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Gibt es eine Resilienz-Formel?

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Warum überstehen manche Menschen, bspw. Soldaten nach einem Einsatz, scheinbar unbeschadet große Belastungen und andere nicht? Woran liegt das?

Eine glasklare Resilienz-Formel gibt es nicht und wird es vermutlich auch niemals geben. Dazu ist die Frage zum Umgang mit großen Belastungen zu komplex. Dennoch lassen sich aus der Forschung einige Aspekte zu einer Art Formel zusammenfassen.

Die zentrale und vermutlich wichtigste Erkenntnis lautet: Resilienz ist keine statische Fähigkeit und kein Talent. Resilienz ist dynamisch. Wir können sie wie einen Muskel trainieren und uns damit auf kommende Belastungen vorbereiten. Tatsächlich lassen sich Menschen, die kaum Stress empfinden nicht automatisch als resilient bezeichnen, da uns erst die Konfrontation mit negativem Stress zeigt, ob ein Mensch resilient ist oder nicht. Dabei gilt der Grundsatz: Leichte, bewältigbare Belastungen fördern unsere Resilienz. An großen Belastungen können wir zerbrechen. Der Satz von Nietzsche „Was uns nicht umbringt, macht uns stärker“ stimmt zwar, ist jedoch – wie so oft bei knalligen Sprüchen – in der Realität etwas komplizierter.

Was also sollte in eine Art Resilienz-Formel mit hinein:

  1. Wahrscheinlichkeit und Einschätzung der Bedrohung: Resiliente Menschen schätzen das Auftreten einer Bedrohung optimistisch-realistisch ein. Sie gehen zwar im Zweifel davon aus, dass eine Bedrohung wirklich stattfindet, dass sie uns jedoch nicht überrollt. Dabei reflektieren sie auch, inwiefern eine äußere Bedrohung wirklich zu einer inneren Bedrohung wird. Nehmen wir als Beispiel die Attacke einer cholerischen Chefin. Eine Demütigung vor der gesamten Belegschaft wird erst zu einer inneren Bedrohung, wenn Sie sich selbst auch tatsächlich als inkompetent einschätzen und / oder sich in Ihrer Ehre gekränkt fühlen. Empfinden Sie den Angriff als ungerecht und haben zudem die (wenn auch nur heimliche) Unterstützung Ihrer Kolleg*innen, sind Sie zwar vermutlich dennoch wütend. Dennoch lässt es sich leichter mit einer solchen Attacke umgehen.
  2. Austausch: Zudem ist es bei Bewertungen von Bedrohungen hilfreich, sich mit anderen Menschen auszutauschen, um einen objektiven Blick auf die Situation zu gewinnen oder sich sogar Vorbilder für die Bewältigung der Bedrohung zu holen.
  3. Selbstwirksamkeitserwartung: Nach der Bewertung der Belastungssituation stellt sich die Frage der Einflussmöglichkeiten. Resiliente Menschen gehen nicht unbedingt davon, dass alles gut wird. Sie gehen jedoch davon aus, dass sie etwas tun können, um die Situation zumindest zu erleichtern, dass es also einen Unterschied macht, ob sie handeln oder nicht. Gleichzeitig akzeptieren sie, dass ihr Einfluss in einer komplexen Situation begrenzt ist. Diese Vorgehensweise folgt der Devise „Handeln statt Hadern“: Wer handelt, weiß im Nachhinein, ob er Erfolg damit hatte oder ob er aus seinem Misserfolg etwas lernt. Wer nicht handelt, macht sich mit einer größeren Wahrscheinlichkeit im Anschluss Vorwürfe.
  4. Persönliche Chance: Bei allem Stress sind mit Belastungen auch immer Chancen verbunden. Resiliente Menschen betrachten Belastungen entsprechend nicht nur als Bedrohung, sondern auch als Chance sich zu beweisen, an der Herausforderung zu wachsen und/oder anderen zu helfen.
  5. Netzwerk: Sollte die Situation belastender sein als gedacht, greifen resiliente Menschen auf ein Netzwerk aus nahen und fernen Unterstützer*innen zurück.
  6. Entspannen, wenn der Stress nachlässt: Resiliente Menschen bleiben gegenüber Bedrohungen nicht cool. Sie werden i.d.R. genauso aktiviert wie nicht-resiliente Menschen. Sie haben jedoch die Fähigkeit, sich wieder schneller zu beruhigen, beispielsweise mit Achtsamkeitstrainings.
  7. Extinktion: Resiliente Menschen verlieren sich nach einer belastenden Situation nicht in Ängsten vor möglichen neuen Bedrohungen, sondern konfrontieren sich frühzeitig mit ähnlichen Situationen. Getreu dem Motto: Wenn du vom Pferd fällst, steig gleich wieder auf.

Zusammengefasst lassen sich diese 7 Aspekte einer resilienten Persönlichkeit im Angesicht einer Bedrohung in 7 Fragen fassen:

  1. Was an der Situation empfinde ich als persönlich bedrohlich?
  2. Wie sehen es andere?
  3. Was kann ich konkret tun, um einen Unterschied zu machen?
  4. Was kann ich daraus lernen?
  5. Auf wen kann ich mich verlassen, wenn ich nicht weiter weiß?
  6. Wie kann ich mich wieder beruhigen, um ein und dieselbe Situation nicht immer wieder im Geiste durchzuspielen?
  7. Was kann ich tun, um langfristig besser mit solchen oder ähnlichen Herausforderungen umzugehen?

Literatur:

Raffael Kalisch – Der resiliente Mensch. Wie wir Krisen erleben und bewältigen. Neueste Erkenntnisse aus Hirnforschung und Psychologie. 2017. berlin-Verlag

Sind jüngere Menschen weniger resilient als früher?

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Weniger Stress – mehr Stressempfinden

Fakt ist: Das Stressempfinden hat zugenommen. Noch nie fühlte sich die Menschheit so erschöpft wie heute. Dabei hat der tatsächliche Stress im Vergleich zu früher sicherlich nicht zugenommen. Ich möchte jedenfalls nicht das Leben meiner Eltern gelebt haben – mit Vertreibung als Kind, Schlägen in der Schule und Zuhause und später dominanten Chefs und mit dem Geld lange Zeit immer gerade so mit der Lippe über Wasser.

Ein Forscher der Universität Mainz (externer Link) jedenfalls geht davon aus, dass gerade die junge Generation nicht mehr so resilient ist wie die Vorgängergenerationen (auch wenn Generationenfragen immer ein wenig heikel sind).

Die Diskussion nach der Resilienz ploppte aktuell (Juli 2023) durch das Ausscheiden der Deutschen Fußball-National-Damenschaft wieder auf. Unsere Frauen konnten mit dem unerwarteten Widerstand der Südkoreanierinnen nicht umgehen, wären also weniger resilient. An dieser Stelle würde ich lieber die Kirche im Dorf lassen. Denn vielleicht ist das Ganze auch einfach ein riesengroßer Zufall. Ein Tor anstatt einem Lattentreffer und wir hätten keine Diskussion über ein anti-resilientes Nationalteam am laufen. Aber hey! Wir haben beinahe Sommer. Kümmern wir uns also um die echten Fakten.

Nun belegen neuere Studien tatsächlich eine geringere Resilienz bei jüngeren Mitarbeiter*innen (die Studien aus Mainz waren aus 2018). Laut der Studien sind sie sensibler, haben mehr Krisen im Kopf, empfinden einen größeren Druck (was wohl auf alle jüngeren Generationen zutrifft) und schneller enttäuscht, wenn ihr Humor nicht verstanden wird.

Warum sind jüngere Menschen häufig weniger resilient?

2014 schrieb ich zum ersten mal auf diesem Blog über Resilienz. Wow! Schon fast 10 Jahre ist das her. Und zufälligerweise ebenfalls über die Nationalmannschaft. Damals lief es recht gut für die Deutschen. Wir erinnern uns: Brasilien gegen Deutschland: 1 zu 7. Those were the days.

Da ich damals schon recht ausführlich über Resilienz schrieb, folgt hier lediglich eine kurze Zusammenfassung, um zu klären, warum junge Menschen evtl. weniger resilient sind. Was also macht einen Menschen resilient? Dazu gibt es einige Faktoren, auf die sich die Resilienz-Forschung einigen konnte:

  • Zielorientierung: Wer weiß, wofür er leidet, hält einiges mehr aus, als jemand, der einfach nur so leidet. Stellen Sie sich dazu einfach vor, Sie und ein Kind von Ihnen (oder ein anderer lieber Mensch) wären von einem Terroristen gekidnappt worden. In der Version A befiehlt Ihnen der Terrorist, ein Messer durch ihre Hand zu rammen, ansonsten würde er selbst Hand anlegen. In der Version B sagt der Terrorist zu Ihnen: Wenn Sie ein Messer durch Ihre Hand rammen, kommt Ihr Kind frei. Schätzen Sie bitte für beide Versionen Ihren Schmerz auf einer Skala von 0-10 ein. Ich denke, es ist Ihnen klar, worauf ich hinaus will. Schmerz ist relativ. Wenn ich weiß wofür, ertrage ich mehr als wenn es einfach so passiert. Nun stellt sich die große Preisfrage, wofür junge Menschen leiden, wenn es hart auf hart kommt? Die „Letzte Generation“ ist sicherlich leidensfähig. Diese Leute haben ein Ziel. Aber was ist mit all den anderen? Während früher geackert wurde, um sich ein teures Auto zu leisten, ein Haus zu bauen und Karriere zu machen, sind viele dieser Ziele obsolet. Die Welt erscheint aufgrund der täglichen Hiobsbotschaften immer weniger rettbar. Und der Kinderwunsch sah auch schon mal bessere Zeiten. Kein Wunder, dass jungen Menschen die Lebensziele abhanden kamen. Und damit fehlt auch häufig der Sinn im Leben. So lebe ich von Moment zu Moment oder von Event zu Event, es ergibt sich jedoch kein großer biographischer Zusammenhang.
  • Optimismus: Damit habe ich bereits den nächsten Punkt angesprochen. In einer Welt voller globaler Krisenherde fällt es immer schwerer, sich mit einem optimistischen „Einfach weitermachen“ auf das eigene kleine Leben zu konzentrieren. Darf ich mir das überhaupt erlauben in dieser Welt optimistisch zu sein? Wäre das nicht blauäugig? Wer in den medialen Blätterwald blickt erkennt jedenfalls: Der Pessimismus gibt den Ton an.
  • Persönlicher Einfluss: Bei all dem erscheint der eigene Einfluss viel zu klein, um einen Unterschied in der Welt auszumachen. Während die Vorgängergenerationen die Dramen der Welt viel weniger und viel langsamer mitbekamen, konnten sie sich auf ihr eigenes Leben konzentrieren. Vermutlich dachten sie viel weniger über ihren Einfluss auf die Welt nach, sondern machten einfach: Ein wenig Mülltrennung hier, ein bisschen Stromsparen da, ansonsten wurde mehr gelebt und gemacht als gedacht. Heutzutage wissen wir: Alles was ich mache hat Schattenseiten. Wer E-Autos fördert, fördert gleichzeitig den Abbau von Cobalt in Afrika (externer Link). Und dass unser sorgsam getrennter Plastikmüll zu großen Teilen auf afrikanischen Müllhalden oder gleich im Meer landet, wissen wir auch (externer Link). Warum also sich anstrengen, wenn es ohnehin nichts bringt. Eine solche Haltung kann schnell zu einer allgemeinen Grundhaltung führen und sich auch aufs Berufliche übertragen.
  • Akzeptanz einer schwierigen Situation: Um resilient zu werden muss ich auch lernen, Situationen, die ich nicht verändern kann auszuhalten (siehe dazu auch meine Artikel zum Thema „Radikale Akzeptanz“ und „Techniken zum Erlernen einer Radikalen Akzeptanz“). Wer jedoch zur Schule gefahren wird, während unsereins bei Wind und Wetter kilometerweit gelaufen ist, nicht mehr gezwungen wird, ein Instrument zu lernen, ungeliebte Bekannte mit einem Klick „entfreunden“ kann und aufgrund des Personalmangels leichter als früher seinen Job wechseln kann, wenn es nicht mehr passt, muss sich nicht mehr mit Widerständen arrangieren.
  • Soziale Verbundenheit: Bislang schauten wir uns v.a. persönliche Komponenten an. Dabei spielt für die Resilienz auch der soziale Zusammenhalt eine enorme Rolle. Kein Wunder, dass sich in Krisenzeiten die Menschen wieder mehr zurückziehen und auf Freunde und Familie konzentrieren. Nun haben gerade jüngere Menschen in der Regel ein größeres soziales Netzwerk als die Vorgängergenerationen. Dabei zeigen Studien immer wieder (Quelle: Mein Gedächtnis), dass weniger Personen, auf die ich mich wirklich in der Not verlassen kann wesentlich resilienter machen als ein großes Netzwerk voller Menschen, die lediglich ab und an meine Nachrichten „liken“. Follower sind nunmal kein tragendes Netzwerk. Und ein solches entsteht auch nicht virtuell, sondern erst durch gemeinsame reale Aktionen, Projekte oder ganz häufig die gemeinsam (erlittene) Schul- oder Uni-Zeit.

Unter’m Strich steht die jüngere Generation also tatsächlich aufgrund der Globalisierung und Digitalisierung in Sachen Resilienz schlechter da als ihre Vorgängergenerationen.

Was jüngere Menschen selbst tun können?

Die Konsequenzen liegen auf der Hand:

  • Weniger Krisen konsumieren,
  • sich selbst klare Ziele setzen (und dennoch mit ein wenig Chaos im Leben rechnen),
  • den eigenen Einfluss gedanklich auf sein Umfeld begrenzen,
  • mehr reale Freunde treffen und
  • schwierige Situationen aushalten lernen und nach Lösungen suchen.

Was Führungskräfte tun können?

  • Klare Ziele setzen und den Sinn der Arbeit erläutern,
  • die Ziele optimistisch verfolgen,
  • den Einfluss jeder einzelnen Person analysieren und betonen,
  • erklären, warum es wichtig ist, Herausforderungen anzunehmen und auch mal zu scheitern und
  • reale soziale Kontakte insbesondere bei virtuellen Teams soweit möglich fördern.

Resilienz: Zwei Seiten einer Medaille

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Die individuelle und soziale Seite der Resilienz

Die individuelle Seite ist relativ bekannt und steht dafür optimistisch in die Zukunft zu blicken und sich an schwierige Situationen agil und adaptiv anzupassen, daran zu lernen und zu wachsen.

Die soziale Seite ist eher unbekannt und hat mit Sinnhaftigkeit und Verbundenheit zu tun:

  • Ich weiß, dass es einen Unterschied macht, dass ich auf der Welt bin.
  • Ich kann in Krisenzeiten auf ein Netzwerk aus Familie und Freunden zurückgreifen.
  • Ich stehe selten in Wettbewerb mit anderen und muss daher nicht ständig beweisen, was ich kann.

Der Schlüssel liegt im Wir

Wer sich fragt, warum die Welt aktuell so nach Resilienz dürstet und sich trotz einem reichhaltigen Angebot an Literatur, Seminaren und Coachings nur bedingt besser fühlt, findet die Antwort in dem Unterschied zwischen diesen beiden Arten der Resilienz:

  • Die persönliche Resilienz kann viel erreichen, stößt jedoch irgendwann einmal an eine Grenze, für die sie nicht mehr zuständig ist.
  • Die soziale Resilienz nahm jedoch in den letzten Jahrzehnten aufgrund der Mobilität und Digitalisierung immer mehr ab.

Mobilität führt dazu, dass soziale Netzwerke regelmäßig durcheinander gewürfelt und wieder neu aufgebaut werden müssen. Dies gilt v.a. für gut ausgebildete Angestellte. Die Mobilität bringt viele Chancen mit sich. Wir sollten uns jedoch vor einem Ortswechsel gut überlegen, welchen Gewinn wir daraus ziehen und welche Kosten der Wechsel mit sich bringt. Der Gewinn ist offensichtlich: Eine neue Herausforderung, die Chance einen Karrieresprung zu machen oder einfach mehr Geld zu verdienen. Die Kosten werden uns leider erst später bewusst: Die alten Freunde werden zurück gelassen und damit auch die Möglichkeit, sich in Krisen wie in beinahe alten Zeiten am Tresen über Ärger und Sorgen auszutauschen.

Wir versuchen diese Manko mit Hilfe digitaler Netzwerke auszugleichen, was jedoch nur bedingt gelingt. Facebook hat zwar keine Sperrzeiten, funktioniert aber dennoch nicht wie ein Tresen oder der Spaziergang mit einem guten Freund. Es fehlt – das wissen wir alle – das differenzierte mimisch-verbale Feedback. Es fehlen das nonverbale Schulterklopfen oder einfach nur die Präsenz des anderen mit dem Bewusstsein: Gut, dass da noch jemand ist und sich Zeit für mich nimmt.

Laut Studien des Soziologen Nicolas Christakis und Politikwissenschaftlers James Fowler bringen maximal 12 echte Freunde aus der nahen Umgebung mehr für unsere (soziale) Resilienz als Hunderte von Netzwerkbekannten, die uns ab und an ein Like hinterlassen. Nichts gegen ein großes berufliches Netzwerk. Wenn ich auf Linkedin einen Artikel veröffentliche, ist es hilfreich, diesen möglichst breit zu streuen. Und manchmal ergeben sich daraus interessante fachliche Diskussionen. Das hat jedoch nichts mit dem Versuch zu tun, für ein fehlendes soziales Resilienznetzwerk in der nahen Umgebung einen digitalen Ersatz auf Facebook, Instagram oder TikTok zu suchen.

Ein solches oberflächliches, digitales Netzwerk kann sogar unsere Resilienz noch weiter schwächen, wenn wir uns auf Statusvergleiche einlassen. Statusvergleiche setzen uns zusätzlich unter Dauerstress, da es immer jemanden gibt, der – auch dank der schönen neuen Filtertechniken (Persiflage von Extra 3) – vermeintlich schöner, reicher oder glücklicher ist. Und wer sich in dieser Welt des digitalen Glamours einmal besser fühlen will, blickt auf andere mit Hilfe von Shitstorms herab. Ein echtes Miteinander im Sinne des Teilens von Problemen, was unserer Resilienz gut tun würde, findet jedoch selten statt.

Helfen Kämpfe gegen Sinnverlust?

Neben den Folgen der Mobilität und den Statusvergleichen in digitalen Netzwerken spielt zuguterletzt auch der Verlust an Sinnhaftigkeit eine wichtige Rolle für unsere aktuelle, mangelnde Resilienz. In früheren Zeiten hatten die meisten Menschen weniger Freizeit, weniger Möglichkeiten der Selbstbestimmung und weniger Geld. Dennoch schien ein Sterben im Krieg für Kirche und Vaterland ihrem Leben einen Sinn zu verleihen. Die Begeisterung junger Menschen kurz vor dem Einzug an die Front im 1. Weltkrieg ist für uns heute kaum nachvollziehbar. Zu diesen Zeiten will die Mehrheit der Menschen sicherlich nicht mehr zurück. Dennoch gaben solche Kriege den Menschen eine Bestimmung.

Kein Wunder, dass auch in neuerer Zeit Kriege immer noch eine gewisse Faszination ausüben, als würden sie dem eigenen Leben eine tiefere Bedeutung geben. Emmanuel Macron sprach Anfang 2020 davon, dass wir uns im Krieg gegen Covid-19 befinden. Und auch wenn Annalena Baerbock die Aussage, dass wir uns im Krieg gegen Russland befänden aufgrund der politisch-heiklen Situation der Nato schnell relativierte, wird deutlich, wie bedeutend schon alleine der Begriff des Krieges ist.

Überhaupt scheinen sich viele Menschen aktuell in irgend einem Krieg zu befinden, auch wenn der Begriff so idR. nicht genannt wird:

  • Klimaaktivist*innen kämpfen zur Rettung des Planeten gegen Autofahrer*innen.
  • Deutsche Söldner kämpfen auf Seiten der Ukraine gegen Russland.
  • Die Antifa kämpft seit der anhaltenden Krisenstimmung vehementer denn je gegen Nazis.
  • Reichsbürger*innen würden den Staat am liebsten abschaffen.
  • LGBTIQ-Gruppen kämpfen für Minderheiten und sexuelle Selbstbestimmung.
  • Die Gegenseite kämpft für den Erhalt der klassischen Familie mit Vater, Mutter, Kind.
  • Alte Feminist*innen kämpfen gegen neue Feminist*innen.
  • Alte Linke kämpfen gegen neue Linke. Usw.

Wurde jemals so vehement gekämpft wie heute? Oder fühlt es sich dank der zugespitzten Austragung der Meinungsverschiedenheiten in digitalen Netzwerken nur so an?

Ging den Menschen der Sinn in ihrem Alltag verloren, weshalb sie versuchen, diesen über Kämpfe zurückzuholen? Wenn dem so ist, gibt es dafür nicht die eine Erklärung für diesen Sinnverlust. Für einen Teil der Menschen greift die hohe Mobilität als Erklärung. Für einen anderen Teil greift die Vereinzelung und Isolierung im Internet und das dauerhafte Gefühl, dass jemand anders mehr erreicht hat als ich selbst. Zusätzlich wurden traditionelle Berufe entwertet, weil eine akademische Ausbildung als höherwertig dargestellt wird und auch finanziell mehr einbringt. Es gibt also viele Gründe für einen möglichen, individuellen Sinnverlust in der Gesellschaft.

Schenken schafft Sinn und stärkt unsere soziale Resilienz

Für etwas zu kämpfen ist nur eine Möglichkeit, dem Leben einen Sinn zu verleihen. Daneben spielt der analoge Austausch mit anderen Menschen eine wichtige Rolle. Eine Plattform wie www.nebenan.de verbindet Nachbar*innen miteinander. Ein Spaziergang mit Freunden macht resilienter als einen Abend lang oberflächlich zu chatten. Arbeitgeber könnten Stammtische reaktivieren, für Sportgruppen werben und Singkreise organisieren. Und für spezielle, auch kritische Themen lassen sich Redekreise nach dem Dialogkonzept von David Bohm durchführen.

All diese Ideen haben eines gemeinsam: Sie sollten entgegen dem vorherrschenden Utilitarismus-Gedanken zweck-, aber nicht sinnfrei sein. Sie sollten kein direktes Ziel verfolgen. Es sollte nicht primär darum gehen, ein Konzert auf die Beine zu stellen, eine Fußballmannschaft für ein Turnier fit zu machen oder sein Karrierenetzwerk am Stammtisch auszubauen. Arbeit ist zweckorientiert, weil sie Essen auf den Tisch bringt und die Miete zahlt. Auch Arbeit kann sinnvoll sein, wenn Flüchtlinge angestellt werden oder allgemein die Welt ein klein wenig besser gemacht wird. Doch nicht jede Arbeit ist sinnerfüllend. Umso wichtiger ist es, diesen Sinn im Austausch mit anderen zu finden – in der Freizeit oder in der Teeküche am Arbeitsplatz. Der Austausch wiederum sollte auch im beruflichen Rahmen keinen direkten Zweck verfolgen. Weiß ich bereits im voraus, welchen Nutzen ich aus einem Treffen ziehen möchte, bin ich nicht mehr offen für Überraschungen, die das Leben erst lebendig machen.

Zweckgebundenheit lässt sich mit einem Einkauf vergleichen: Ich habe klare Vorstellungen wie eine neue Hose aussehen soll und wähle entsprechend aus. Beziehungen sollten jedoch nach dem Prinzip des Schenkens ablaufen: Ich schenke jemandem meine Aufmerksamkeit, Hilfe, Zuwendung, Dankbarkeit, Anerkennung, Liebe, usw. und bekomme bestenfalls etwas Gleichwertiges zurück. Bei einem Kauf entsteht keine langfristige Beziehung: Ich bezahle die Hose und sofern sie keinen Fehler hat, ist die Beziehung damit beendet. In der Ökonomie des Schenkens beginnt die Beziehung erst mit dem Akt des Gebens. Beziehungen wiederum sind der vermutlich größte Sinnspender, den wir haben. Kaufen wir für uns selbst Blumen? Für den Partner oder die Partner*in wohl eher. Stehen wir am Samstagmorgen ohne zu Murren um 4.30 Uhr auf, weil die jüngere Tochter den letzten Bus nach der Disko verpasst hat? Aber selbstredend. Freuen wir uns beim Geschenk an einen Freund beinahe mehr als er selbst? Alles schon passiert. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Geteilte Freude ist doppelte Freude. Stichwort Spiegelneurone: Kochen wir für uns selbst, soll es meist den Zweck der Nahrungszufuhr erfüllen. Kochen wir für andere, können wir uns dank unserer Spiegelneuronen doppelt freuen – sofern wir geschmacklich nicht ganz daneben liegen. Würden wir jedoch mit der Verköstigung der Freunde einen bestimmten Zweck verfolgen, beispielsweise um einen privaten Kredit bitten, bekommt der Abend schnell ein „Gschmäckle“.

Stattdessen sind die besten Geschenke zweck- aber nicht sinnlos. Die Botschaft sollte lautet: Ich bin nicht hier, weil ich etwas von dir will, sondern weil ich einfach Spaß daran habe, mich offen auf dich einzulassen und dir das zu geben, das ich geben kann.

Dass uns eine solche Zweckfreiheit im Rahmen unserer vielen Verpflichtungen schwer fällt, liegt auf der Hand. Vielleicht sind wir es auch schlichtweg nicht mehr gewöhnt, zweckfrei zu denken. Umso wichtiger ist es, unserem Leben mit einem solchen Austausch einen spontanen, lebendigen, neuen Sinn zu verleihen. Und vielleicht sind wir ab und an auch auf der Suche nach dem ganz großen Sinn des Lebens wie in einem Krieg oder dem Kampf zur Durchsetzung einer Idee. Dabei ist der wahre Sinn des Lebens viel kleiner als wir denken und besteht einfach nur darin Mensch zu sein und sich offen und neugierig auf andere Menschen einzulassen.

Literatur

Fowler und Christakis: Die Macht sozialer Netzwerke

Gregor Hasler: Resilienz: Der Wir-Faktor

Adam Grant: Geben und Nehmen

Wann Optimismus sinnvoll ist und wann nicht

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Wann Optimismus schädlich sein kann

Macht Optimismus wirklich resilient? Lässt uns Optimismus schwierige Umstände besser aushalten? Und ist Optimismus gesund?

Fakt ist: Depressive Menschen schätzen sich selbst viel zu inkompetent ein und ihr Umfeld viel zu kompetent. Der normale Mensch hingegen schätzt sich selbst viel zu positiv ein. Männer glauben zu 80% überdurchschnittlich gute Liebhaber zu sein, zu 90% eine überdurchschnittlich hohe Intelligenz zu haben und zu 75% überdurchschnittlich gut Auto zu fahren. Frauen wiederum schätzen ihre Popularität im Freundeskreis oder die Dauer ihrer Ehe zu hoch ein (vgl. Hasler, S. 81). Selbst bei der Präsentation solcher Zahlen sagen sich wohl die meisten: Das ist ja verrückt, aber bei mir stimmt es nun mal.

Eine solche unrealistische Sichtweise wäre nun grundsätzlich kein Problem. Die Welt ist schlimm genug. Wären da nicht die negativen Konsequenzen eines übertriebenen Optimismus:

  • Wer glaubt, super gut Auto zu fahren, geht mehr Risiken auf der Autobahn ein.
  • Wer glaubt, eine Top-Freundin zu sein, ist überrascht, wenn plötzlich kritische Stimmen aufkommen.
  • Wer glaubt, ein super Liebhaber zu sein, fällt aus allen Wolken, wenn die eigene Frau eines Tages die Koffer packt.

Auch auf der großen Politikbühne kann Optimismus schädlich sein. Putin glaubte offensichtlich, er könne die Ukraine im Handstreich erobern, was nicht funktionierte. Und Selenskyj glaubt daran – zumindest hat es den Anschein – die Krim zurückzuerobern. Der Beweis steht noch aus, aber einfach wird es nicht. Jedenfalls gilt es festzuhalten, dass Kriege nicht von Pessimisten, sondern idR. unrealistischen Optimisten geführt werden. Die Welteroberungsphantasie eines Adolf Hitler ist da wohl nur die absolute Spitze des Eisbergs.

Solche narzisstischen Machbarkeitsgedanken fußen letztlich auf einem übertriebenen Selbstwertgefühl. Während Psycholog*innen seit den 70ern davon ausgingen, man müsse nur das Selbstwertgefühl der Menschen mit Therapien und Feelgood-Programmen steigern, um eine bessere Welt zu schaffen, legen neuere Studien nahe, dass ein zu hohes Selbstwertgefühl zu Aggressionen und Narzissmus führen kann. Eigentlich logisch: Wer mit dem Mantra aufwächst, einzigartig zu sein und alles erreichen zu können, wenn er oder sie es nur will, dann jedoch auf Widerstände stößt, gerät schnell in eine Frustrations-Aggressions-Spirale. Was bei Menschen mit Depressionen oder allgemein einem unrealistischen Pessimismus funktioniert, hat bei Menschen, die ohnehin schon einen unrealistischen Optimismus an den Tag legen – und das geht wohl den meisten von uns so – einen negativen Effekt (vgl. Hasler, S. 88f). Ein Thema, das uns in Zukunft aufgrund der Instagramisierung der Welt sicherlich noch reichhaltig beschäftigen wird.

Wann Optimismus angebracht ist

Wann ist Optimismus also angebracht?

Letztlich geht es immer darum zwischen Situationen zu unterscheiden, die ich beeinflussen kann und solchen, auf die ich kaum einen Einfluss habe:

  • In Situationen, die ich beeinflussen kann, sollte ich eine gewisse Demut an den Tag legen, insbesondere wenn andere Menschen von mir abhängig sind. Kriege sind hier der Extremfall. Aber auch im Alltag sind andere Menschen von meinem Fahrverhalten oder meinen Leistungen in der Arbeit oder als Freund*in abhängig.
  • In Situationen, die ich nicht beeinflussen kann, beispielsweise in Krisen wie dem aktuellen Personalmangel oder einer dauerhaften Unterbesetzung im Team, brauche ich Optimismus, Zuversicht und Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Hier richtet mein Optimismus keinen Schaden an, weil ich ohnehin wenig ausrichten kann.

Optimismus-Strategien

Doch wie bringe ich mich in eine positive Stimmung und sollten wir in Krisen nur noch positiv denken?

Die Vielzahl der Ratgeber zum Thema macht es sich hier zu einfach. Alles Negative rosarot sehen und dann wird das schon mit der Resilienz? In Wirklichkeit ist es beruhigenderweise komplizierter. Zwar legen Untersuchungen nahe, dass die Zunahme positiver Emotionen hilfreich ist, um besser mit Krisen umzugehen. Auch das eigene Leben wird dadurch verlängert. Dafür müssen negative Gedanken jedoch nicht ignoriert werden. Ein umfassende Gedankenhygiene ist also nicht notwendig. Es geht nicht um eine stoische Umdeutung vom Negativen ins Positive, sondern um ein Ausschöpfen der ganzen emotionalen Bandbreite im Sinne von: „Es ärgert mich, dass wir dauerhaft unterbesetzt sind, dadurch wächst das Team aber auch enger zusammen.“

Durch die Ergänzung der negativen Sichtweise weitet sich nach der Broaden-and-Build-Theorie nach Barbara Fredrickson unser kreatives Denkfeld (vgl. Hübler, S. 25):

  1. Broaden: Eine positive Stimmung führt zu einer Erweiterung unserer Wahrnehmung. Zudem können positive Emotionen wie Optimismus, Freude, Inspiration, Hoffnung oder Neugier die Folgen negativer Stimmungen aufwiegen. Die veränderte Wahrnehmung verändert unser Denken. Ich gehe kreativer mit Problemen um und bekomme auch einen schärferen Zukunftsblick.
  2. Build: Damit baue ich langfristig Expertenwissen auf, komme mehr in Kontakt mit anderen und werde flexibler im Handeln. Geht es mehr Menschen im Team so, ergeben sich positive Kettenreaktionen.

Wie erreiche ich nun einen solchen positiven Blick für den Umgang in Krisenzeiten:

  • Ich kann meine negativen Sichtweisen mit einer positiven Sichtweise ergänzen.
  • Ich kann über den Sinn hinter einer Belastung nachdenken. Gerade in Krisen zeigt sich bspw. wer wahre Freunde sind.
  • Ich kann zu mir sagen: Egal wie lange die Belastung anhält, irgendwann ist sie zu Ende. Oder aber ich bin so daran gewachsen, dass sie mir nicht mehr als Belastung vorkommt.
  • Ich kann zu mir sagen: Die Belastung betrifft nur einen Teilaspekt meiner Person und meines Lebens.
  • Ich kann zu mir sagen: Manche Dinge passieren, auf die ich selbst keinen Einfluss habe. Jetzt gilt es, diese unverschuldete Belastung auszuhalten.

Literatur:

Greogor Hasler – Resilenz: Der Wir-Faktor

Michael Hübler – Mit positiver Führung die Mitarbeiterbindung fördern

Warum bei Stress Reden oft nicht weiterhilft

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Die drei Aktivierungsstufen von Stress

Das kennt vermutlich jede/r: Wir stehen unter Stress und bekommen gute Ratschläge von anderen, wie wir besser damit umgehen könnten. Da heißt es: „Geh’ doch mal eine Runde spazieren. Ein wenig in die Sonne und an die frische Luft.“ Oder: „Versuch’ doch mal die positiven Seiten an der Sache zu sehen.“

Was in normalen Stress-Situationen harmlos ist oder sogar wütend macht, kann in besonders schwierigen Situationen, beispielsweise depressiven Phasen, die Situation sogar verschlimmern. Denn wer nicht einmal in der Lage ist, solche einfachen Ratschläge zu befolgen, die wertungsfrei betrachtet durchaus hilfreich sind, ist offensichtlich verloren. Hier gilt wohl der Spruch „Das Gegenteil von gut ist gut gemeint“.

Warum jedoch tun wir uns oft so schwer, gut gemeinte Ratschläge anzunehmen?

Neben der Tatsache, dass jeder Mensch anders ist und deshalb auch Tipps nur bedingt übertragbar sind, ist unsere psychische und körperliche Gesundheit ein hochkomplexes System. Vereinfacht formuliert reagieren wir unter Stress

  1. mit einer Aktivierung („Obacht, da muss ich aufpassen!“),
  2. mit Kampf („Jetzt gilt es!“) oder Flucht („Da nehme ich wohl besser die Beine in die Hand“) und
  3. bei längerer Belastung ohne Fluchtmöglichkeit mit kurzfristiger oder dauerhafter Erstarrung („Wenn ich schon nicht ständig blau machen oder meinem Chef Paroli bieten kann, mache ich mich wenigstens unsichtbar“).

Ein aufgebrachter Mensch könnte durchaus in der Lage sein, die positiven Seiten einer Krise zu sehen. Ein Mensch im Kampf-, Flucht- oder Erstarrungsmodus ist dies mit Sicherheit nicht. Solche Tipps passen daher häufig nicht zum aktuellen Zustand.

Das Zusammenspiel unserer Nerven

Zur Aktivierung und Beruhigung unter Stress spielt in unserem Körper neben dem Sympathikus und Parasympathikus als Teil unseres vegetativen Nervensystems der Vagus-Nerv eine wichtige Rolle. Der Vargus-Nerv wird auch als Hirnnerv bezeichnet, weil er direkt von unserem Gehirn bis in unseren Darm reicht. Als Hirnerv funktioniert der Vagus wesentlich komplexer als Sympathikus und Parasympathikus. Ein Teil des Vagus, der sogenannte Erstarrungs-Vagus ist dafür zuständig, uns in besonders stressigen Situationen möglichst klein zu machen. Ein anderer Teil des Vagus, der sozial-vegetative Vagus ist dafür zuständig, unsere Darmtätigkeiten unter Stress zu regulieren und soziale Beziehungen zu pflegen, indem er Einfluss auf unsere Emotionen und Mimik nimmt. Da unser Vagus-Nerv hochverzweigt durch unseren halben Körper verläuft, ist sein Einfluss hochkomplex.

Die verschiedenen Teile des Vagus-Nervs lassen sich unterschiedlich beruhigen oder aktivieren. Der Erstarrungs-Vagus wird bei kleinen Kindern durch Begrenzungen beim Wickeln trainiert. Wenn wir später Freunde umarmen oder uns in eine warme, dicke und schwere Decke hüllen, spüren wir diese Grenze ebenso. Der Trick dahinter ist die sanfte, freiwillige Gewöhnung. Wer auf diese Weise seinen Erstarrungs-Vagus trainiert, geht später unter Stress besser mit einer erzwungenen Erstarrung um.

Der sozial-vegetative Vagus wird durch eine gesunde Ernährung und stützende Beziehungen aktiviert, beispielsweise über verlässliche Freundschaften, gute Kolleg*innen, Spiritualität oder eine tragende und vertrauliche Coach-Klienten-Beziehung.

Dabei zeigt sich ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem Sozialen und unserer Verdauung. Gute Bindungen fördern die Ausschüttung des Bindungshormons Ozytocin, das wiederum unseren Darm verlangsamt, damit er auch mit schwerdaulichen Speisen fertig wird. Dass Liebe durch den Magen geht oder uns ein Konflikt schwer im Magen liegt, ist daher weniger blumig formuliert als auf körperliche Tatsachen zurückzuführen.

Erst der Körper, dann das Reden

Nun haben Stress, insbesondere Dauerstress oder traumatische Erfahrungen die Eigenart, dass sich schwer darüber sprechen lässt. Es kann sogar sein, dass ein Darüber Sprechen sogar zu Retraumatisierungen führt. Aus diesem Grund ist es oft hilfreich, zuerst auf einer körperlichen Ebene anzusetzen:

  1. Den Erstarrungs-Vagus mit Bewegung beruhigen: Bei Menschen, die aufgrund dauerhaften Stresserlebens erstarrt sind, kann es hilfreich sein, den Körper durch Atemübungen, Sport, Spaziergänge oder Tanzen zuerst wieder in Bewegung zu bringen. Der Tipp mit der Bewegung an der frischen Luft ist intuitiv also durchaus passend. Er sollte jedoch mit einem tiefen Verständnis dafür gepaart sein, dass bereits das für manche Menschen nicht einfach ist. Vielleicht ist in so einem Fall ein medizinisches Trampolin eine gute Alternative.
  2. Den Sympathikus entspannen: Nimmt die Erstarrung ab, gerät der Mensch entweder in einen Kampf- oder Fluchtmodus. An einem Beispiel: Wer realisiert, dass er sich vor seinem übergriffigen Chef nicht mehr klein machen sollte, steht nun vor der Wahl, sich entweder zu verteidigen oder – wenn ihm dafür noch die Kompetenzen fehlen – aus kritischen Situationen beispielsweise durch Krankheit oder humorvolle Ablenkungen zu flüchten. Die Auflösung der Erstarrung bringt folglich neue Herausforderungen mit sich. An dieser Stelle eines Coachings oder einer Therapie gilt es daher die Handlungskompetenz durch Resilienz-, Achtsamkeitstrainings, Entspannungsübungen, entspannende Musik oder auch Körpertrainings wie Yoga oder Thai Chi so vorzubereiten, dass eine stressige Situation ausgehalten wird, ohne zuzuschlagen oder wegzurennen. Auch hier wirken Bindungen Wunder, beispielsweise durch das geduldige Vertrauen eines Coaches in seine Klienten.
  3. Den sozial-vegetativen Vagus fördern: Auf der dritten Stufe schließlich kann nun endlich – dank der Vorbereitung – das eigentliche Coaching sozialer Kompetenzen trainiert werden.

Anhand dieser physiologischen Zusammenhänge lässt sich nicht nur erklären, wie in unserem Körper insbesondere aufgrund des Vagus-Nervs Denken, Fühlen, Verdauung, Auftreten, Sprechen, Mimik, Atmung, usw. miteinander verbunden sind, sondern auch, warum manche Trainings- oder Coaching-Maßnahmen scheitern, wenn sie zu schnell auf die Kompetenzen-Schiene abzielen.

Als Coach hatte ich es bislang selten mit Coachees in Erstarrung zu tun. Erstarrung findet eher in therapeutischen Settings aufgrund starker Traumata statt. Den zweiten Schritt vor dem dritten zu machen, d.h. zuerst den Sympathikus zu beruhigen und sich dann – in Ruhe – der Entwicklung von Kompetenzen zu widmen, ist jedoch enorm hilfreich.

Diese Vorgehensweise findet sich u.a. im Focusing, einer Weiterentwicklung der Gesprächstherapie. Hier wird zuerst der sogenannte Freiraum des Klienten gefördert: „Sitzen Sie gut? Brauchen Sie etwas zu trinken? Nehmen Sie sich alle Zeit der Welt, um erst einmal hier anzukommen“. Erst dann wird über mögliche Veränderungen gesprochen.

Literatur:

Gregor Hasler – Die Darm-Hirn-Connection

Dr. Hildegard Nibel und Kathrin Fischer – Neurogenes Zittern

Eugene T. Gendlin – Focusing