener Moral entstehen.
  • Weil der Mensch jedoch nicht nur eine Sehnsucht nach Gruppenzugehörigkeit hat, sondern auch zu Abgrenzung neigt, verlagern sich Konfliktgespräche in die Retro-Stämme, wodurch es innerhalb eigentlich einheitlicher Meinungs-Gruppen zu weiteren Unterteilungen kommt.
  • Wenn externe Feindbilder nicht aufrecht erhalten bleiben, bietet diese zunehmende Zersplitterung der Stämme die Chance auf neue Begegnungen außerhalb der eigenen Meinungsblase.

Langfristige Utopie: Die „Resonanzgesellschaft“ (nach Hartmut Rosa)

Betrachten wir die menschliche Geschichte, liegt es nahe, Konflikte als zentrales Element des sozialen Zusammenlebens zu betrachten. Es gibt immer etwas zu verhandeln, sei es über materielle Güter, die Zukunft der Welt, den eigenen Status, soziale Aufmerksamkeit oder moralische Vorstellungen. Es stellt sich also weniger die Frage, wie viele Konflikte wir in der Zukunft haben werden, sondern vielmehr, wie wir Konflikte in unser Leben integrieren. Gemäß der Resonanztheorie nach Hartmut Rosa lassen sich Konflikte nicht nur als Angriff, sondern auch als Möglichkeit begreifen, gegenseitig an Widerspruch zu wachsen, was sich bereits bei Nietzsche oder Hannah Arendt nachlesen lässt:

  • Konflikte bieten damit immer auch das Potenzial, über die eigenen Positionen und Meinungen nachzudenken und sich weiterzuentwickeln.
  • Konflikte symbolisieren entsprechend eine besondere Form der Verbindung zwischen zwei Menschen oder Gruppen. Manche Gruppen wie Arbeitgeber vs. Arbeitnehmer, Christen vs. Moslems, Rechte vs. Linke usw., definieren sich förmlich über die Abgrenzung zu ihrem Gegenüber, weshalb der Politikwissenschaftler Ralf Langejürgen empfiehlt, sich in Konflikte zuerst zu entfaszinieren, bevor eine neue positiv aufeinander bezogene Beziehung wieder möglich ist.

Wer bislang glaubte, dass alles immer schlimmer wird:

  1. Es ist noch nicht so lange her, dass wir uns aufgrund unserer Ehre duellierten.
  2. Wenn sich auf Plattformen wie X nur noch einheitliche Meinungsträger*innen treffen, könnte dies schnell langweilig werden, wodurch Konflikte entstehen, die zu Zersplitterungen führen.
  3. KI muss nicht unser Feind sein, sondern kann Informationen kontextualisieren, um Aussagen ins richtige Licht zu rücken.
  4. Eine neue KI-Reputation, die sich freilich auch kritisch betrachten lässt, könnte zu einer neuen Zivilität führen.
  5. Sinnloser Streit macht irgendwann einmal müde, weshalb eine gezielte Auswahl von Stellungnahmen mittelfristig unumgänglich erscheint.

In diesem Sinne: Es wird nicht alles gut, sondern (wie immer) anders.

Nonkonformismus als konstruktive Kritik

Derzeit gibt es eine Drift an die Ränder: Studien zeigen (u.a. die aktuelle Shell-Studie), dass diejenigen, die viel zu verlieren haben oder sich unsicher fühlen, bspw. Jugendliche in der Findungsphase, Angestellte oder allgemein die Mittelschicht, tendieren zu Konformismus. An den gesellschaftlichen Rändern nimmt der Widerstand zu.

Auch die Querulanten im Team, die ohnehin schon schräg angesehen werden, werden auf die ein oder andere Art widerständiger. Damit wird jedoch das wichtige Instrument der Nonkonformität als konstruktive Kritik oder – mein Thema – utopischer Ideen für eine bessere Zukunft aus der Hand gegeben.

Auf den Punkt gebracht haben wir dann 7-8 Personen im Team, die konform mitgehen, weil es gerade in turbulenten Zeiten ohnehin viel Kraft kostet, die vorhandenen Aufgaben zu schaffen, während 2-3 Personen widersprechen, blockieren oder sich am nächsten Tag krank melden. Auch damit werden Innovationen torpediert. Von der Wir-Resilienz ganz zu schweigen.

Eine Lösung besteht darin, Nonkonformität nicht mehr als Sand im Getriebe zu betrachten, sondern als Regulator im Sinne einer konstruktiven Kritik an bestehenden Umständen und einer angestrebten Zukunft.

Aus diesem Gedanken heraus entstand – mit ein wenig Hilfe von Chatgpt, Zwinkersmiley – der folgende Nonkonformitäts-Strategien-Test. Viel Spaß damit!

Eine KI weiß immer, wo es lang geht, auch wenn sie keine Ahnung hat

Dass eine KI nur Aussagen aufgrund der zur Verfügung stehenden Daten ausspucken kann, ist klar. Das Problem besteht jedoch darin, dass …

  1. viele Nutzer*innen davon ausgehen, dass eine KI weniger fehlbar ist als ein Mensch und …
  2. eine KI dafür ausgerichtet ist, Antworten zu liefern, selbst wenn es keine hat. Ich habe jedenfalls noch keine Antwort im Sinne von „da habe ich keine Ahnung“ bekommen.

Beispiel 1: Klare Fehlinformationen

Neulich erkundigte ich mich bei ChatGPT nach den Vergütungssätzen für eine Steuerberatung im Falle der Erbschaftssteuer. Die KI erklärte mir, dass es eine offizielle Tabelle gibt, aus der zu entnehmen ist, ab welchem Wert des Erbes welcher Vollvergütungssatz gilt. Je nach Komplexität können Steuerberater*innen 2 bis 10/10tel davon verlangen. So weit, so klar. Dann jedoch nannte die KI einen Betrag, der in der Tabelle nicht zu finden war. Als ich sie mit einem Verweis auf die Tabelle darauf hinwies, entschuldigte sie sich, meinte, dass sie die Rechnung lediglich für mich vereinfachen (???) wollte, dass sie aber jetzt mit der richtigen Tabelle rechnete und präsentierte mir die gleiche falsche Rechnung erneut.

Beispiel 2: Die KI erfindet ein Modell

Als ich die KI neulich fragte, wie der ATCC-Ansatz aus der Konflikt- und Friedensforschung funktioniert, erfand sie kurzum ein Modell, das es gar nicht gibt:

„Der ATCC-Ansatz ist ein methodischer Rahmen aus der Konflikt- und Friedensarbeit, der dazu dient, Konfliktkontexte zu analysieren und geeignete Handlungsstrategien zu entwickeln. Die Abkürzung ATCC steht für:

  • Akteure
  • Themen
  • Kontexte
  • Dynamiken

Wie aus dem C ein D wurde, bleibt mir rätselhaft.

In Wirklichkeit steht ATCC für „Approche et transformation constructives des conflits“, was ich mir jedoch schlecht merken kann. Der Ansatz ist eher unbekannt. Darauf hingewiesen, korrigierte die KI ihren Fehler. Allerdings wies sie mich noch darauf hin, dass ich sie ja mit den vier Buchstaben auf eine falsche Fährte lenkte. Das klang beinahe ein wenig gekränkt.

Was lernen wir daraus?

Mir kommt die Kommunikation mit einer KI so vor, als würde ich mit jemandem sprechen, der nicht Nein sagen kann. ChatGPT gibt offensichtlich nicht zu, keine Ahnung zu haben. Die KI könnte auch nachfragen, was ich genau mit ATCC meine. Stattdessen erfindet sie ein neues Modell, das zwar nicht unsinnig ist, aber dennoch falsch. Ich muss also schon ein wenig Ahnung davon haben, was ich will. Anders formuliert: Ein Navi ersetzt noch keine/n Navigator*in.

Wie KI beim Denken hilft und dennoch kein Game-Changer für die reale Welt ist

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Das folgende Experiment fand am Abend des 05.08.2025 statt und dauerte etwa 30 Minuten. Es begann mit der Idee, sich mit ChatGPT darüber zu unterhalten, ob die Zunahme von Depressionen und Aggressionen in der Welt zum einen an der grassierenden Hoffnungslosigkeit und zum anderen an einer Entfremdung von der Welt liegt, woran pikanterweise Algorithmen eine Mitschuld tragen, u.a. weil sie uns ungeduldiger machen und von der Welt fern halten.

Entsprechend war es spannend zu sehen, ob ChatGPT sich ebenfalls als Maschine sieht, die ein Interesse daran hat, die Diskussion am Laufen zu halten und so paradoxerweise einerseits rät, mehr in Resonanz mit Menschen zu gehen, um Entfremdungen von der Welt entgegen zu wirken und andererseits durch das stetige Nachfragen den Dialogpartner genau davon abhält.

Tatsächlich sieht sich ChatGPT selbst nicht in der Lage, dem Dialogpartner den Rat zu geben, genau jetzt in der realen Welt in Resonanz mit anderen Menschen zu gehen, weil ihm selbst das Erleben dafür fehlt. Es bleibt daher in einer Art kognitiver Dauerschleife hängen, die schlimmstenfalls sogar dazu führen kann, zwar theoretisch alles durchdacht zu haben, jedoch praktisch nichts umzusetzen.

Aus diesem Grund ist ein Dialog mit einer KI eine äußerst anregende Sache, aus praktischer Sicht jedoch kein wirklicher Game-Changer. Immerhin ist es spannend, dass sich eine KI über sich selbst Gedanken machen kann.

Den gesamten Dialog gibt es hier: