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Übergänge als Zeiten des Wachstums

Übergänge sind die spannendsten und fruchtbarsten Orte in der Natur. Im Übergang zwischen Wald und Wiese, Ökoton genannt, ist sowohl ein Ort der Begegnung zwischen Wald- und Wiesen-Tieren, als auch ein Ort an dem Pflanzen und Tiere ihr Zuhause finden, die es sonst nirgendwo gibt. Während der Wald im besten Fall ein Ort des Chaos ist, mit einem wildwuchernden systemisch perfekt aufeinander abgestimmten Netzwerk aus Wurzeln, Pilzen und Tieren, wird die Wiese regelmäßig gemäht und bewirtschaftet. Die Wiese ist damit das genaue Gegenstück zum Wald, ein Ort der Ordnung. Dazwischen ist der Übergang, weder zu 100% Ordnung, noch zu 100% Chaos.

In der Natur gibt es viele solche Übergänge. Zwischen Meer und Land wachsen Korallenriffe. Auch Dünen gelten als einzigartige Ökosysteme. Und am Fuß eines Berges endet das Quellwasser aus dem Berg und führt auch hier zu einer einzigartigen Fruchtbarkeit, weshalb es früher logisch war, sich hier anzusiedeln.

Solche Übergangsorte der Begegnung finden sich auch bei uns Menschen, beispielsweise an den Randgebieten der Innenstadt in Häusern, die noch kein Vorort sind, aber auch nicht mehr zur schicken und teuren Innenstadt gehören. Dort zieht meist eine bunte Mischung aus ärmeren Menschen, Migrant*innen und Künstler*innen ein, die wesentlich weniger homogen und damit spannender im Austausch untereinander sind als die Menschen in Vororten oder Innenstädten.

Auch Schulen und Ausbildungsstätten sind Orte des Übergangs. Der Schüler ist noch nicht fertig. Er wächst noch. Es sollte in Schulen daher weniger darum gehen, keine Angst zu haben, sondern mit seiner Angst gut begleitet zu werden.

In Übergängen, beispielweise der Geburt, Pubertät, Ausbildung, Trennung, dem Tod oder einem Neuanfang, ist noch nicht klar definiert, was einmal daraus wird. Deshalb gelten für Übergänge andere Maßstäbe als für „normale“ Zeiten. Niemand kann wissen, was richtig oder falsch ist. Sinnvoller ist es, Beziehungen zu pflegen, Dinge auszuprobieren und sich auszuprobieren, das Leben zu beobachten und sich zu beobachten. Und so während des Übergangs für die Zeit danach zu lernen.

In diesem Sinne sind Zeiten des Übergangs Zeiten des Wachstums. Der Mensch muss sich noch nicht beweisen. Er darf noch reifen und sollte lernen, diese Reifung, die immer auch mit einer guten Portion Ungewissheit einher geht, lieben zu lernen.

Die Säge – eine kurze Geschichte über Demut und Respekt

Neulich erzählte ein Seminarteilnehmer eine kurze Anekdote über seinen Großvater. Als kleiner Junge durfte er in der Holzwerkstatt seines Opas mitwerkeln. Neugierig wie er war wollte er sich nicht mit der Säge für kleine Jungs zufrieden geben, sondern am liebsten gleich mit der großen Säge arbeiten. Sein Großvater sagte damals zu ihm: „Du darfst mit der großen Säge arbeiten. Aber beschwer‘ dich nicht, wenn du dich schneidest.“ Und plötzlich war die kleine Säge für meinen Seminarteilnehmer wieder hoch attraktiv. Ich habe mir auch seine Finger zeigen lassen. Sie waren noch alle dran, wenn auch mit ein paar kleinen Narben.

Diese vermeintlich simple Alltagsgeschichte brachte mich zum Nachdenken. Der häufigste erste Impuls, wenn beispielsweise ein Praktikant mit hohen Ambitionen kommt, ist aus meiner Erfahrung die Beschränkung von außen. Hier geht es freilich nicht darum, sich zu schneiden, sondern um die Angst vor unzufriedenen Kunden oder Fehler im System. In der Geschichte geht es jedoch erst einmal nicht um die Außenwirkung, sondern um die Innenwirkung. Es geht nicht um ein misslungenes Werkstück, sondern um den persönlichen Umgang mit der Säge, bzw. im erweiterten Sinn den Umgang mit den eigenen Fähigkeiten: „Du darfst alles ausprobieren, aber beschwer‘ dich nicht, wenn du später merkst, dass du dich überfordert hast.“

Natürlich sollten Praktikant*innen nicht alles tun dürfen, wenn es tatsächlich um die Außenwirkung geht. Lernen sollte jedoch einen spielerischen Charakter haben, der es jungen Menschen erlaubt, sich selbst auszuprobieren und damit ihre eigenen Grenzen zu kennen zu lernen. Sind die Regeln dessen, was erlaubt ist, zu eng, kommt die Reibung von außen und führt häufig zu Trotz und Widerwillen. Erst das persönliche Spüren dieser Grenzen führt zu Demut vor einer Tätigkeit oder einem komplizierten Prozess und dem Respekt vor denen, die diese Tätigkeit seit Jahren gut meistern.