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Bayern hat eine gespaltene Persönlichkeit

Ich lebe seit vielen Jahren in Bayern und ich glaube, ich habe Bayern erst jetzt richtig verstanden.

Als die Amerikaner damals in Deutschland stationiert waren, waren sie von Bayern begeistert. Die Bayern wären ein wenig so wie die Leute in den Südstaaten. Es gibt zwar eine Law-and-Order-Mentalität. Aber im Grunde macht jeder, was er will.

Gleichzeitig haben die Bayern eine lange Tradition der Bewunderung für Könige. Diese Tradition, sich an einem Staatsoberhaupt zu orientieren ging offensichtlich nahtlos in die DNA der CSU über. Das teils maßlos überzogene Poltern einen FJS wurde in weiten Teilen Deutschlands belächelt, teils auch mit Scham betrachtet. Was in Bayern ging, ging ansonsten nirgendwo. Dieses herrschaftliche Auftreten empfand der Rest von Deutschland als weitgehend peinlich. Es kommt nicht von ungefähr, dass Bayern es zwar mehrmals versuchte, aber noch nie einen Kanzler stellen durfte. Ob es dabei bleibt wird sich zeigen.

Neulich hatte ich dazu einen Vergleich im Kopf. Ob er passt, muss jede/r für sich selbst entscheiden. Wenn es zwischen einem Mann und einer Frau heiß hergeht, dann wünscht sich die Frau laut diverser Studien eher einen Macho. Wenn aus dieser Begegnung Kinder erwachsen, soll der Kerl lieber fürsorglich und verständnisvoll sein.

Wenn es jetzt in der Krise hoch hergeht, sehnt sich die Mehrheit wohl ebenso nach einem starken, großgewachsenen Bayern, sorry: Franken, nach Zack-Bumm-Fertig-Manier (außer ein paar unverbesserlicher Rebellen). In der nächsten Phase der Verhandlungen um den richtigen Weg könnte die Sehnsucht nach einem besonnenen Nordrhein-Westfalen steigen.

Das folgt auch der Logik im Umgang mit komplexen Situationen (siehe Cinefin-Matrix). In Krisen sehnen sich die meisten Menschen nach einem testosteron-gestählten Chef, der klar sagt, wo es lang geht. Sobald die Krise abebbt, kommen wieder andere Punkte auf die Tagesordnung. Dann sind wieder Selbst- und Mitbestimmung angesagt.

Dies gilt zumindest für den Rest der Welt. Aber zurück zu Bayern. Ich glaube, die Amerikaner hatten recht. Ein Blick von außen ist ja oft sehr erhellend.

Wer Söder und Herrmann zuhört, hat das Gefühl, wir stünden vor einer humanitären Katastrophe, die nur abzuwenden ist, wenn die Reihen geschlossen bleiben. Wer sich dann die verschiedenen Demonstrationen beispielsweise in München am Wochenende ansieht, merkt, dass es noch eine andere Welt gibt. Und wer es wagt, seine eigenen Füße trotz Ausgangssperre vor die Tür setzt, realisiert, dass dort draußen anscheinend andere regeln gelten. Der triftige Grund, der sich schwarz auf weiß so anhört, als hätten wir gefängnisähnliche Zustände, bekommt Facetten, bei denen beinahe alles wieder möglich scheint. Die Menschen dürfen zwar nicht in einem Biergarten flanieren, aber sie dürfen sich treffen, was sie in den städtischen Parks und Grünanlagen reichlich nutzen. Die Bürger sollen auch nicht in die freie Natur zwecks Erholung fahren. Aber wenn es nicht anders geht, weil es in der Stadt zu eng ist, geht es wohl doch.

Wie war das nochmal mit dem triftigen Grund? Und worunter subsumiere ich jetzt Eis essen gehen? Einkaufen? Individualsport? Das kommt wohl auf die Portion an? Spaziergang an der frischen Luft? Das ginge auch ohne Eis. Aber Ziele sind schon wichtig.

Mir scheint, Bayern ist ein wenig schizophren: Es ist schon toll, wenn es einen starken Mann an der Spitze gibt, damit alle Unbelehrbaren sich daran orientieren. Ich selber mache es dann doch anders. Wenn sich ein Ureinwohner dieses Bundeslandes in seinen Schrebergarten Freunde und Familie einlädt, achtet er natürlich auf den Mindestabstand. Bei allen anderen weiß man das nie so genau.

Vielleicht ist damit der Spruch “Leben und leben lassen gemeint”, auch wenn das in aktuellen Zeiten missverstanden werden kann. Da musste erst eine Krise wie das große C kommen, damit ich endlich verstehe, wie Bayern funktioniert.