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Unternehmen als Träger kultureller Kontinuität: Hoffnung über das eigene Wirken hinaus

In einer Zeit, in der neoliberale Ideale wie Konkurrenzdenken, Selbstoptimierung und kurzfristige Gewinnmaximierung ins Zentrum rückten, reduzierte sich auch die menschliche Existenz zunehmend auf das Individuum, während das Gemeinschaftliche nach und nach verkümmerte. Dieses Phänomen gilt auch in der Arbeitswelt. Früher erfüllten Unternehmen nicht nur die Funktion einer Bühne für persönliche Interessen, sondern boten auch Räume kollektiver Identität, in denen Mitarbeiter*innen Teil einer Geschichte wurden, die Generationen überdauerte.

In Zeiten des Postoptimismus westlicher Gesellschaften (Stichwort: Nullwachstum) scheint der Traum des persönlichen Aufstiegs mehr und mehr ausgeträumt. Damit einher verbindet sich die Chance, das Individuum wieder für gemeinschaftliche Ideen zu gewinnen. Wenn schon ein persönlicher Aufstieg immer weniger realistisch erscheint, wäre es fahrlässig, diese Krise nicht gleichzeitig als Chance zu sehen, darüber nachzudenken wie ein gutes (Arbeits-) Leben im Kollektiv aussehen könnte.

Da die Arbeitswelt einen zentralen Raum im Leben von Menschen einnimmt, bietet es sich an, dass Unternehmen – ähnlich wie und gleichzeitig anders als früher – (wieder) als identitätsstifte Organisationen auftreten, um die Möglichkeit eines solchen kollektiv-besseren Lebens anzubieten.

1. Historische Funktion von Tradition in Unternehmen

Früher verstanden sich viele Betriebe – von Handwerksfamilien bis zu Industriekonzernen – als Glieder einer längeren historischen Kette. Mitarbeiter*innen traten nicht nur in ein Unternehmen ein, sondern in ein Projekt, das vor ihnen begonnen hatte und nach ihnen weiterging.

Diese historische Tiefe erzeugte ein Gefühl von Sinn und Stolz, das weit über das individuelle Arbeitsleben hinausreichte. Friedrich Hegel nannte das den „objektiven Geist“: Die Arbeit des Einzelnen wurde eingebettet in ein größeres kulturelles Ganzes, das Identität stiftete und eine Hoffnung auf Fortsetzung vermittelte.

2. Der Bruch im neoliberalen Zeitalter

Wer sich wie ich intensiv mit dem Thema Hoffnung auseinander setzt, stößt zwangsläufig auch auf die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Die zentrale Aussage dieses Phänomens lautet: Auch wenn mein Leben aktuell nicht großartig ist, ich die Belastungen jedoch annehme und ein gutes Leben führe, werde ich dafür im Jenseits belohnt. Selbst die protestantische Idee der innerweltlichen Askese, die aus einem gottesfürchtigen ein fleißiges Leben machte, blieb der Belohnung im Jenseits treu.

Mit der neoliberalen Wende der letzten Jahrzehnte wurde diese Verbindung zwischen Diesseits und Jenseits durch eine Veränderung der Zeitstruktur in der Wirtschaft nach und nach unterbrochen.

Eine Zeitlang galt noch das Mantra, wir würden dafür arbeiten, dass es unsere Kinder eines Tages besser haben würden. Die historische Dimension hatte sich bereits hier vom Jenseits auf das Diesseits verlagert.

Mittlerweile gilt auch diese Verbindung nicht mehr. Nun geht es für viele Mitarbeiter*innen nur noch darum, für sich selbst zu arbeiten, nicht mehr für die eigenen Kinder und nicht mehr für die langfristige Entwicklung eines Unternehmens.

Die Unternehmen selbst sind an dieser Entwicklung freilich nicht unschuldig, können sich also nur bedingt über eine mangelnde Bindung an ihr Unternehmen beklagen, da langfristige Perspektiven durch Projekt- und Quartalslogiken ersetzt wurden. Unternehmen verloren ihre Selbstdefinition als kulturelle Institutionen und wurden zu temporären Aggregaten von Kapital und Effizienz. Nun ging es nicht mehr um eine gemeinsame kulturelle Identität, in der zusammen Ideen umgesetzt wurden, worauf die Mitarbeiter*innen stolz waren, sondern um das Erreichen von Projekt- und Jahreszielen. Smarte Ziele ersetzten Werte. Leistung wurde wichtiger als Zugehörigkeit.

Die emotionale Bindung zwischen Mensch und Organisation zerfiel aufgrund der Austauschbarkeit: Der Stolz auf eine gemeinsame Tradition verschwand. Die Hoffnung auf eine langfristige Kontinuität, in der einzelne Mitarbeiter*innen lediglich Teilziele im großen Ganzen als Vorarbeit für ihre Nachfolger*innen erfüllen müssen, um zufrieden zu sein, wurde durch kurzfristige Ziele ersetzt.

3. Wege zu einer neuen kulturellen Identität

In die alte Welt zurück zu kehren ist freilich weder möglich noch sinnvoll. Die Welt lässt sich schließlich nicht zurück drehen. Immerhin erhöht die kulturelle Herauslösung des Individuums aus kollektiven Kontexten die Flexibilität sowohl von Unternehmen als auch von Mitarbeiter*innen, um auf einem globalen Markt einzustellen und aufzutreten. Gleichzeitig lässt sich auch auf Distanz Bindung durch eine kollektive Identität herstellen, die über das eigene Ego hinaus geht. Damit wiederum wird nicht nur eine historisch-kollektive Identität aufgebaut, sondern auch der Druck von einzelnen Personen genommen: „Du musst die Welt nicht alleine retten. Es reicht, wenn du ein Teil unseres Welt-Verbesserungs-Projekts bist.“

a) Erzählung statt Image

Unternehmen brauchen (wieder) eine narrative Identität, die nicht nur Produkte oder Marken bewirbt, sondern Bedeutung stiftet. Geschichten über Werte, Handwerk, Verantwortung und Gemeinschaft eröffnen eine symbolische Dimension, die über die bloße Gegenwart hinausweist.

Ein Beispiel:Das Unternehmen Faber-Castell betont seine über 250-jährige Tradition und die Verbindung von Handwerk, Kreativität und Nachhaltigkeit. Mitarbeiter*innen sehen sich als Teil einer langjährigen Geschichte, die weit über ihre eigene Karriere und damit den eigenen „beruflichen Tod“ hinausgeht.

b) Zukunft als Fortsetzung der Tradition

Dabei geht es nicht darum eine museale Tradition zu verfolgen, weil früher (anscheinend) alles besser war. Vielmehr lassen sich in der eigenen Tradition die Wurzeln für zukünftige Innovationen finden. Die eigene Geschichte bietet nicht nur eine kulturelle Identität, aus ihr lässt sich auch für die Zukunft lernen.

Ein Beispiel: BMW verbindet die eigene 100-jährige Unternehmensgeschichte mit innovativer Mobilität. Design, Handwerk und Technologie werden nicht nur für den Markt entwickelt, sondern als Teil eines kulturellen Erbes verstanden. Daher gibt es eine Wertschätzung sowohl für alte fossile BMWs als Liebhaberstücke, als auch für neue Entwicklungen auf dem E-Auto-Markt. Das Alte muss daher weder verteufelt, noch glorifiziert werden, um in die Zukunft zu blicken.

c) Langfristige Verantwortung

Die Verantwortung eines Unternehmens sollte wieder verstärkt über kurzfristige Kennzahlen hinaus gedacht werden. Wer ökologische, soziale oder kulturelle Konsequenzen seines Handelns einbezieht, etabliert eine Kontinuität, die Generationen überdauert.

Ein Beispiel:Das Outdoor-Bekleidungs-Unternehmen Patagonia setzt konsequent auf ökologische Nachhaltigkeit. Die Mitarbeiter*innen wissen, dass ihr Handeln langfristige Auswirkungen auf Umwelt, Gesellschaft und kommende Generationen hat. Diese Denkweise ist das klare Signal einer Hoffnung, dass das persönliche Wirken über das eigene Leben hinaus geht.

d) Gemeinschaft statt Marktlogik

Hoffnung entsteht dort, wo Menschen sich als Teil eines größeren Wir erleben. Unternehmen können dies fördern, indem sie Zusammenarbeit, Solidarität und kollektive Aufgabenstrukturen bewusst gestalten.

Aus diesem Grund reflektiere ich in meinen Seminaren regelmäßig die Belohnungskultur der Unternehmen meiner Führungskräfte:

  • Wofür bekommen eure Mitarbeiter*innen Lob und Anerkennung? Wenn sie sich abgrenzen und nur für sich arbeiten? Wenn sie bringen? Oder wenn sie eigene Aufgaben hinten anstellen und andere unterstützen?
  • Wann hat jemand einen hohen Status und wird von anderen bewundert? Wenn jemand sich um seine eigene Karriere kümmert oder sich für andere einsetzt?

Ein Beispiel: Die dänische Firma Novo Nordisk pflegt ein starkes internes Gemeinschaftsgefühl, das über reine Profitziele hinausgeht. Initiativen wie gemeinsame Gesundheitsprojekte oder gesellschaftliches Engagement vermitteln den Mitarbeiter*innen einen Sinn jenseits individueller Karriereziele.

4. Unternehmen als Sinn ermöglichende Mit-Welt

Philosophisch betrachtet ist das Unternehmen nicht nur eine Produktionsgemeinschaft, sondern auch und vor allem als Mit-Welt ein Raum, in dem Menschen Sinn, Wirkung und Verantwortung erfahren:

  • Ich mache etwas, das anderen Menschen das Leben verbessert oder erleichtert.
  • Würde ich dies nicht tun, wäre die Welt ärmer.
  • Gleichzeitig ist mein Schaffen lediglich ein Teil von etwas Größerem.
  • Mein Unternehmen bietet mir einen Rahmen, in dem dieses Größere zusammen mit anderen ermöglicht wird.
  • Dadurch dass mein Unternehmen langfristig agiert, wird es auch nach meinem beruflichen Ausscheiden noch da sein und weiterhin Großes leisten. Ich selbst kann meinen Beitrag dazu leisten.
  • Wenn ich eines Tages dieses Unternehmen verlasse, reiche ich den Staffelstab weiter, damit mein Wirken weiter geht.

Der Philosophin Hannah Arendt zufolge bedeutet Handeln, einen Anfang zu machen, dessen Folgen unabsehbar sind. Unternehmen, die dies ernst nehmen, erlauben Mitarbeiter*innen, ihren Beitrag zu einer Zukunft zu leisten, der größer ist als sie selbst. So wird Arbeit zur Praxis des jenseitigen Hoffens, nicht in einem metaphysischen Jenseits, sondern in einem sozialen, kulturellen und ökologischen Kontinuum.

Fazit und Ausblick

Die Wiedergewinnung kultureller Identität in Unternehmen ist nicht nostalgisch, sondern erscheint in einer Zeit hoher Fluktuation und schwindender Bindungen existenziell notwendig. Sie eröffnet Räume für eine gestalterische Hoffnung, die nicht im Ego endet, sondern über Generationen hinaus wirkt. Die Wiederentdeckung einer kulturellen Identität schafft damit zweierlei:

  1. Sie gibt Menschen das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein, wodurch sie die Motivation in Zeiten abnehmenden Engagements in Unternehmen wieder erhöht.
  2. Sie befreit den Menschen aus der Denkweise, nur für sich selbst verantwortlich und damit auch Schuld an Problemen zu sein.

Die konkreten Beispiele zeigen, dass Tradition, Verantwortung, Gemeinschaft und Innovation keine Gegensätze sein müssen, sondern Hand in Hand gehen, wenn Unternehmen (wieder) zu Orten werden, an denen Menschen erkennen, dass ihr Tun Bedeutung in der Welt hat. In einer Welt, die neoliberale Effizienz oft über alles stellt, liegt darin die größte Form menschlicher Hoffnung: Die Hoffnung über das eigene Leben hinaus eine positive Wirkung zu haben.

Postmoderner Aufstieg

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Die Gesellschaft der Moderne ist auf Aufstieg ausgerichtet. Der Mensch strengt sich an, kann sich etwas leisten, bildet sich weiter, wird eine Führungskraft und macht Karriere. Das Aufstiegsversprechen sorgte jahrzehntelang für eine hierarchische Klarheit und Motivation in Unternehmen.

Doch was passiert, wenn einerseits dieses Aufstiegsversprechen nicht mehr funktioniert und andererseits junge Menschen kein Interesse mehr an diesem klassischen Aufstiegsmodell haben?

Manifest eines neuen Aufstiegsversprechens

I. Das Ende der neoliberalen Erzählung

Über Generationen galt: Wer sich anstrengt, wird belohnt. Bildung, Fleiß und Disziplin galten als Schlüssel zum Aufstieg. Doch dieses Versprechen ist gebrochen. Nicht, weil Menschen faul geworden wären, sondern weil die Strukturen erstarrt sind. Wer oben ist, bleibt oben. Wer unten anfängt, arbeitet oft sein Leben lang gegen unsichtbare Wände.
Erbe und Herkunft zählen mehr als Einsatz und Anstrengung. Die alte Erzählung von der Leistungsgesellschaft hat damit ihre Glaubwürdigkeit verloren.

Früher war Bildung der Schlüssel, um soziale Grenzen zu durchbrechen. Heute reproduziert sie bestehende Unterschiede. Eine Freundin meiner älteren Tochter studiert in Köln. Dort hieß es: „Das Studium ist ein Vollzeitstudium. Wer meint, er könne nebenher arbeiten, um sich das Studium zu finanzieren, kann sich das abschminken. Sinnvoller ist es, zuhause bei seinen Eltern um mehr Geld zu bitten.“

Auch die Diskussion über den Sinn in der Arbeit, neudeutsch purpose, ist für viele mittlerweile eine schale Angelegenheit. In einer Gesellschaft, die Erfolg in Zahlen ausdrückt – Einkommen, Eigentum und Status – wirkt das Wedeln mit dem Sinn schnell wie ein Trostpflaster dafür, dass ein Unternehmen nicht mehr zu bieten hat.

II. Die Leere im postoptimistischen Zeitalter

Wo kein Aufstieg mehr möglich ist, entsteht Resignation. Wer nicht aufsteigen kann, grenzt sich wenigstens nach unten ab. Und wer auch darin scheitert, greift nach der Zerstörung – aus Wut, Ohnmacht oder dem Gefühl, überflüssig zu sein. Symptomatisch dafür sind Aussagen wie „Eigentlich bin ich kein Fan der AfD, aber ich will, dass die da oben einen Denkzettel bekommen“. Auf der anderen Seite gehen viele junge Menschen unter 25 nicht mehr zu Wahlen (siehe Brexit, Trump oder Bundestagswahlen → Studien der WZB, Friedrich-Ebert-Stiftung oder Bundeszentrale für politische Bildung).

Ein ähnliches Pendeln zwischen Resignation, Wut und Egoismus finden wie in Unternehmen wieder, wenn scheinbar ohne Grund sinnvolle Aufgaben abgelehnt oder Veränderungen blockiert werden.

Erscheint jedoch der Aufstieg als Karriere nicht mehr möglich, fällt auch ein wichtiger Motivator in der Arbeit weg: „Warum sollte ich mich anstrengen, wenn es ohnehin nichts bringt? Dann reicht es auch, das Nötigste zu tun und ansonsten mein Leben zu genießen?“

Dies betrifft vor allem die neue Mittelschicht, die sich im Gegensatz zur alten Mittelschicht weniger auf Materielles verlassen kann (Stichworte: Hausbesitz, Handwerk), sondern in einer Sharing-Community groß wurde und sich mit kreativen und digitalen Tätigkeiten einen höheren Status erarbeitete (→ Andreas Reckwitz: Gesellschaft der Singularitäten). Dieser Status besitzt jedoch wenig Fundament und kann schnell schwinden, bspw. wenn eine KI den eigenen Job übernimmt. Kein Wunder, dass aktuell ein enormer Druck im Kessel ist:

  • Die Oberschicht grenzt sich ab.
  • Die alte Mittelschicht schlägt zurück, bspw. durch horrende Handwerker-Rechnungen.
  • Die neue Mittelschicht hat Angst vor dem Absturz.
  • Die Unterschicht kämpft um ihr Überleben.
  • Und viele junge Menschen weigern sich, Teil eines solchen toxischen Systems zu werden.

III. Ein neues Aufstiegsversprechen

Soll ein neues Aufstiegsversprechen wieder zu mehr Motivation in Unternehmen führen, darf es nicht mehr individuell und exklusiv sein, im Sinne von: „Ich will höher hinaus als du.“ Sondern kollektiv und inklusiv: „Wir wollen gemeinsam besser leben und zusammenarbeiten.“

Aufstieg sollte kein Wettlauf mehr sein, sondern ein Projekt kollektiver Gerechtigkeit, Sicherheit, Solidarität, Zufriedenheit, Autonomie, Sicherheit und Würde.

Tatsächlich zeigen Umfragen, dass junge Menschen v.a. deshalb nicht zu Wahlen gehen, weil sie weniger in Parteiprogrammen, sondern themenorientiert denken:

  • Klima ist wichtig, aber die Grünen sind zu elitär.
  • Solidarität ist wichtig, aber die SPD hängt noch zu sehr in der Vergangenheit und die Linke ist zu wenig liberal.
  • Autonomie ist wichtig, aber die FDP agiert lediglich wirtschaftsliberal.

Übertragen wir diese Erkenntnisse auf Unternehmen, bedeutet ein postmoderner Aufstieg:

  • dass niemand Angst vor einem gesellschaftlichen Absturz haben muss,
  • dass Bildung und Seminare kein Privileg sind, um Karriere zu machen, sondern eine Möglichkeit persönlicher Weiterentwicklung,
  • dass Arbeit Anerkennung erfährt, egal ob sie im Büro, in der Pflege oder an einer Maschine geleistet wird,
  • dass alternative Lebensläufe verstanden, respektiert und gefördert werden,
  • dass sich Wohlstand und finanzielle Sicherheit in einer guten Balance zu Freizeitzeit, Gesundheit und Sinn befinden.

Dieser qualitative Aufstieg funktioniert weniger vertikal, sondern horizontal:

  • Sinnvoll verbrachte (Arbeits-)Zeit,
  • Bildung für alle (Interessierte),
  • Gesundheit als zentraler Baustein,
  • persönliche statt verordnete Sinnsuche,
  • Gemeinschaft statt Abgrenzung,
  • Teilhabe an Unternehmensentscheidungen, wo es möglich und sinnvoll erscheint.

Fazit: Eine Zeitenwende

Es erscheint einfach, sich über die Arbeitsmoral junger Menschen zu beklagen. Schwieriger ist es, zu erkennen, dass wir aktuell mitten in einer großen Zeitenwende stehen. Noch schwieriger ist es Strukturen in Unternehmen anzupassen, damit Motivation auch für diejenigen wieder möglich ist, die nicht vertikal aufsteigen wollen. Logischerweise braucht es hier hybride Lösungen, um nicht die Mitarbeiter*innen vor den Kopf zu stoßen, die mit dem Aufstiegsmodell der Moderne groß wurden. Ein erster wichtiger Schritt wäre es jedoch, zu akzeptieren dass junge Menschen anders arbeiten wollen.

Wieviel Führung braucht der Mensch?

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O.K. Leute. Manche von euch müssen jetzt ganz stark sein. Aber wenn wir Wissenschaft ernst nehmen (Follow the Science!) – in diesem Fall Studien über den Umgang mit Katastrophen – wird klar, dass Menschen viel weniger Führung brauchen als uns das sowohl die Politik als auch Hollywood vormachen wollen. In Wirklichkeit organisieren sich Gruppen von Menschen viel besser als uns weisgemacht wird: Sie helfen sich gegenseitig, sind weniger egoistisch als wir denken und reagieren weniger panisch als wir es aus großen Blockbustern kennen. So geordnet wie Menschen unter Druck reagieren ist fast schon langweilig.

Aber der Reihe nach …

Unser sozialer Aktivierungsmechanismus in Krisen

Geraten Menschen in eine Bedrohungssituation, passiert typischerweise Folgendes:

  • Sie erkennen ihr gemeinsames Schicksal.
  • Dadurch entsteht spontan eine geteilte soziale Identität.
  • Diese neue, gemeinsame Identität und kollektive Hoffnung auf eine Rettung aktiviert die gegenseitige Unterstützung und Koordination.

In der Katastrophen-Forschung nennt sich dieser Mechanismus „emergent social identity“.

Emergenz bezeichnet das Phänomen, dass sich aus geordneten Strukturen unter Chaos eine eigene Ordnung herausbildet, die niemand von außen steuert. Das Prinzip der Selbstorganisation ohne Führung klingt komplizierter als es ist. Wenn wir genauer hinsehen, erlebt jede*r von uns täglich solche Situationen.

Ein Beispiel: Spontane Koordination in einer Fußgängerzone

  1. Situation: Ein Gehweg ist plötzlich durch ein Hindernis blockiert (Bauarbeiten, Lieferwagen).
  2. Einzelverhalten: Jeder Fußgänger weicht intuitiv aus, sucht eine Lücke, passt seine Geschwindigkeit an oder wartet, bis es frei ist. Kinderwägen werden gemeinsam getragen. Ältere Menschen werden gestützt.
  3. Emergentes Muster: Es entsteht ein geordnetes „Fließsystem“ ohne Anordnung: Menschen teilen sich automatisch in zwei Richtungen auf, lassen andere passieren und passen ihr Tempo an. Niemand sagt „Du gehst links, du rechts“, keine Ampel regelt das Geschehen. Dennoch funktioniert das System erstaunlich reibungslos – es wirkt fast wie eine organisierte Struktur.

Führung funktioniert anders als wir denken

Wer die Cinefin-Matrix (externer Link) auf Führung überträgt, kann zu der Erkenntnis kommen,

  • dass sich einfache Aufgaben gut delegieren lassen,
  • komplizierte Aufgaben ein gutes Gruppengefüge benötigen,
  • komplexe Aufgaben Schwarmintelligenz brauchen,
  • aber unüberschaubare Situationen, also Krisen und Chaos, eine stringente Führung brauchen, bis wieder Klarheit hergestellt ist.

Fakt ist: Medial präsent sind Plünderungen, Egoismen und Regelbrecher. Auswertungen von Tausenden Überlebenden von 9/11 ergaben jedoch: Die meisten Menschen verließen die Gebäude geordnet, halfen einander, trugen Mobilitätseingeschränkte mehrere Stockwerke nach unten und warteten aufeinander, obwohl sie alleine schneller gewesen wären. Panik in Krisensituationen sind weitgehend ein Mythos.

Das Bild von panischen Menschenmassen hat sich tief in unser kollektives Gedächtnis eingeprägt und bestimmt daher auch unsere Entscheidungen und unser Wahlverhalten. Wer daran glaubt, dass Menschen in Krisen zu Plünderern werden (Bsp. Hurrican Kathrina) oder während einer Terrorattacke unkoordiniert durch die Gegend rennen, ist auch dafür, die Befugnisse von Führung jeglicher Art auszubauen. Wer darauf vertraut, dass Menschen sich gerade in Krisen gut selbst organisieren, ist ein Anhänger weitgehender Liberalität. Genau jene Liberalität, die wir brauchen, um sowohl gesellschaftlich als auch beruflich Vertrauen zueinander zu haben.

Studien im Nachgang vieler Katastrophen (Erdbeben, Brände, 9/11) konnten zeigen:

  • Es bilden sich spontan Koordinationsnetzwerke.
  • Rollen entstehen und lösen sich wieder auf.
  • Nach der Krise verschwinden diese flach organisierten Gruppen wieder oder werden formalisiert.

Die „Plünderer“ während Kathrina erwiesen sich im Nachhinein als Menschen, die für andere Menschen Essen besorgten.

Alltag- versus Krisen-Führung

Soziologische Studien zu vermeintlichem Panikverhalten legen nahe, dass Menschen im Alltag, in dem es keine unmittelbare gemeinsame Bedrohung gibt und damit eine gemeinsame Identität weniger notwendig ist, mehr Führung brauchen, weshalb Routinen, Autoritäten und klare Rollen wichtig sind, während in Krisen weniger Führung notwendig ist.

Kommt in Krisen eine Führung von außen, bspw. durch eine Autorität, der die Gruppe nicht vertraut, kann dies eine verheerende Wirkung haben. Auf gesellschaftlicher Ebene passiert dies, wenn sich Politiker*innen als Legislative oder Polizist*innen als Exekutive in die Selbstorganisation einmischen. Auf beruflicher Ebene kann ein externes Krisenmanagement mehr kaputt machen als gedacht. Daher ist es gerade in Krisensituationen hilfreich, wenn das Management der Krise von einer vertrauten Person übernommen wird.

Führung in Krisen ist also nicht ganz obsolet. Sie muss jedoch ein Teil der Gruppe sein, um Gegenwehr zu verhindern. Während in klassischen Modellen davon ausgegangen wird, dass Menschen insbesondere in chaotischen Situationen irrational handeln und von oben gelenkt werden müssen, gehen neuere Modelle davon aus, dass Führung emergent sein sollte: Eine Person oder kleine Gruppe übernimmt dann die Führung, wenn sie als Teil des „Wir“ wahrgenommen wird und glaubwürdig handelt.

Ein Beispiel: Nach dem Anschlag in der Londoner U-Bahn 2005 halfen sich Menschen spontan gegenseitig und befolgten Anweisungen der Einsatzkräfte nicht, weil sie befehligt wurden, sondern weil sie die Einsatzkräfte als ihre Leute wahrnahmen.

Zusammengefasst lässt sich daher festhalten:

Wenn das nicht Hoffnung auf die Zukunft macht?

Literatur

John Drury & Stephen Reicher (Hrsg.) – Crowds in the 21st Century: Perspectives from Contemporary Social Science (Routledge, 2012) → Überblick über moderne Crowd-Psychologie; zeigt, dass „Panik“ selten ist und Solidarität dominiert.

E. L. Quarantelli – What Is a Disaster? Perspectives on the Question (Routledge, 1998) → Klassiker; entwickelt die Idee, dass Katastrophen nicht durch Panik, sondern durch soziale Organisation geprägt sind.

Michael J. Reiss, Roz Diane Lasker, Robyn R. Gershon (Hrsg.) – World Trade Center Evacuation Study: Lessons for Emergency Preparedness
(Centers for Disease Control and Prevention / Columbia University, 2004–2006, diverse Publikationen) → Empirische Auswertung: geordnetes, solidarisches Verhalten, kaum Panik.

Dirk Helbing – Social Self-Organization: Agent-Based Simulations and Experiments to Study Emergent Social Behavior (Springer, 2012) → Quantitative Perspektive auf emergentes Verhalten, auch bei Evakuierungen und Katastrophen.

Vorurteile gegenüber Hoffnung

Seitdem ich mit dem Thema „Hoffnung für Führungskräfte“ unterwegs bin, stoße ich immer wieder auf Vorurteile, warum Hoffnung anscheinend nicht zu Führungskräften passt:

  • Hoffnung ist doch passiv!
  • Hoffnung ist illusorisch!
  • Hoffnung zeigt Schwäche!
  • Hoffnung ist mir zu vage!
  • Hoffnung ist gefährlich!

Schauen wir uns diese fünf Vorurteile im Einzelnen an:

Hoffnung ist zu passiv. Mit 17 Jahren erkrankte Milton Erickson, der spätere Entwickler der ressourcenorientierten Hypnotherapie, an einer Ganzkörper-Kinderlähmung. Eines Tages hörte er einen Arzt zu seinen Eltern sagen, dass er wohl nicht mehr lange zu leben hat. Das mobilisierte ihn so sehr, dass er daran arbeitete, einzelne Körperteile, beginnend mit einem Finger zu bewegen. Zuerst stellte er sich die Bewegung geistig vor. Nach und nach ließen sich seine Körperteile tatsächlich steuern. Zuerst minimal, dann immer mehr. Er beobachtete auch seine kleine Schwester, die gerade dabei war, laufen zu lernen und spielte gedanklich nach, was es dazu brauchte und welche Muskeln im Körper aktiviert werden mussten. Schließlich dehnte er seine Bewegungen auf den ganzen Körper aus. Nach einem Jahr konnte er an Krücken gehen, zwei Jahre später bereits ohne Krücken.

Hoffnung ist illusorisch. Stellen wir uns folgende Situation vor: Ein Fußballclub aus der 2. oder 3. Liga spielt im Pokal gegen den FC Bayern. In den letzten 10 Jahren haben solche Außenseiter 2 mal gegen die Bayern gewonnen – für die Aficionados: Saarbrücken und Kiel. Verdammt selten, aber möglich. Die Fans welcher Mannschaft werden wohl frenetischer ihren Club anfeuern? Die Optimisten, die wissen, dass ein Sieg ohnehin gewiss ist? Oder die Hoffenden, die zumindest eine klitzkleine Chance sehen? Wenn, ja, wenn sie laut genug sind.

Hoffnung zeigt Schwäche. Achilles war nur verwundbar, weil seine Mutter ihn beim Tauchen in den Unterweltfluss Styx, der ihn unverwundbar machen sollte, an seiner Ferse festhielt. Erst durch die Aufrechterhaltung der Bindung blieb er verletzlich. Hätte sie ihn losgelassen, wäre er vermutlich ertrunken. Unsere Verwundbarkeit verhindert damit, dass wir sowohl uns selbst, als auch den Zugang zu anderen verlieren.

Hoffnung ist zu vage. Hoffnung ist eine Mischung aus Zuversicht und Zweifel. Klar ist das vage. Aber das ganze Leben ist vage. Hoffnung geht ins Offene. Hoffnung bildet das komplette Leben ab und nicht nur eine Wunschversion. Interessant dabei ist auch, dass wir optimistisch oder pessimistisch sind, uns aber Hoffnungen machen können. Wir können sogar skeptisch sein und gleichzeitig Hoffnung haben. Deshalb ist der Gegenspieler der Hoffnung nicht die Angst. Unsere Angst ist ein treues Helferlein, weil sie zur Hoffnung dazu gehört. Sich zu fürchten, erdet uns. Die Angst hält uns auf dem Boden der Tatsachen. Sie verhindert falsche Hoffnungen. Die Hoffnung wiederum lässt uns empor steigen. Ein Teil Engel, ein Teil Mensch.

Hoffnung ist gefährlich. Und das ist gut so. Klar kann ich scheitern. Aber am Ende verändern Hoffnungen die Welt. Gott bewahre! Optimismus heisst: Die Dinge gut machen. Sie optimieren. Das Optimum heraus holen. Kein Wunder, dass in Unternehmen Optimismus angesagter ist als Hoffnungen. Zuversicht heisst: Durchhalten. Hoffnung heisst: Die Dinge anders machen. Oder auch: Andere Dinge machen.

Wer progressiv unterwegs ist, wird oft der Schwarzmalerei bezichtigt, während Konservative die Hoffnung haben, dass das alles schon nicht so schlimm wird. Dabei lässt sich die Welt auch mit einem Lächeln im Gesicht verändern, wenn der Fokus auf bereits erreichte Erfolge gerichtet wird.

Michael Hübler – Hoffnung! Eine unterschätzte Führungsstärke für turbulente Zeiten (2025)

Was sich aus der No-Kings-Bewegung in den USA lernen lässt

Wer sich wie ich mit dem Thema Hoffnung beschäftigt, kommt an der gestaltenden Kraft von „Hoffnung in der Dunkelheit“ – wie ein Buchtitel der großartigen Autorin Rebecca Solnit lautet – nicht vorbei. Ihr Fazit: Veränderungen kommen für Unbeteiligte oft wie aus dem Nichts. Deshalb erscheint es für uns Zuschauer*innen überraschend, dass gestern „plötzlich“ Millionen von Menschen in den USA gegen Donald Trump auf die Straße gingen. Dabei ist es doch logisch, dass eine solche Aktion monatelang im Hinterzimmer geplant wurde, insbesondere, weil die beteiligten Gruppen derart zusammen gewürfelt sind:

  • Welches Motto geben wir uns?
  • Was verbindet all die verschiedenen Gruppen?
  • Welche Netzwerke nutzen wir?

Wir können sogar noch weiter in der Zeit zurück gehen. Der Mensch als historisches Wesen weiß, dass ein gewaltfreier Widerstand schon oft in der Geschichte erfolgreich war, siehe Ghandi oder Martin Luther King. Der Mensch weiß auch, dass Humor eine großartige Waffe sein kann, um sich zu verweigern. Und der us-amerikanische Mensch weiß, welche Trigger in den USA besonders schmerzhaft sind: Der Slogan „No Kings“ hat Symbolkraft, weil er sich auf eine USA bezieht, die sich bewusst von dem britischen Königshaus loslöste, als sich die Gründerväter zu demokratischen Prinzipien bekannten. Das Anti-Symbol des Königs spricht alle Seiten an. Genau das macht die Bewegung – so fragil sie auch sein mag – so gefährlich für die Republikaner um Donald Trump.

Gleichzeitig läuft damit der Vorwurf der Republikaner, die Demonstrant*innen würden Amerika hassen, ins Leere: Die No-Kings-Bewegung steht für Gewaltfreiheit, Freude (man schaue sich nur die lustigen Konstüme an) und die Verteidigung ur-amerikanischer Grundrechte.

Was lässt sich daraus grundsätzlich für den Umgang mit Systemen lernen?

Nicht wenige Führungskräfte in meinen Seminaren beklagen sich über starre Systeme. Eine große Demonstration ist hier natürlich fehl am Platz. Denn in Organisationen geht es nicht darum, „einen König zu stürzen“, sondern darum, andere Werte als die momentan aktuellen zu leben oder Strukturen zu hinterfragen. Es geht darum, einen guten Weg miteinander zu finden. Es geht um die Ur-Frage von Theodor Adorno: Wie gelingt ein gutes Leben in einem schwierigen System?

Eine Anekdote aus meinem Seminaralltag: Zu Beginn eines einmal im Jahr stattfindenden Führungsseminars in einem mittelständischen Unternehmen lässt eine Führungskraft in der Erwartungsabfrage eine mittelschwere, verbale Bombe explodieren: „Das hier ist doch nur ein Feigenblatt! In Wirklichkeit verändert sich doch sowieso nichts!“

Frage an die Trainer*innen da draußen, bevor ihr weiterlest: Was hättet ihr gemacht?

Ich jedenfalls hab leer geschluckt, kurz durchgeatmet und mich dann bei dem Teilnehmer bedankt: „Danke, dass Sie das hier so offen aussprechen. Damit lässt sich arbeiten. Gleichzeitig zeigt es, dass Sie Kritik üben können, ohne rauszufliegen.“

Daraufhin entstand eine lebhafte, aber immer konstruktive Diskussion mit den anderen Teilnehmer*innen und v.a. mit der anwesenden Personalleiterin. So schnell bin ich noch nie in eine Seminar gestartet. Und am Ende gingen alle mit frischer Motivation nach Hause.

Das Beispiel zeigt: Es gibt viele Möglichkeiten, Veränderungen herbei zu führen. Manchmal ist es die öffentliche Kritik einer einzelnen Person, die etwas in Gang bringt. Manchmal ist es aber auch das jahrelange Netzwerken Gleichgesinnter, manchmal Humor, und manchmal das Bewahren der eigenen Würde, nicht alles mitzumachen.

Egal wie: Wer erkennt, dass er die Zukunft mitgestalten kann, muss nicht resignieren. Denn viele Früchte ernten wir erst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten. Die No-Kings-Demonstrationen werden zu keinem Sturz von Donald Trump führen. Aber sie zeigen: Die Zivilbevölkerung ist wach.

Vielleicht malen die Mühlen langsam. Aber sie malen.

Genauso wenig führt eine offene Kritik an Strukturen in einem Unternehmen sofort zu Veränderungen. Aber auch hier ist das Signal deutlich: „Ich bin nicht zufrieden, wie es hier läuft. Ich will aber auch nicht kündigen, sondern mitgestalten. Lasst uns reden.“

Als Unternehmensleitung würde ich solche Mitarbeiter*innen sofort in die Pflicht nehmen und mindestens als Co-Leitung in einem Restrukturierungsprojekt einsetzen. Eine solche Energie sollte produktiv genutzt werden.