Umgang mit extremen Meinungen

Je größer die Ängste werden, desto größer werden die im Netz aufgefahrenen Geschütze. Da ist von Mord die Rede, wenn Impfkritiker sich nicht impfen lassen. Gleichfalls könnte die Gegenpartei von Mord sprechen, wenn wir die Einsamkeit alter Menschen in Pflegeheimen betrachten. Manche wünschen sich sogar eine Erhöhung der Fallzahlen aufgrund der Demonstrationen, damit die andere Seite endlich merkt, wie ernst es ist. Bildchen mit der Ziehung der Infektionszahlen durch das RKI machen die Runde.

Andere zu überzeugen funktioniert nicht. Auch nicht mit lustig gemeinten Bildern oder kurzen Animationen, die ein schamvolles Gesicht zeigen, um der Gegenseite zu verdeutlichen, wie dumm ihr Verhalten doch ist und dass sie sich bitte schämen sollte. Scham ist genauso unangenehm wie Angst und wird nicht selten zu Wut. Damit ist nichts gewonnen. Was humorvoll gemeint ist oder aus Hilflosigkeit eingesetzt wird, damit die Gegenseite es endlich kapiert, schraubt die Eskalationsspirale nur noch höher.

Marshall Rosenberg meinte einmal: Du kannst recht haben oder glücklich sein. Beides zusammen wird schwierig.

Mediale Lagerbildungen

Wenn die Ängste zunehmen, werden auch die Mittel drastischer, die jeweils andere Seite zu überzeugen. Die Medien tun ihr übriges, um die Lagerbildung voran zu bringen. Wir Deutschen kennen das kaum. Wir hatten noch kein Brexit-Trauma, allenfalls regionale Stuttgart21-Erfahrungen. Wir haben glücklicherweise kein Zweiparteien-System, das zu einer Spaltung der Bevölkerung führt wie in den USA oder in Großbritannien. Vielleicht ist es gerade jetzt ein Problem, dass eine große Koalition in der Regierung sitzt. Dennoch leben wir immer noch in einer Demokratie mit einem mittlerweile wieder lebendigeren Parlament. Manche wünschen sich eine andere Ausrichtung unseres Gesundheitswesens und begreifen die aktuelle Situation als Möglichkeit der Weichenstellung. Weg von einem mechanistischen Denken des Pillenschluckens und Impfens, hin zu einem ganzheitlicheren Gesundheitsdenken jenseits des Pharmalobbyismus. Wir leben in einem fortschrittsgläubigen System, in dem vielleicht der Mensch an sich aus dem Blick gerät. Wir leben jedoch nicht in einer Gesundheitsdiktatur, zumindest solange jeder Mensch selbst entscheiden kann, wie er gut für sich sorgt.

Die Medien berichten nicht so, wie es sich manche wünschen. Eine gewisse Einseitigkeit wurde bereits Anfang April vom Evangelischen Pressedienst angemahnt. Dennoch leben wir nicht in einer Meinungsdiktatur. Es gibt kritische Artikel aus dem Fokus, Spiegel, Deutschlandfunk oder Freitag, um die bekanntesten zu nennen. Und Dieter Nuhr schüttet regelmäßig zünftige Kritik über der Regierung und das RKI aus.

Wir sind vielfältig

Deutschland scheint derzeit aus zwei Lagern zu bestehen: Den Maßnahmengegnern und den -befürwortern. Bei genauerer Betrachtung stimmt dies jedoch nicht:

  • Es gibt sanfte Kritiker, die sich nicht äußern,
  • starke Kritiker, die auf die Straße gehen,
  • Menschen, die sich solidarisch zu den Risikogruppen positionieren und andere die sich solidarisch zu Maßnahmengefährdeten positionieren,
  • rechte Krawallbrüder und -schwestern,
  • radikale Impfgegner und Impfkritiker, die Angst vor einem zu kurz getesteten Impfstoff haben,
  • Menschen, die ihren Job verloren haben und andere, die ihn noch haben,
  • Systemrelevante und Systemirrelevante,
  • Dauerbelastete im Gesundheitswesen und andere, die ihren erzwungenen Kurzurlaub genießen,
  • alte Menschen, die Angst um ihre Gesundheit haben und junge Menschen, die Angst um unseren Planeten haben,
  • Selbständige, Künstler, Gaststättenbetreiber, etc., die nicht wissen, wie es weitergeht und andere, deren Zukunft gesichert ist.

Die “Lager” sind wesentlich vielfältiger als sie oftmals dargestellt werden. Viele Medien machen hier nicht gerade einen mediativen Job.

Was also tun?

Was können wir tun, um wieder zu erkennen, dass wir mehr sind als nur einem Lager zuzugehören?

Denken wir an die Reproduktionszahl des RKI. Wenn jeder und jede von uns einen Zugang zu einer Person findet, ist bereits viel gewonnen. Hier geht es jedoch nicht darum, die Gegenseite zu überzeugen, sondern darum, ihr sein Verständnis zu schenken. Ich gehe davon aus, dass die wenigsten von uns Extremisten sind. Ein Austausch, ein offener Diskurs sollte also möglich sein.

Anstatt meine Meinung zu äußern kann ich eine Frage stellen. Ich kann mich nach den Sorgen meines Gegenübers erkundigen. Ich kann meine eigenen Sorgen äußern. All das sind Angebot, die aus meiner Erfahrung meistens angenommen werden.

Im Netz ist das nicht immer einfach. Die Ängste, die wir haben, werden durch die Bildung von Lagern paradoxerweise nicht reduziert, sondern verwandeln sich in einen Kampf darum, wer recht hat. Warum also nicht 2-3 mal die Woche zum Telefonhörer greifen und einen Freund oder eine Freundin anrufen, mit dem oder der wir derzeit fremdeln?

Wir haben alle Angst. Sprechen wir darüber.