Schlagwort-Archiv: Stress

Gedankenhygiene betreiben

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Wir können uns sowohl positiv als auch negativ hypnotisieren. Welchen Weg wir wählen hängt weitgehend von unseren Gedanken ab. Als meine Kinder klein waren, war bei ihnen im Kindergarten der Begriff „Scheiße“ verboten. Als verantwortungsvoller Vater erklärte ich daraufhin meinen Kindern den Unterschied zwischen „Mist“ und „Scheiße“: „Wenn ihr eine Tasse kaputt macht, ist das Mist. Wenn ihr jedoch einen Kakao auf meinen Laptop verschüttet ist das Scheiße.“

Wir wählen nicht nur bestimmte Gedanken und Begriffe aus. An diesen Begriffen hängen durch die Vernetzung in unserem Gehirn ganze Gedanken- und Gefühlswelten. Wenn wir von Problemen und Konflikten sprechen, merken wir sofort, wie unsere Stimmung negativ wird. Sprechen wir jedoch von Aufgaben, Projekten, Chancen oder Herausforderungen, wirkt sich dies meist positiv auf unser Gemüt aus. In meinen Seminaren führe ich dazu ein Gedankenexperiment durch, dass ich mir von dem Hypnosystemiker Gunther Schmidt ausleihe – hier in einer Schnellversion:

  • Denken Sie an ein Problem aus der letzten Woche und achten darauf, wie es Ihnen damit körperlich geht.
  • Tauschen Sie nun den Begriff des Problems gegen den Begriff der Aufgabe aus. Wie geht es Ihnen körperlich damit?
  • Tauschen als als nächstes den Begriff der Aufgabe gegen den Begriff der Herausforderung aus. Wie geht es Ihnen damit?

Das Fazit ist immer ähnlich:

  1. Das Austauschen ist für 11 von 12 Personen emotional angenehmer, weil Probleme negativ besetzt sind. Meist ist ein Problem dabei, das sich nicht so einfach austauschen lässt. Die „Täuschung“ erscheint zu einfach.
  2. Das Austauschen gegen den Begriff der Aufgabe versachlicht das Thema und macht es damit handhabbarer. Bei vielen entsteht im Gehirn spontan eine Art Projektplan. Aufgaben passen meist – nicht immer – besser in den beruflichen Bereich und hängen eng mit Erwartungen und Rollen in der Arbeit zusammen.
  3. Das Austauschen gegen den Begriff der Herausforderung kann sowohl in privaten als auch beruflichen Bereichen passen. Manche Teilnehmer*innen wehren sich gegen den Begriff der Herausforderung im beruflichen Bereich, weil dieser in den letzten Jahren zu inflationär eingesetzt wurde: „Sehen Sie es als Chance! Wir stehen vor einer großen Herausforderung!“ Oftmals sollen damit reale Probleme verdeckt werden, wogegen sich unser Gehirn wehrt. Wenn es dennoch funktioniert, berichten die meisten von einem inneren Motivationsschub.

Es geht also nicht um ein simples „Think positiv!“ oder um ein magisches Austauschen von Begriffen, wie dies auf manchen Blog-Seiten propagiert wird. Um im Bild zu bleiben: Es geht nicht darum, zu einem klinisch sauberen Gehirn zu kommen, sondern darum, sich bewusst zu machen, wann ich mir übertriebene Sorgen mache und wann es angebracht ist, sich Sorgen zu machen. Es geht also um ein real angepasstes „Think positiv!“.

Organische Solidarität als Basis einer gelungenen Teambindung

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Teufelskreis Fluktuation

Viele Firmen haben derzeit einerseits mit einer hohen Fluktuation und andererseits mit einer Zusammenarbeit auf Distanz zu kämpfen. Beide Faktoren machen den Aufbau tiefer Beziehungen schwierig. Dabei wären Bindung und gegenseitiges Vertrauen so wichtig, um gut mit Stress und Krisen umzugehen. Damit befinden sich viele Teams in einem Teufelskreis:

  • Die hohe Fluktuation verhindert langfristige Bindungen.
  • Das Homeoffice kann gerade bei jungen Teams auch zu emotionalen Distanzen führen.
  • Damit wird jede*r mit Stress in Krisenzeiten alleine gelassen.
  • Dies wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit eines frühzeitigen Wechsels.

Wie lässt sich dieser Teufelskreis durchbrechen?

Mechanische versus organische Solidarität

Der Soziologe Emile Durckheim unterschied zwischen einer mechanischen und einer organischen Solidarität. Die mechanische beruht auf einer Solidarität unter Gleichen, über die nicht nachgedacht werden muss, was in Familien der Fall ist. Oder aber die mechanische Solidarität wird künstlich hergestellt, wie wir das von Sekten, der Mafia oder aus dem Kommunismus kennen, indem die Gleichheit überbetont wird und persönliche Unterschiede unterdrückt werden.

Die organische Solidarität wiederum beruht auf Ergänzung durch Unterschiede. Während Kollege A kreativer ist, hat Kollegin B ein besseres Zeitmanagement. Eine organische Solidarität beruht daher nicht auf engen Gruppenzugehörigkeiten und damit engen meist persönlichen Bindungen, sondern auf der wechselseitigen Angewiesenheit aufeinander. Wie in einem Körper die verschiedenen Organe aufeinander angewiesen sind, kann in einer modernen arbeitsteiligen Gesellschaft das eine soziale Segment nicht ohne das andere bestehen. Die organische Solidarität beruht also nicht auf Ähnlichkeit, sondern auf einer gesellschaftlichen Notwendigkeit der Zusammenarbeit.

Die Stärke von Schwächen

Die organische Solidarität lässt sich gut mit einem Körper vergleichen. Ein Körper besteht aus verschiedenen Körperteilen mit unterschiedlichen Funktionen. Die Hände greifen, die Beine bringen uns voran, der Kopf denkt, der Magen verdaut, usw. Um geistig zusammengehalten zu werden, braucht unser Körper einen Sinn. Dieser kann im Selbsterhaltungstrieb, einer Vision von Glück und Zufriedenheit, der Abwesenheit von Schmerzen und Krankheit oder schlicht einem Gefühl von Lebendigkeit zu finden sein. Worin jedoch besteht die Idee des Zusammenhalts in einer organischen Solidargemeinschaft, beispielsweise einem Arbeitsteam?

Am wichtigsten sind sicherlich auch hier gemeinsame Ziele, eng verbunden mit dem Sinn der Team-Existenz: Wofür und für wen machen wir das alles? Wollen wir vielleicht sogar die Welt ein klein wenig besser machen?

Desweiteren gilt es aber auch, sich des Miteinanders stärker bewusst zu werden:

  • Wie wollen wir miteinander umgehen? Wie wollen wir uns loben und kritisieren? Wie mit Fehlern umgehen? Wie humorvoll darf es sein? Wie offen und ehrlich? Wofür gibt es Anerkennung? Was ist tabu?
  • Welche Stärken und Schwächen haben wir und wie können wir uns gegenseitig ergänzen?

Der zweite Punkt verdeutlicht, dass der alleinige positive Fokus auf Stärken für eine gegenseitige Bindung nicht ausreicht. Es braucht auch das Bewusstsein der eigenen Schwächen und damit verbunden die Demut, die Kolleg*innen zu brauchen.

Mechanische versus organische Teams

Viele Teams, die ich in den letzten Jahren begleitete, hatten einen familiären Charakter. Sie sahen sich als Teams, die nicht nur funktional zusammen arbeiten, sondern auch in der Teeküche gerne private Themen austauschten. Die Zusammenarbeit auf Distanz brachte hier eine drastische Zäsur. Plötzlich gab es viel weniger Möglichkeiten, sich spontan in der Pause über Privates auszutauschen. Damit wurde solchen Teams jedoch eine starke Quelle zur Bindung und zum gegenseitigen Vertrauen geraubt, im Sinne von: Wenn ich von A’s Kindern weiß, kann ich A auch von meinem Problemen erzählen. Solche Teams funktionierten folglich (zumindest zum Teil) als eine Gemeinschaft unter Gleichen nach dem Prinzip der mechanischen Solidarität.

In mechanischen Solidargemeinschaften ist Harmonie wichtig. Daher ist es schwierig, Probleme anzusprechen. Gleichzeitig glauben sie daran, wenig regeln zu müssen, wie miteinander umzugehen ist, wie gelobt und kritisiert werden sollte, wie mit Fehlern umgegangen wird, wofür es Anerkennung gibt und was tabu ist. In einer Gemeinschaft unter Gleichen braucht es dies auch nicht. Man kennt sich schließlich und trifft lieber spontane Vereinbarungen.

Im Vergleich zu einer Familie wird also deutlich: Je weniger gut sich Menschen kennen und je geringer daher die (natürliche) Bindung ist, desto wichtiger ist eine organische Solidarität. In dem Moment, wo sich mechanische Gemeinschaften auflösen, braucht es wieder mehr Regeln, Rituale und Rollen, aus denen die jeweiligen Stärken der Beteiligten deutlich hervorgehen.

Eine Bindung im Team ist also durchaus auch bei einer hohen Fluktuation möglich, wenn die Erwartungen aneinander und der Umgang miteinander von Beginn an offen und ehrlich geklärt werden. Damit dies gelingt, braucht es eine moderierende, emotional kompetente und positive Führungskultur.

Literatur (externe Links)

Michael Hübler – Die Führungskraft als Mediator

Michael Hübler – Mit positiver Führung die Mitarbeiterbindung fördern

Michael Hübler – Wir sollten reden!

Unsere Intuition als kluger Ratgeber

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Gerade in hektischen Zeiten scheiden sich die Geister, was unsere Intuition angeht. Die einen verlassen sich dann lieber auf ihren Verstand, um nicht zu emotional zu entscheiden. Den anderen erscheint das logische Denken unter Stress viel zu langsam. Was also ist unsere Intuition? Und wann sollten wir sie wie bei der Entscheidungsfindung einsetzen?

Intuition als interner Moderator

Laut dem Philosophen Henri Bergson vermittelt Intuition zwischen unserem Intellekt und unserem Instinkt. Würden wir nur auf unseren Intellekt hören, kämen vermutlich unsere Bedürfnisse zu kurz. Würden wir nur auf unseren Instinkt hören, wäre unser Verhalten ab und an vermutlich etwas maßlos. Da wir jedoch in der Regel in einem sozialen Umfeld leben, brauchen wir – insbesondere in der Arbeit – noch eine vierte Instanz, die leider nicht ebenso wie die anderen drei mit I anfängt, sondern mit E: Unsere Empathie, die häufig auch als soziale Intuition beschrieben wird.

Mein Intellekt ist folglich für folgende Fragen zuständig:

  • Was nehme ich wahr?
  • Welche Fakten kann ich berücksichtigen?
  • Was weiß ich?
  • Was sagt meine Erfahrung?
  • Kann oder soll ich mein Wissen auslagern, um Energie und Zeit zu sparen, beispielsweise Computer nutzen?
  • Kann oder soll ich bei häufig vorkommenden Entscheidungen Checklisten oder Prozessablaufpläne nutzen?

Mein Instinkt kümmert sich um meine Bedürfnisse:

  • Was brauche ich?
  • Was will ich vermeiden?
  • Wovor sollte ich mich schützen?
  • Wie kann ich meine Lust vergrößern oder Unlust vermeiden?

Meine Empathie beschäftigt sich mit meinem sozialen Umfeld:

  • Was ist mein Gegenüber für ein Mensch?
  • Was braucht mein Gegenüber?
  • Was regt mein Gegenüber in mir an (Stichwort: Spiegelneuronen)?
  • Womit könnte ich mein/em Gegenüber überraschen / enttäuschen / wütend machen ängstigen / eine Freude machen?

Bleibt noch meine moderierende Intuition übrig, die nach Bergson grundlegend darauf achtet, dass Handlungen eher lebendigkeitsfördernd sind:

  • Was hält mich und mein Gegenüber lebendig?
  • Wann sollte ich auf meinen Intellekt, wann auf meinen Instinkt und wann auf meine Empathie hören?

Quelle: Philosophie Magazin 02/2023

Warum uns idealistische Vorstellungen in Krisenzeiten nur bedingt helfen

Über das Improvisieren in Zeiten der Krise

Idealismus versus Materialismus

Wird unser Sein durch unser Bewusstsein bestimmt? Oder unser Bewusstsein durch unser Sein? Der Idealismus geht vom ersten aus. Der Materialismus vom zweiten – mit weitreichenden Konsequenzen für unsere Sicht auf die Welt, unsere Verbissenheit im Umgang mit Zielen, unsere Moralvorstellungen und unseren Umgang mit Stress.

Grundsätzlich würden vermutlich die meisten Menschen eine idealistische Sichtweise bevorzugen. Warum soll ich mich in mein Schicksal ergeben, wenn ich von einer besseren Welt oder einem eigenen, besseren Leben träumen kann? Wir wollen doch die Welt retten. Oder zumindest den Klimawandel verzögern. Oder nicht?

Tragisches versus lustvolles Scheitern

Dabei liegt gerade das idealistische Träumen nahe an der Tragödie. Die Tragödie suggeriert dem Menschen, dass etwas idealisiert Großartiges niemals Erfolg haben kann. Held*innen versuchen es dennoch und scheitern. Die wahre Freiheit kann für Idealisten daher nur in der Zukunft stattfinden. Die Welt, in der wir leben ist unvollkommen und muss verbessert werden. Der Mensch muss erzogen oder zumindest entwickelt werden. Daher ist bei idealistischen Menschen auch die Moral niemals weit weg. Für die Durchsetzung der Moral wird gekämpft und werden Kriege geführt, ähnlich den religiösen Kreuzzügen im Mittelalter oder dem modernen Dschihad, dem heiligen, islamischen Krieg.

Wenn wir es jedoch nicht schaffen, dass eine neue Welt entsteht – was aufgrund der Ferne zu den realen Verhältnissen zumindest teilweise immer scheitern muss – entstehen Schuldgefühle, weil wir uns nicht genug angestrengt haben. Deshalb haftet Idealisten immer auch etwas Verkrampftes, Verbissenes, Humorloses und Lustfeindliches an. Dürfen sie es sich überhaupt erlauben, Spaß in einer Welt zu haben, die aus ihrer Sicht dem Untergang geweiht sind? Wäre das nicht ein Frevel?

Eine idealistische Sichtweise auf das Leben muss auch im Einzelfall scheitern, weil es unmöglich ist, dem neoliberalen Mantra der totalen Gleichheit zu folgen. Weil wir über unterschiedliche Startbedingungen verfügen, ist es zwar aus Gleichberechtigungsgründen ethisch richtig, Randgruppen mehr zu ermöglichen als früher. Dennoch kann nicht jede*r alles werden. Diese Rahmenbedingungen erkennt der Materialismus an, wenn er davon ausgeht, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt.

Würde der Mensch sich nun lediglich als Realist in die realen Verhältnisse seines Lebens ergeben, wären die bestehenden Verhältnisse für alle Zeiten zementiert. Der Materialist im Sinne des österreichischen Philosophen Robert Pfallers (Wofür es sich zu leben lohnt) erkennt diese Umstände an und beginnt jedoch anstatt einer bloßen Akzeptanz mit ihnen zu spielen. Damit ist er der Komödie näher als der Tragödie. Er ist kein Held, der einen idealen Zustand anstrebt, sondern begibt sich lust- und humorvoll in die Rolle des einfachen Menschen. Mit großformatigen Helden können wir uns nur identifizieren, wenn wir auch im realen Leben weit über uns hinauswachsen. Andernfalls entlassen sie uns frustriert zurück in unser einfaches Leben. Mit einem Clown, der auf einer Bananenschale ausrutscht, identifizieren wir uns (vermutlich) alle, weil wir alle Situationen eines zufälligen Scheiterns kennen.

In Komödien geht es um das kleine Scheitern im Alltag auf der Basis kleiner Katastrophen und Missverständnisse, während in Tragödien das große Scheitern angesagt ist. Dies wird besonders deutlich in Verwechslungskomödien wie beispielsweise in Charlie Chaplins „Der große Diktator“, wo ein einfacher Friseur aufgrund seiner Ähnlichkeit mit dem Diktator Hinkel verwechselt wird. Der Friseur hat keinen idealistischen Plan zur Verbesserung der Welt, sondern wird mit einem manifesten, materialistischen Fakt konfrontiert. Fortan muss er auf diese aufgezwungene Rolle reagieren, was zu einigen paradoxen Situationen führt. Er wird nicht zu einem authentischen Helden, der einer eigenen Agenda folgt, sondern zu einem Helden wider Willen. Diese komödiantischen Verwicklungen und erzwungenen Improvisationen liegen unserem eigenen Alltag wesentlich näher als ein Idealismus mit epischen Zielen zur Rettung der Welt.

Während also die wahre Freiheit und das wahre Glück für Idealisten niemals stattfindet, weil wir uns in Gedanken immer eine bessere und schönere Welt vorstellen können, gibt sich der Materialist nicht mit der Welt ab – das würde ein Realist tun – sondern begibt sich wie im Improvisationstheater in eine Rolle, in der er humor- und lustvoll mit dem spielt, was er vorfindet. Er sucht sich folglich eine Nische, in der er ein gutes Leben führen kann, und vielleicht gerade aufgrund der Ferne einer idealistischen Verbissenheit die Welt zu einem besseren Ort macht.

Improvisieren in Krisenzeiten

Was folgt nun aus all dem? Ein idealistisches Bild von der Welt ist sicherlich hilfreich, um bestehende Umstände zu verbessern. In Zeiten von Krisen können sich viele Menschen ein solches Bild jedoch nicht mehr vorstellen, weil sich die Bilder von einer besseren Zukunft, die ihnen bis dato präsentiert wurden, als unerreichbar herausstellten.

In solchen Fällen ist es sinnvoller, die Umstände materialistisch anzuerkennen und zu lernen, damit zu spielen. Ein Spiel wiederum erfordert klare Rollen und Regeln. Das einfachste Rollensystem im Improtheater besteht im Unterschied zwischen einem Hoch- und einem Tiefstatus. Der Realist würde nun die damit verbundenen Machtverhältnisse anerkennen. Der Materialist erkennt lediglich an, dass es Unterschiede im Status gibt, was jedoch nicht bedeutet, dass ein Mensch im Tiefstatus automatisch unterlegen sein muss. Bereits Hegel wusste: Meister und Untergebene sind voneinander abhängig. Denn was wäre ein Meister, wenn der Untergebene das „Spiel“ nicht mehr mitspielt oder die wunden Punkte des Meisters, beispielsweise seinen Stolz, manipuliert?

Die einfachste Regel im Improtheater lautet „Alles annehmen. Niemals Nein sagen“. Das wieder bedeutet nicht, dass wir alles auf alle Zeiten akzeptieren müssen. Stattdessen können wir mit dem Gegebenen experimentieren, anstatt bloß von einer idealen Zukunft zu träumen und so zu Lösungen kommen, die nicht einmal in unseren kühnsten, idealistischen Träumen auftauchten.

Zeitenwende im Stressmanagement

Warum wir ein systemischeres Stressmanagement brauchen

Derzeit bin ich in verschiedensten Seminaren mit dem Thema „Umgang mit Dauerbelastungen“ unterwegs. Dass dieses Thema seit Corona wichtig ist, hat vermutlich jede*r schon am eigenen Leib oder aus Erzählungen erfahren. Die Rückmeldungen in meinen Führungs-Seminaren sind entsprechend. In einem Seminar für Leitungskräfte aus Pflegeheimen berichtete eine Teilnehmerin davon, dass sie am Abend meist komplett neben sich steht. Tagsüber funktioniert sie. Aber am Abend hat sie Kopfschmerzen, ist dauergereizt und streitet sich regelmäßig mit ihrem Mann.

Ein Einzelfall? Sicherlich nicht. In einem Online-Vortrag für 23 Führungskräfte startete ich neulich eine Abfrage: Wie belastet sind Sie aktuell auf einer Skala von 1-10. Als Antworten kam ein Durchschnitt von 9 heraus. Eine Person lag bei 6. Die meisten jedoch zwischen 8 und 10. Ich fragte ebenso ab, ob die Teilnehmer*innen glauben, dass es bald wieder besser wird. Ein Teilnehmer meinte „Ja“. Der Rest ging davon aus, dass es eher schlimmer wird.

Vor 4 Jahren war die Belastung ebenfalls hoch. Doch erstens war sie nicht ganz so hoch. Und zweitens gab es ein Licht am Ende des Tunnels. Heute ist das Ende nicht absehbar.

Gründe für Dauerüberlastungen

Gründe dafür, warum Teams allerorten überlastet sind, gibt es viele. Manche davon werden sich von alleine lösen, andere werden bleiben. Krankheitswellen kommen und gehen. Der Arbeitsmarkt jedoch bleibt bestehen. Junge Menschen wollen weniger arbeiten. Warum sich aufarbeiten? Auch Krisen werden vermutlich zunehmen: Zoonosen, Überschwemmungen, Hitzewellen. Bei der „Neuen Normalität“ müssten hinter dem Wort „Neu“ drei dicken Ausrufezeichen stehen und hinter dem Wort „Normalität“ ein großes Fragezeichen.

Was also ist zu tun, damit die Menschen nicht reihenweise in Burnout-Kliniken landen?

Zuerst einmal gibt es im Stressmanagement ein großes Repertoire an Methoden, mit denen viel erreicht werden kann, wenn sie konsequent angewendet werden:

  1. Aus der Resilienzforschung wissen wir um die Vorteile einer klaren Zielsetzung, einer optimistischen Einstellung, dem Vertrauen in die Zukunft, klaren Verantwortungsverteilungen im Team und der Macht des Austauschs mit anderen. Doch was passiert, wenn wir keine längerfristigen Ziele mehr setzen können und sich der Optimismus über die letzten Jahre abnutzte? Aktuell habe ich das Gefühl, die meisten Menschen sind froh, wenn dieses Jahr einigermaßen ohne weitere große Zwischenfälle verläuft. Große Pläne haben da eher keinen Platz.
  2. Aus dem Selbst- und Zeitmanagement kennen wir Todo-Listen und Prioritätenpläne. Auch das kann helfen, um mit den gröbsten Belastungen umzugehen. Doch was passiert, wenn täglich Aufgaben anfällen, die auf keiner Liste stehen und Prioritäten immer wieder neu priorisiert werden müssen?
  3. In diesem Fall sollten wir unsere Einstellungen verändern, was im Wesentlichen mit Achtsamkeit zu tun hat: Die Arbeit muss erledigt werden. Aber wie gut oder schlecht gelaunt ich das mache und ob ich mir dazwischen Regenerationspausen gönne, ist mir selbst überlassen. Fakt ist: Selbst wenn ich heute alles erledigen würde (was utopisch erscheint), ginge es morgen von vorne los. Sisyphos lässt grüßen.
  4. Doch auch die Einstellungsveränderung stößt an Grenzen. Umso wichtiger ist es, sich aktiv um seine Lebensbalance zu kümmern, was letztlich bedeutet, von einem WorkLifeBlending wieder zu einer klaren WorkLifeBalance zu kommen, indem ich meine Arbeit klar von meinem Privatleben trenne. Bei manchen Führungskräften werden beispielsweise die Diensthandys ab 18 Uhr konsequent abgeschaltet.

Vom Ego zum System

All diese Ansätze sind jedoch weitgehend egobezogen. Der Mensch ist selbst dafür zuständig, seine Arbeitskraft zu erhalten. Allenfalls die Unterstützung anderer – wie im Resilienzansatz angedeutet – wirkt noch ergänzend zur eigenen Leistung. Die Systemfrage wird jedoch selten gestellt.

Dabei haben wir in den letzten Jahren durchaus erfahren, dass Systeme sich verändern können, wenn sie müssen. Homeoffice funktionierte nach einigen Startschwierigkeiten besser als gedacht. Woher kommt also die große Angst, auf der Systemebene nach Lösungen zu suchen? Und muss es immer ein großer Schock sein wie von Naomi Klein in ihrem Buch „Die Schockstrategie“ beschrieben, bis sich etwas verändert?

Ein Beispiel: Eine Malermeisterin kann keine Aufträge mehr annehmen, weil sie kein Personal mehr hat. Die Lösung: Sie stellt auf eine 4-Tage-Woche um und gibt ihren Mitarbeiter*innen mehr Freiheit in ihrer Arbeitszeiteinteilung. Konkret: Ist ein Maler mit einem Auftrag bereits nach 4 Stunden fertig, fragt er seine Kolleg*innen, ob auf einer anderen Baustelle jemand gebraucht wird. Die Reduzierung der Arbeitswoche sorgt für mehr Ausgleich, die Flexibilisierung für eine bessere Auslastung aller. Beides führt zu mehr Zufriedenheit der Mitarbeiter*innen und in Folge zu mehr Bewerber*innen. Die Malermeisterin greift auf ein agiles System zurück, ohne das Wort Agilität in den Mund zu nehmen. Sie suchte einfach nach einem pragmatischen Ansatz (siehe externe Quelle: https://www.freitag.de/autoren/lena-marbacher/new-work-eine-handwerkerin-weiss-besser-als-linkedin-was-modernes-arbeiten-ist, leider hinter einer Bezahlschranke).

Was also braucht es, um Systeme zu ändern?

Wie wir an dem Beispiel gesehen haben nicht viel. Bereits die Umstellung von einer 5- auf eine 4-Tage-Woche hat eine enorme Auswirkung. Um eine solche Entscheidung zu treffen, braucht es jedoch nicht nur Mut, sondern auch das Vertrauen in die Flexibilität der sich selbst organisierenden Mitarbeiter*innen.

An dem Beispiel sehen wir allerdings auch, dass neue Arbeitsansätze durchaus Möglichkeiten bietet, Stress und Dauerbelastungen zu reduzieren. Wie wäre es beispielsweise mit der Überprüfung überkommener Regeln wie im Ansatz von „Kill a stupid rule“ (siehe externe Quelle: https://nativdigital.com/kill-a-stupid-rule), nicht um agiler und schneller zu werden, sondern um Belastungen besser zu meistern?

Literatur (externer Link): Michael Hübler – Du bist nicht schuld!