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Der Mythos vom bösen Menschen und welche Konsequenzen sich daraus ergeben

Ist der Mensch von Grund auf gut oder schlecht? Die öffentliche Meinung geht eher davon aus, dass der Mensch böse ist und deshalb – wie Thomas Hobbes es in seinem Leviathan beschrieb – kontrolliert werden muss. Davon lässt sich dann auch das Bestreben einer immer stärkeren Überwachung des Menschen, beispielsweise über Kameras im öffentlichen Raum oder während der Pandemie über die Kontrolle der Verhaltensweisen der Menschen ableiten. Andernfalls könnten wir Vertrauen darauf haben, dass der Mensch so handelt, dass es nicht nur ihm nützt, sondern auch anderen - zumindest denen in seinem direkten Umfeld - dass der Mensch also kooperative Gene hat, wie es in einem Buch von Joachim Bauer beschrieben wird.

Die immergleichen Studien, auf die sich die Befürworter eines Leviathans berufen, legen etwas anderes nahe. Das Zimbardo-Experiment zeigte doch schließlich, mit welcher Brutalität die Wärter ihre Machtposition ausnutzten. Und das berühmte Ferienlagerexperiment von Muzafer Sherif zeigte doch ebenso deutlich, wie die beiden Gruppen von Jugendlichen in dem Ferienlager aufeinander losgingen.

Nur: Die Anweisungen im Stanford-Prison-Experiment von Zimbardo enthielten nicht nur eine sachliche Rollenbeschreibung, sondern wurden bewusst manipulativ verfasst. Der französische Geisteswissenschaftler Thibault Le Texier untersuchte die Unterlagen der Studie, laut derer die (gespielten) Gefängniswärter genau wussten, was von ihnen erwartet wurde. Die Forscher griffen laut einer Audioaufnahme sogar direkt ins Geschehen ein. Dabei wurde ein Wärter explizit ermahnt härter durchzugreifen.1

Zimbardo schreibt selbst: Die Schlussfolgerung dieser Studie lautet also: Starke soziale Situationen können die Identität von guten Menschen auf negative Weise verändern.

Bei aller wissenschaftlichen Mängel schlussfolgert auch er nicht, wie es oft verkürzt dargestellt wird, dass der Mensch schlecht ist, sondern dass ihn die Umstände dazu machen.

Wenn Zimbardo genau das zeigen wollte, ist im das gelungen: Gebe einer Gruppe von Menschen Macht in Form einer Position und weise sie an, brutal durchzugreifen. Die meisten werden es tun, ohne sich dagegen zu wehren.

Eine solche hierarchische Macht zeigte sich auch im Milgram-Experiment, in dem Menschen dazu angeleitet wurden, einer Person in einem anderen Raum Stromschläge zu verabreichen, wenn sie Fragen falsch beantworteten. Auch aus diesem Experiment lassen sich unterschiedliche Erkenntnisse heraus lesen: Neben der Erkenntnis zu was Menschen alles fähig sind, gibt es auch die Erkenntnis, dass Menschen dann moralisch verwerfliche Dinge tun, wenn sie sich mit Autoritäten identifizieren, die diese Handlungen als tugendhaft darstellen.2 Es geht also auch hier mehr um das Setting und weniger um die Schlechtigkeit des Menschen ansich.

Das gleiche passierte im Experiment von Muzafer Sherif. Auch hier wurden die Gruppen zuerst aufeinander gehetzt. Sherif arbeitete mit Gerüchten über die jeweils andere Gruppe, um eine noch nicht vorhandene gegenseitige Feindschaft anzustacheln.3 Es strafen also nicht zwei neutrale Gruppen aufeinander, was die Objektivität des Experiments verzerrt. Zudem nahm das Experiment im weiteren Verlauf eine überaus positive Wendung. Als Sherif die Jugendlichen vor Aufgaben stellte, die sich nur gemeinsam lösen ließen, kooperierten sie erst gezwungenermaßen und später durchaus freundschaftlich miteinander.4 Es geht also auch hier nicht darum, dass der Mensch ansich gut oder schlecht ist, sondern darum, was ein sozialer Umstand mit den Menschen macht.

All diese Studien belegen folglich weniger die grundsätzliche Schlechtigkeit der Menschen, sondern allenfalls wie leicht der Mensch durch soziale Umstände geprägt und durch Rollenbeschreibungen oder -vorbilder instruiert und manipuliert werden kann.

Gingen wir tatsächlich davon aus, dass der Mensch im Grunde gut ist, wie es nicht nur diverse Sozialforscher (u.a. Vertreter der positiven Psychologie oder der klientenzentrierten Gesprächstherapie), sondern in neuerer Zeit auch Neuroforscher (u.a. Gerald Hüther und Joachim Bauer) behaupten, würde dies unseren Blick auf Konflikte und Widerstände enorm verändern:

  • Wir hätten mehr Vertrauen zueinander und müssten uns weniger gegenseitig kontrollieren.
  • Wir würden davon ausgehen, dass Mitarbeiter*innen (Nachbarn oder Menschen ansich) im Grunde gut sind.5
  • Wir würden davon ausgehen, dass erst negative Umstände und Rollenzuschreibungen Menschen davon abbringen, sich offen zu begegnen.
  • Und wir würden die Schuld eines abweichenden Verhaltens nicht dem Menschen ansich zuschreiben, sondern den sozialen Umständen, in denen er sich befindet.

Was lässt sich aus diesen Gedanken ableiten:

  1. Meine innere Haltung (beispielsweise als Führungskraft): Ich würde dann davon ausgehen, dass meine Nachbarn, Kolleg*innen, Freunde, etc. im Grunde gut sind und lediglich aus ihrer Erfahrung heraus manchmal (in meinen Augen) schlechte Dinge tun. Dieser Optimismus im Umgang miteinander könnte Türen öffnen, Widerstände vermeiden und Konflikte verhindern. Es handelt sich dabei nicht um einen naiven Optimismus, denn das Vertrauen in andere sollte immer ein Angebot sein, dass auch angenommen wird. Ist dies nicht der Fall, kann ich mein Angebot auch jederzeit rückgängig machen.
  2. Rollenschreibungen (beispielsweise im Team oder in der Familie): Wie lauten meine Erwartungen an mich? Soll ich als Vater, Mutter oder Führungskraft streng sein, um mich durchzusetzen? Bin ich erst eine gute Führung, wenn ich meine strukturelle Macht einsetze? Oder gibt es Möglichkeiten, sich auf Augenhöhe zu treffen und dennoch eine klare Verantwortungsteilung jenseits von Machtpositionen zu leben?
  3. Strukturen (beispielsweise Räumlichkeiten und Ressourcen): Wie sehen die Räumlichkeiten bei uns (in der Familie oder im Team) aus? Hat jede*r seinen/ihren Freiraum, d.h. Rückzugsmöglichkeiten (Stichwort Großraumbüro)? Gibt es genügend Ressourcen, insbesondere Zeit, Geld und Materialen, um gut zu arbeiten? Oder sind die Räumlichkeiten so eng, dass es bei Stress keine Fluchtmöglichkeiten gibt und Aggressionen vorprogrammiert sind?
  4. Atmosphäre: Und wie sieht es mit der Atmosphäre (im Team oder Familie) aus? Ist diese auf einen offenen, ehrlichen, freundschaftlichen und kooperativen Austausch angelegt, im Rahmen dessen jede*r seinen Platz findet? Oder auf einen kompetitiven und aggressiven Wettbewerb, weil wir davon ausgehen, dass der Mensch erst durch Konkurrenz sein Bestes gibt? Vielleicht gibt es aber auch einen Weg dazwischen, eine Art freundschaftlichen Wettbewerb, der humorvoll mit kleinen Seitenhieben auf der Basis eines gegenseitigen Wohlwollens ausgetragen wird? Dann leben wir vermutlich in der besten aller Welten, die weder schwarz (böse), noch weiß (gut), sondern wie das Leben selbst bunt ist.6

Externe Links und Quellen

1Vgl. https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/stanford-prison-experiment

2Vgl. https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/psychologen-deuten-experimente-von-milgram-und-zimbardo-neu-a-868461.html

3Vgl. https://soundcloud.com/user-534548529/einfuhrung-in-den-atcc-ansatz?

4Vgl. https://www.heise.de/tp/features/Ueberschreiten-der-Gruppengrenze-5043970.html?

5Auch diesen Titel habe ich mir frech ausgeliehen: Rutger Bregman: Im Grunde gut

6Siehe auch https://www.m-huebler.de/ein-new-work-manifest-auf-der-basis-einer-positiven-fuehrung oder ausführlicher: https://www.amazon.de/positiver-F%C3%BChrung-Mitarbeiterbindung-f%C3%B6rdern-Bindungskultur-ebook/dp/B09X1YM7V2

Unser Menschenbild

Die Beschäftigung mit unserem Menschenbild lässt mich nicht los. Die Krise zeigt uns, was tief in uns verborgen ist und nur ab und an unter Stress über die Wasseroberfläche lugt. In der Krise wird aus dem Lugen ein kraftvoller Sprung aus dem Wasser. Politiker und Bürger zeigen, wie ihr Menschenbild wirklich aussieht. Haben wir ein positives oder negatives Menschenbild? Mindestens ebenso spannend: Haben wir Vertrauen in Systeme, respektive unseren Staat?

Wer ein negatives Menschen mitbringt und Systemen ebenso kein Vertrauen schenkt, hat Angst davor, in Systemen unterzugehen oder davor, dass dass mächtige Menschen das System ausnutzen.

Wer ein negatives Menschenbild mitbringt, jedoch Vertrauen in Systeme hat, wird versuchen, diese selbst zu nutzen, um den bösen Menschen in seine Schranken zu verweisen. Das Prinzip ist einfach: Der Mensch ist schlecht und muss durch soziale Kontrollen reguliert werden. Damit sind wir beim Bild des Leviathans angekommen.

Wer andererseits ein positives Menschenbild vertritt, jedoch Systemen kein Vertrauen entgegen bringt, glaubt zwar an das Gute im Menschen, allerdings auch daran, dass Systeme den Menschen korrumpieren können, indem sie die Lust an der Macht über andere wecken oder zu einer Entfremdung des Menschen von sich selbst führen, wenn er sich in Aufgaben und Rollen verliert.

Wer schließlich ein positives Menschenbild vertritt und an Systeme glaubt, geht davon aus, dass sie die guten Potentiale des Menschen erst richtig fördern.

Entsprechend unterschiedlich fallen die Glaubenssysteme der vier Quadranten aus:

Wenn wir uns anschauen, welche Menschen sich in den vier Quadranten wieder finden, stoßen wir auf entsprechend unterschiedliche Typen: Die einen ziehen sich von der Welt zurück oder ordnen sich unter. Die anderen nutzen Systeme, um ihre Dominanz auszuspielen. Die dritten träumen den Traum von einer Welt, in der das Individuum in der Gesellschaft zur vollen Entfaltung kommt. Und die letzten hätten am liebsten so wenige Freiheits-Beschränkungen wie möglich.

All dies führt zu gänzlich unterschiedlichen Verhaltenskonsequenzen:

Wir können nicht einfach aus unserer Haut. Dennoch drängt sich durch die bewusste Beschäftigung mit unserem Menschenbild und unserer Sichtweise auf Systeme die Frage danach auf, ob wir zufrieden damit sind, wie wir die Welt sehen. Oder ob wir etwas daran ändern wollen? An unserer Sicht und an unserem Umgang miteinander?

Ich persönlich habe definitiv mehr Vertrauen in Menschen als in Systeme. Dennoch gibt es Systeme, die eine großartige Arbeit leisten und in denen weniger freiheitsliebende Menschen einen Platz bekommen, zu sich selbst zu finden.

Das Menschenbild in der Krise

Krisen zwingen uns zum Nachdenken. Beispielsweise über unser Menschenbild.

Es ist spannend, mit welchen Brillen Menschen unterwegs sind. Mit welchen Brillen sie auf die Welt und gerade jetzt auf andere Menschen blicken. Kein Wunder, dass hier im wahrsten Sinne Welten aufeinanderprallen. Ohne eine Klärung des Charakters der individuellen Sehhilfen sind Eskalationen im gegenseitigen Austausch vorprogrammiert:

“Die Maßnahmen sind vollkommen gerechtfertigt, weil dort draußen so viele Menschen ‘rumlaufen, die es einfach nicht schnallen!”

Die Gegenseite sagt übrigens das gleiche: “Zu demonstrieren ist eine Bürgerpflicht, weil es so viele Menschen dort draußen gibt, die es einfach nicht schnallen.”

Bereits der Begriff der “Maßnahme” ist spannend: Jemand soll Maß halten. Weil er das jedoch nicht freiwillig tut, wird ihm ein Teil seiner Freiheit “genommen”, damit wir sicher gehen können, dass er es auch wirklich tut. Der aktuelle Höhepunkt fand gerade in Sachsen zum Thema “Psychiatrisierung von Quarantäneverweigerern” statt.

Dabei gibt es doch einen Zwischenweg zwischen diesen beiden Extremen: “Die Maßnahmen sind nur teilweise sinnvoll, weil sie teilweise an den falschen Stellen ansetzen.”

Oder wie Josef Hader einmal sagte: “Ich weiß es nicht. Ich denke noch nach.”

Wie so oft und insbesondere in Krisen sind es die Zwischentöne, die es ermöglichen, zerstrittene Lager zu versöhnen.

Während die Regierung Angst davor hat, dass solche Kommentare die Masse der Menschen verunsichert, worauf der nächste logische Schritt das Abdriften der Verunsicherten und ins Nachdenken gekommenen Menschen anscheinend automatisch in die Rebellion führt, was nicht unbedingt für ein aufgeklärtes Menschenbild nach Kant’schem Vorbild spricht, haben Verschwörungstheoretiker Angst vor einer Clique von Grund auf böser Menschen, die im Hinterzimmer die Weltmacht an sich reißen wollen.

Mich persönlich gruselt beides.

Wo bleibt unser Glaube an den aufgeklärten, mündigen Menschen, der nicht nur anderen Wissenschaftlern hörig lauscht, sondern sich seines eigenen Verstandes bedient? Der sich selbständig und aktiv seine eigene Meinung bilden möchte?

Wo bleibt das Denken in Interessen, das logischerweise nicht unbedingt meine eigenen Interessen widerspiegelt, aber dennoch legitim ist? Und Staaten, Stiftungen und einzelne Politiker verfolgen ebenso Interessen wie Privatbürger.

Trauen wir uns und den Menschen in unserem Umfeld wirklich so wenig zu?

Wenn dem so ist: Dann her mit Notstandsgesetzen. Der Mensch ist des Menschen Wolf und braucht einen Leviathan, einen starken Staat. Dann gilt die Devise: Zwangsimpfungen für alle statt Respekt, Solidarität, Rücksicht und Empathie. Dann können wir letztlich niemandem mehr trauen. Auf Wiedersehen all ihr schönen Umarmungen. Dann sagt Julia zu Romeo: Zeig mir deinen Impfpass, bevor du mich küsst.

Und wenn wir doch Vertrauen in die Menschheit haben? Diese Frage steht zur Disposition. Hier kann zuallererst jeder bei sich selbst beginnen: Wie schaut Ihr Menschenbild aus?