Alle Beiträge von Michael Hübler

Über den Umgang mit Fake-News und Gerüchten

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Krisen als Nährboden für Gerüchte

Gerüchte – oder moderner Fake News – sind wohl so alt wie die Menschheit. Sie gedeihen v.a. in unsicheren Zeiten, wenn die Menschen wissen wollen, was wirklich los ist:

  • Im 2. Weltkrieg gingen in den USA Gerüchte um, dass Nazi-Deutschland kurz vor einem Sieg steht.
  • Zum Ende des 2. Weltkriegs ging das Gerücht um, dass Atomwaffen ein Gebiet auf lange Zeit unbewohnbar machen würden, was u.a. von den Sozialpsychologen Gordon W. Allport und Leo Postman, die intensiv über das Thema Gerüchte forschten, vehement dementiert wurde.
  • Ende der 90er-Jahre fragten sich viele US-Amerikaner*innen, ob ihr Präsident eine Affäre hat, was selbstredend ebenso vom Weißen Haus dementiert wurde.

Und in der aktuellen Krisenzeit erzeugt eine dermaßen hohe Anzahl an Gerüchten Schwindelgefühle: Reiche Menschen verjüngen sich mithilfe von Babyblut. Die Impfung wird uns alle umbringen. Der große Volksaustausch steht kurz bevor – wieder einmal. Russland wird demnächst ein weiter Land überfallen (oder doch nicht?). Deutschland wird deindustrialisiert. Die Welt lacht über Deutschland (vermutlich ein paar Monate und dann bewundert sie uns wieder). Und beim FC Bayern gibt es derzeit so viele Gerüchte, dass ich schon gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Und diese Vermutungen breiten sich dank dem Internet schneller aus als ein Friseur Schnipp machen kann.

Die Erforschung von Gerüchten

Gerüchte sind vielleicht so alt wie die Menschheit. Die systematische Erforschung von Gerüchten begann jedoch erst im 2. Weltkrieg in den USA in sogenannten „rumor clinics“. Die Gerüchte in der verunsicherten Bevölkerung sollten in diesen „Kliniken“ untersucht und entschärft werden. Mit Entschärfung wiederum ist letztlich Propaganda gemeint als Bestreben, in der Regel die Meinung der Regierung zur Meinung des Volkes zu machen.

In den 60er Jahren wurden in den USA aus den „rumor clinics“ „rumor center“. Diese hatten u.a. die Aufgabe Gerüchte aus der Welt zu schaffen, um Rassenunruhen zu vermeiden. Sie erreichten allerdings lediglich die weiße Bevölkerung, nicht jedoch die schwarze. Ein großes Problem war schon damals, dass diejenigen, die gegenüber der Regierung skeptisch eingestellt sind, zum einen Gerüchte eher glauben und zum anderen den Dementi der Regierung nicht vertrauen. Daran hat sich offensichtlich wenig geändert.

Erschwerend kommt hinzu, dass sich im Nachhinein – wie die Beispiele zeigen – manche Gerüchte als wahr erweisen. Damit stellt sich die Frage, ob gegen Gerüchte und Fake News überhaupt vorgegangen werden kann.

Gibt es eine Gerüchte-Formel?

Allport und Postman brachten im Zuge ihrer Forschungen die Entstehung von Gerüchten auf die Formel R = i * a: Die Stärke eines Gerüchts (rumor) wird bestimmt durch die Wichtigkeit eines Themas (importance) mal der Unsicherheit der aktuellen Lage (ambiguity).

Auf den ersten Blick erscheint dieser Zusammenhang einleuchtend. Auf den zweiten Blick fehlen jedoch persönliche Merkmale der Adressaten, weshalb die Formel später um den Faktor „kritische Kompetenz“ erweitert wurde. Wem die Unterjochung der Menschheit durch eine Handvoll Eliten dann doch ein wenig zu obskur vorkommt, wird ein entsprechendes Gerücht kaum weiterleiten.

Woran lassen sich Gerüchte erkennen?

Die Formel verdeutlicht es bereits: In einer Krisenstimmung bei einem heiklen Thema kochen Gerüchte und Fake News besonders gerne hoch.

Gleichzeitig zeichnen sich Gerüchte durch ihre Einprägsamkeit aus. Damit diese gewährleistet ist, müssen sie leicht wiederholbar sein, am besten als Mem. Aus diesem Grund sind drei Charakteristika typisch für Gerüchte:

  1. Komplexe und relativierende Details werden häufig weggelassen.
  2. Das Gerücht wird an die eigene Situation angepasst.
  3. Das Gerücht übertreibt.

Vermutlich steckt in jedem Gerücht ein wahrer Kern. Reiche Menschen machen seltsame Sachen. Der Missbrauch von Untergebenen ist nicht ungewöhnlich. Die Corona-Impfung führte tatsächlich bei manchen Menschen zu schweren Nebenwirkungen. Die Industrielandschaft in Deutschland steht vor einem Wendepunkt. Und warum soll Thomas Müller nicht vor einem Wechsel stehen?

Falsche Gerüchte jedoch pauschalisieren, sind raum- und zeitlos und übertreiben oftmals maßlos. Wenn wir uns also denken: „Spannend, polarisierend, skandalös!“ … dann haben wir es vermutlich mit Fake News zu tun. Denn die Wirklichkeit ist in der Regel einerseits wesentlich komplizierter und andererseits doch auch wieder langweiliger als all die superspannenden Gerüchte da draußen.

Literatur

Hans-Joachim Neubauer – Fama. Eine Geschichte des Gerüchts. Matthes & Seitz Berlin

Modernes Arbeiten versus Gesundheit

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Modernes Arbeiten ist zwar kreativ, kann aber auch krank machen

Vertrauensarbeitszeit, insbesondere in der mobilen Version, bietet Mitarbeiter*innen die Möglichkeit, rund um all ihre Lebensaufgaben dann zu arbeiten, wann es am besten passt. Die Zeiten der Stechuhr sind also eigentlich vorbei, oder?

Gemäß dem “Stechuhr”-Urteil des EuGH, das soeben aus dem Arbeitsministerium bestätigt wurde, sind Arbeitgeber jedoch verpflichtet, die Arbeitszeit der Mitarbeiter*innen lückenlos zu erfassen. Tatsächlich machten 12% aller deutschen Arbeitnehmer*innen 2021 Überstunden, wovon 22% nicht dafür bezahlt wurden (vgl. “der Freitag” Nr. 17, 27.04.2023, Seite 1).

Vertrauensarbeitszeit – im agilen Management auch gerne Ziel- und Erfolgs- statt Zeitorientierung genannt – hat also auch seine Schattenseiten, insbesondere wenn wir daran denken, dass die Arbeit nie ausgeht und Projekte oftmals nahtlos ineinander übergehen.

Das Thema der Abgrenzung ist in der Tat eines der wichtigsten Themen in meinen Work Life Balance- und Achtsamkeits-Trainings. Weil die Arbeit niemals ausgeht und viele Mitarbeiter*innen Verrtauensarbeitszeit haben, nehmen sie oftmals ihre Arbeit mit nach Hause oder bleiben gleich länger, insbesondere wenn sie keine Kinder haben. Damit wird der vermeintliche Vorteil der Vertrauensarbeitszeit zu einem Nachteil der Mitarbeiter*innen. Diese müssen nun selbst lernen, wie sie sich mit beziehungsgerechtem Nein-Sagen abgrenzen, um sich nicht aufzuarbeiten.

Vertrauensarbeitszeit und Zeiterfassung in Balance

Kann das antiquierte Instrument der Stechuhr hier eine Lösung bringen, indem es Arbeitszeiten wie früher limitiert? Und wie lässt sich das mit Homeoffice und der Freiheit der Vertrauensarbeitszeit vereinbaren?

Rein theoretisch ist es durchaus denkbar, dass ein Mitarbeiter im Homeoffice morgens von 8-9 Uhr einige dringende Mails erledigt, anschließend sein Kind in die Kita bringt, von 10-12.30 Uhr Kund*innen besucht, Pause bis 13.30 Uhr macht, dann von 13.30-15.00 Uhr im Homeoffice arbeitet, 15.30 Uhr sein Kind von der Kita abholt, mit ihm spielt und wartet, bis die Mama von der Arbeit kommt und seine restlichen Stunden am Nachmittag bzw. frühen Abend ableistet.

Im ersten Moment klingt das kompliziert. Der Alltag vieler Eltern ist jedoch genau das: Kompliziert. Und weil es in diesem Normal-Alltag immer wieder Abweichungen gibt, braucht es keine Stechuhr aus dem vorigen Jahrhundert, sondern eine Mischung aus beiden Welten.

Wenn ich heute – weil mein Kind mehr Zuwendung braucht, eine Stunde weniger arbeite, arbeite ich morgen eben eine Stunde länger. Warum also nicht mit einer App arbeiten, die Arbeitnehmer und -geber am Wochen- oder Monatsende die Zeitbilanz anzeigen, damit alle Parteien wissen, woran sie sind oder wo evtl. noch Verbesserungsbedarf besteht?

Warum bei Stress Reden oft nicht weiterhilft

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Die drei Aktivierungsstufen von Stress

Das kennt vermutlich jede/r: Wir stehen unter Stress und bekommen gute Ratschläge von anderen, wie wir besser damit umgehen könnten. Da heißt es: „Geh’ doch mal eine Runde spazieren. Ein wenig in die Sonne und an die frische Luft.“ Oder: „Versuch’ doch mal die positiven Seiten an der Sache zu sehen.“

Was in normalen Stress-Situationen harmlos ist oder sogar wütend macht, kann in besonders schwierigen Situationen, beispielsweise depressiven Phasen, die Situation sogar verschlimmern. Denn wer nicht einmal in der Lage ist, solche einfachen Ratschläge zu befolgen, die wertungsfrei betrachtet durchaus hilfreich sind, ist offensichtlich verloren. Hier gilt wohl der Spruch „Das Gegenteil von gut ist gut gemeint“.

Warum jedoch tun wir uns oft so schwer, gut gemeinte Ratschläge anzunehmen?

Neben der Tatsache, dass jeder Mensch anders ist und deshalb auch Tipps nur bedingt übertragbar sind, ist unsere psychische und körperliche Gesundheit ein hochkomplexes System. Vereinfacht formuliert reagieren wir unter Stress

  1. mit einer Aktivierung („Obacht, da muss ich aufpassen!“),
  2. mit Kampf („Jetzt gilt es!“) oder Flucht („Da nehme ich wohl besser die Beine in die Hand“) und
  3. bei längerer Belastung ohne Fluchtmöglichkeit mit kurzfristiger oder dauerhafter Erstarrung („Wenn ich schon nicht ständig blau machen oder meinem Chef Paroli bieten kann, mache ich mich wenigstens unsichtbar“).

Ein aufgebrachter Mensch könnte durchaus in der Lage sein, die positiven Seiten einer Krise zu sehen. Ein Mensch im Kampf-, Flucht- oder Erstarrungsmodus ist dies mit Sicherheit nicht. Solche Tipps passen daher häufig nicht zum aktuellen Zustand.

Das Zusammenspiel unserer Nerven

Zur Aktivierung und Beruhigung unter Stress spielt in unserem Körper neben dem Sympathikus und Parasympathikus als Teil unseres vegetativen Nervensystems der Vagus-Nerv eine wichtige Rolle. Der Vargus-Nerv wird auch als Hirnnerv bezeichnet, weil er direkt von unserem Gehirn bis in unseren Darm reicht. Als Hirnerv funktioniert der Vagus wesentlich komplexer als Sympathikus und Parasympathikus. Ein Teil des Vagus, der sogenannte Erstarrungs-Vagus ist dafür zuständig, uns in besonders stressigen Situationen möglichst klein zu machen. Ein anderer Teil des Vagus, der sozial-vegetative Vagus ist dafür zuständig, unsere Darmtätigkeiten unter Stress zu regulieren und soziale Beziehungen zu pflegen, indem er Einfluss auf unsere Emotionen und Mimik nimmt. Da unser Vagus-Nerv hochverzweigt durch unseren halben Körper verläuft, ist sein Einfluss hochkomplex.

Die verschiedenen Teile des Vagus-Nervs lassen sich unterschiedlich beruhigen oder aktivieren. Der Erstarrungs-Vagus wird bei kleinen Kindern durch Begrenzungen beim Wickeln trainiert. Wenn wir später Freunde umarmen oder uns in eine warme, dicke und schwere Decke hüllen, spüren wir diese Grenze ebenso. Der Trick dahinter ist die sanfte, freiwillige Gewöhnung. Wer auf diese Weise seinen Erstarrungs-Vagus trainiert, geht später unter Stress besser mit einer erzwungenen Erstarrung um.

Der sozial-vegetative Vagus wird durch eine gesunde Ernährung und stützende Beziehungen aktiviert, beispielsweise über verlässliche Freundschaften, gute Kolleg*innen, Spiritualität oder eine tragende und vertrauliche Coach-Klienten-Beziehung.

Dabei zeigt sich ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem Sozialen und unserer Verdauung. Gute Bindungen fördern die Ausschüttung des Bindungshormons Ozytocin, das wiederum unseren Darm verlangsamt, damit er auch mit schwerdaulichen Speisen fertig wird. Dass Liebe durch den Magen geht oder uns ein Konflikt schwer im Magen liegt, ist daher weniger blumig formuliert als auf körperliche Tatsachen zurückzuführen.

Erst der Körper, dann das Reden

Nun haben Stress, insbesondere Dauerstress oder traumatische Erfahrungen die Eigenart, dass sich schwer darüber sprechen lässt. Es kann sogar sein, dass ein Darüber Sprechen sogar zu Retraumatisierungen führt. Aus diesem Grund ist es oft hilfreich, zuerst auf einer körperlichen Ebene anzusetzen:

  1. Den Erstarrungs-Vagus mit Bewegung beruhigen: Bei Menschen, die aufgrund dauerhaften Stresserlebens erstarrt sind, kann es hilfreich sein, den Körper durch Atemübungen, Sport, Spaziergänge oder Tanzen zuerst wieder in Bewegung zu bringen. Der Tipp mit der Bewegung an der frischen Luft ist intuitiv also durchaus passend. Er sollte jedoch mit einem tiefen Verständnis dafür gepaart sein, dass bereits das für manche Menschen nicht einfach ist. Vielleicht ist in so einem Fall ein medizinisches Trampolin eine gute Alternative.
  2. Den Sympathikus entspannen: Nimmt die Erstarrung ab, gerät der Mensch entweder in einen Kampf- oder Fluchtmodus. An einem Beispiel: Wer realisiert, dass er sich vor seinem übergriffigen Chef nicht mehr klein machen sollte, steht nun vor der Wahl, sich entweder zu verteidigen oder – wenn ihm dafür noch die Kompetenzen fehlen – aus kritischen Situationen beispielsweise durch Krankheit oder humorvolle Ablenkungen zu flüchten. Die Auflösung der Erstarrung bringt folglich neue Herausforderungen mit sich. An dieser Stelle eines Coachings oder einer Therapie gilt es daher die Handlungskompetenz durch Resilienz-, Achtsamkeitstrainings, Entspannungsübungen, entspannende Musik oder auch Körpertrainings wie Yoga oder Thai Chi so vorzubereiten, dass eine stressige Situation ausgehalten wird, ohne zuzuschlagen oder wegzurennen. Auch hier wirken Bindungen Wunder, beispielsweise durch das geduldige Vertrauen eines Coaches in seine Klienten.
  3. Den sozial-vegetativen Vagus fördern: Auf der dritten Stufe schließlich kann nun endlich – dank der Vorbereitung – das eigentliche Coaching sozialer Kompetenzen trainiert werden.

Anhand dieser physiologischen Zusammenhänge lässt sich nicht nur erklären, wie in unserem Körper insbesondere aufgrund des Vagus-Nervs Denken, Fühlen, Verdauung, Auftreten, Sprechen, Mimik, Atmung, usw. miteinander verbunden sind, sondern auch, warum manche Trainings- oder Coaching-Maßnahmen scheitern, wenn sie zu schnell auf die Kompetenzen-Schiene abzielen.

Als Coach hatte ich es bislang selten mit Coachees in Erstarrung zu tun. Erstarrung findet eher in therapeutischen Settings aufgrund starker Traumata statt. Den zweiten Schritt vor dem dritten zu machen, d.h. zuerst den Sympathikus zu beruhigen und sich dann – in Ruhe – der Entwicklung von Kompetenzen zu widmen, ist jedoch enorm hilfreich.

Diese Vorgehensweise findet sich u.a. im Focusing, einer Weiterentwicklung der Gesprächstherapie. Hier wird zuerst der sogenannte Freiraum des Klienten gefördert: „Sitzen Sie gut? Brauchen Sie etwas zu trinken? Nehmen Sie sich alle Zeit der Welt, um erst einmal hier anzukommen“. Erst dann wird über mögliche Veränderungen gesprochen.

Literatur:

Gregor Hasler – Die Darm-Hirn-Connection

Dr. Hildegard Nibel und Kathrin Fischer – Neurogenes Zittern

Eugene T. Gendlin – Focusing

Täter-Opfer-Dynamiken

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Das Täter-Opfer-Prinzip

Das Täter-Opfer-Prinzip besteht im Kern darin, dass eine Person oder eine ganze Gruppe von Personen an einem Zustand schuld ist, den eine andere Person oder eine ganze Gruppe zu erleiden hat. Wer sich als Opfer betrachtet, hat Angst vor dem Täter. Wird diese Angst weiter befeuert, beispielsweise indem ganze Gruppen als vermeintliche Opfer und Täter aufeinander treffen, was in digitalen Netzwerken häufig passiert, entsteht eine Gruppendynamik, in der aus der Angst schnell Wut mit aggressiven Schuldzuschreibungen wird.

Es erscheint in vielen Situationen im ersten Moment nachvollziehbar, nach einem Täter zu suchen. Schuldige an einem Dilemma zu finden, schafft einen konkreten Fokus für den eigenen Ärger. Auf den zweiten Blick gibt es diese Schuldigen jedoch häufig nicht, zumindest nicht direkt. Hier entstehen also direkte Verbindungen zwischen einem vermeintlichen Opfer und einem vermeintlichen Täter, die im Ursprung nicht bestehen oder zumindest systemisch wesentlich komplexer sind.

Sowohl in der Corona-Pandemie als auch in der Umweltthematik entstanden und entstehen Schuldzuweisungen. Maßnahmenkritiker galten als potentiell schuldig am Tod anderer. Und Politiker und Wissenschaftler*innen, die mit Hilfe der Maßnahmen zur Eindämmung des Virus eben jene vulnerablen Gruppen schützen wollten, galten in den Augen mancher Kritiker als Totengräber der Demokratie unter dem Deckmantel der Gesundheit. Dazu wurde bereits mehr als genug geschrieben. Der große Schuldige war jedoch das unbekannte und damit unkalkulierbare Virus. Auf etwas Unsichtbares lassen sich Aggressionen allerdings schwer projizieren.

Ein ähnliches Prinzip passiert nun mit der Umweltthematik: Die Umweltaktivist*innen beschuldigen die Politik als Täter einer untergehenden Welt, wohingegen manche Politiker*innen Klimaaktivist*innen geradezu als Staatsfeinde betrachten, obwohl diese durchaus legitime Ziele (von den Mitteln einmal abgesehen) verfolgen.

Ein kurzer Blick auf die Interessenkonflikte innerhalb der Ampelregierung macht jedoch deutlich, wie kompliziert Politik ist. Die Politik könnte sich sicherlich mehr für Umweltbelange einsetzen. Sie muss jedoch auch aufpassen, die Gesellschaft nicht zu spalten. Dies könnte sich spätestens bei der nächsten Wahl rächen. Auch in diesem Fall ist sie kein Täter im Ursprung des Begriffs. Hierzu passen schon eher manche Industriezweige von Bau bis Verkehr. Aber auch diese sind schwer als Täter greifbar. Und der einzelne Verkehrsteilnehmer ist ebenso kein Täter im klassischen Sinn, sondern wird zur Projektionsfläche der Klimakleber*innen.

Wenn Dynamiken eskalieren

An diesen Beispielen lässt sich gut verdeutlichen, wie schnell jemand, der zuvor Opfer war oder sich als Opfer empfand, selbst zum Täter werden kann. Die Klimaaktivist*innen betrachten sich als Opfer einer fehlgeleiteten Politik. In dem Moment, in dem sie Straßen blockieren, werden sie jedoch selbst zum Täter. Die Autofahrer wiederum betrachten sich als Opfer, wenn sie im Stau feststecken und mittlerweile werden auch einige handgreiflich und werden damit selbst zum Täter.

In der Transaktionsanalyse gibt es zur Erklärung dieser Dynamiken die drei Rollen Opfer, Täter und Retter. Das Opfer kann unterwürfig, trotzig oder freigeistig sein. Entweder es ordnet sich unter und ergibt sich in sein Schicksal. Oder es lehnt sich auf. Oder es ignoriert alles und geht seinen eigenen Weg. Der Täter kann dominant oder vermeintlich fürsorglich sein. Der Retter wiederum schützt das Opfer vor dem Täter. Doch wer spielt in diesem Beispiel den Retter?

Letztlich wandert auch diese Rolle munter durch die Reihen: Während die Aktivist*innen sich selbst zu Beginn entweder als fürsorglicher Täter oder Retter des Klimas und damit auch der Bürger*innen (als Opfer) vor der Politik (den Tätern) betrachtete, merkten sie schnell, dass viele vermeintliche Opfer sich gar nicht retten lassen wollen. Die Opfer ergaben sich nicht in Demut und Dankbarkeit, sondern begehrten auf. In dem Moment wurden die Retter zu dominanten Tätern und die trotzigen Opfer wie dargestellt zu Tätern. Die Polizei versucht ebenso die ehemaligen Opfer (die Autofahrer) vor den Tätern (den Klimaklebern) zu retten, wird dabei jedoch auch ein ums andere mal zu dominanten Tätern. Wir sehen: Es ist kompliziert. Klar wird jedoch eines: Sobald wir uns auf diese Rollendynamik einlassen, ist eine gesellschaftliche Eskalation nicht mehr weit.

Einen probaten Ausweg aus dieser Dynamik bietet uns die 4. Rolle aus der Transaktionsanalyse: Erwachsen werden und sich ohne gegenseitige Schuldzuweisungen auf Augenhöhe begegnen.

Opfer versus Empowerment

Ein Opfer will oder muss vor etwas oder jemandem beschützt werden. Damit wird jedoch die Handlungsfähigkeit dieses Menschen beschnitten. Kein Wunder, dass manche vermeintlichen Opfer aggressiv auf diese Zuschreibung reagieren. Anders formuliert: Solange ein Mensch sich nicht als Opfer betrachtet, wird der Blick geweitet für die Möglichkeiten, die sich ihm selbst als Selbstschutz bieten. Bei einer Bedrohung wie durch Covid kann dies zusätzlich unterstützt werden durch solidarische Maßnahmen derjenigen, die weniger bedroht sind, um eine gesunde Balance aus Selbst- und Fremdschutz herzustellen. Der Mensch fühlt sich damit nicht zu 100% abhängig von anderen, was der eigenen Psyche und dem eigenen Immunsystem zugute kommt.

Im Rahmen der Umweltthematik wäre es vermutlich ebenso sinnvoll, aus der Täter-Opfer-Dynamik mit gegenseitigen Beschuldigungen (Umweltzerstörer versus Klimaterroristen) auszusteigen, um eine produktive Sichtweise zu gewinnen, was jede*r Partei in der aktuellen Situation beitragen kann.

Ein möglicher Ausstieg aus Täter-Opfer-Dynamiken

Das Täter-Opfer-Prinzip geht davon aus, dass Differenzen schädlich sind: Was der Eine kann, wird dem Anderen zum Verderben. Ist der Eine stark, fühlt sich der Andere bedroht. Weiß der Eine etwas, scheint dem Anderen dieses Wissen zu fehlen. Ist der Andere hingegen schwach, muss der Eine aufgrund dessen Schwäche leiden und zurückstecken.

Differenzen können jedoch auch verbindend wirken, wenn sie als Ergänzung wahrgenommen werden. Was der Eine kann und weiß, kann auch dem Anderen helfen. Und vielleicht lässt sich auch aus der vermeintlichen Schwäche des Anderen etwas lernen. Damit hätten wir jedoch keine mechanische Solidarität unter Gleichen, sondern eine organische Solidarität unter Verschiedenen.

Um dahin zu kommen, sollten wir damit beginnen uns gegenseitig zuzuhören und wertfrei wahrzunehmen, welche Ängste unser Gegenüber hat, bevor es zu Wut-Projektionen kommt. Auf dieser Basis lässt sich dann auch das Können und Wissen austauschen, um gemeinsam an den erkannten Gegensätzen und Differenzen zu wachsen.

Wann sind Resilienz-Trainings sinnvoll?

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Resilienz als Fähigkeit, schwierige Situationen und damit auch Krisen und Dauerbelastungen gut zu meistern und bestenfalls gestärkt daraus hervor zu gehen, ist offensichtlich ein Begriff unserer Zeit, der bis in die Politik hinein reicht. Dabei stellt sich immer auch die Frage, was damit bezweckt werden soll:

  • Soll der Mensch für die Zukunft fit gemacht werden?
  • Oder soll von notwendigen strukturellen Veränderungen abgelenkt werden?

Veränderbare und unveränderbare Faktoren

So wie es eindeutig erscheint, dass wir in Zukunft mehr mit plötzlichen Überschwemmungen, Hitzewellen, Dürreperioden und dergleichen mehr zu tun haben werden und uns daher auch dafür wappnen sollten, d.h. resilienter mit unvorhersehbaren, unsicheren Situationen umgehen sollten, erscheint es im Zuge der Herausforderungen in Unternehmen ebenso klar, dass stetige, oft auch krisenhafte Umbruchsituationen vorprogrammiert sind:

  • Die Krisen der Welt führen auch in Unternehmen zu stetigen Anpassungsprozessen.
  • Durch die Digitalisierung hat sich die Konkurrenz globalisiert.
  • Der Fachkräftemangel hat sich mittlerweile zu einem allgemeinen Personalmangel ausgewachsen, in dem es in vielen Branchen nicht mehr darum geht, gute Leute, sondern überhaupt jemanden zu bekommen.
  • Eine grassierende Unzufriedenheit von Arbeitnehmer*innen sowie die mangelnde Bindung an den Arbeitgeber führen u.a. zu einer höheren Fluktuation als früher und dem Phänomen des „Quiet quitting“.

Bereits an diesen wenigen Punkten lässt sich der Unterschied zwischen veränderbaren und unveränderbaren Faktoren verdeutlichen. An Krisen, digitaler Globalisierung und Personalmangel kann ein Unternehmen zuerst einmal nichts ändern. Die Folgen einer Krise für Unternehmen sind genauso ein Fakt wie die Anzahl potentieller Bewerber*innen. Am Beispiel Personalmangel zeigt sich jedoch, dass es mittlerweile einige Strategien gibt, die Bewerber*innen, um die sich Unternehmen streiten, anders als bislang anzusprechen:

  • Mittlerweile gibt es einige Beispiel vom Erfolg der 4-Tage-Woche, wenn Unternehmen berichten, dass sie damit plötzlich wieder 100 Bewerbungen mehr im (digitalen) Briefkasten haben.
  • Das Homeoffice kann ein Zugpferd insbesondere für junge Menschen sein, auch wenn es wichtig ist, klar zu definieren, wann ein mobiler Arbeitsplatz sinnvoll ist und wann eher nicht.
  • Ein clever eingesetztes Employer Branding, indem Mitarbeiter*innen emotional und nahbar mittels Videoclips für ihr Unternehmen werben, kann ebenso einen hohen Werbeeffekt haben.
  • Und schließlich gilt es zu überlegen, inwiefern Migrant*innen als Bewerber*innen eingebunden werden können.

Ob es jedoch reicht, Stellenanzeigen zu gendern, um die eigene Diversität zu verdeutlichen und damit mehr Bewerber*innen anzusprechen, bezweifle ich.

Bei der Unzufriedenheit der Mitarbeiter*innen wiederum wird schnell deutlich, dass dieser Faktor in weiten Teilen hausgemacht ist. Da Unzufriedenheit und damit einher gehend auch eine mangelnde Bindung an Teams und Unternehmen in der Regel auf eine mangelnde Führung zurückgehen, ist es unabdingbar, genau hier anzusetzen. Die Konzepte dafür sind reichhaltig vorhanden, egal ob sie nun „Agiles Führen“ mit Vertrauen und Transparenz, „Positive Leadership“ auf der Basis der positiven Psychologie, „Führen mit emotionaler Kompetenz“, „Dienende Führung“ bzw. „Servant Leadership“ oder „Menschliche Führung“ heißen.

Das feine Gespür der Mitarbeiter*innen

Zeitsprung in das Jahr 2010: Damals sollte ich für die gesamte Führungsriege eines Unternehmens ein Zeitmanagementtraining durchführen. Nach Abklärung mit der Personalentwicklung war ich gewarnt, dass einige der Teilnehmer*innen das Seminar begrüßen, andere jedoch eher nicht. Nun gut: Ich war jung und brauchte das Geld. Der einhellige O-Ton im Seminar lautete jedenfalls: „Wir haben kein Zeitmanagement-Problem, sondern die Geschäftsleitung. Sobald ein Meeting zu kurz wird, beginnt er mit ausufernden Reden. Der scheint sich einfach selber gerne zuzuhören.“

Schnell wurde klar, dass es nicht nur am Chef lag, sondern an der grundsätzlichen Führungskultur im Unternehmen. Die Eckpunkte lauteten: Wenig Vertrauen gegenüber den Mitarbeiter*innen und eine Kultur der Wichtigkeit, bei der es Führungskräften schwer fällt loszulassen. Der Chef war hier lediglich ein Teil des Problems.

Das Problem bei solchen Seminaren ist jedoch immer dasselbe: Bekommen Mitarbeiter*innen ein Zeitmanagementtraining aufoktroiert, obwohl sie bereits hoch organisiert sind, sich jedoch an den Strukturen wenig verändert, lautet die unausgesprochene Nachricht: Wir schieben euch den schwarzen Peter zu, damit sich kulturell und/oder strukturell nichts verändern muss.

Dies spricht nicht automatisch gegen Zeitmanagementtrainings, sondern dafür, die Probleme klar zu benennen und sauber anzugehen:

  • Wie schaut es mit unserer Führungskultur aus? Brauchen wir anstatt eines Zeitmanagementtrainings eher ein Führungstraining zu den Themen Vertrauen, Delegieren und Loslassen?
  • Und was passiert auf der systemischen Ebene? Gibt es genügend Ressourcen? Sind unsere Prozesse und Schnittstellen sauber definiert? Und wie schaut es mit unserem Fehlermanagement aus?

Resilienz ist das neue Zeitmanagement

Während sich Zeitmanagement (Prioritäten setzen, Listen führen, etc.) noch auf der Handlungsebene abspielte, geht Resilienz als Denkhaltung tiefer. Hier geht es letztlich nicht mehr darum, etwas zu verändern, sondern schwierige Situationen auszuhalten. Was ist also davon zu halten, wenn ein Krankenhaus seinen Mitarbeiter*innen ein Resilienzprogramm für Soldat*innen anbietet, jedoch auf der strukturellen Ebene alles beim Alten bleibt (siehe der Freitag, Nr. 16, 20.04.2023, Seite 7)?

Was für Zeitmanagement gilt, gilt auch für Resilienz: Die Menschen fit zu machen für widrige Umstände, aus denen es erst einmal kein entrinnen gibt, kann ein wichtiger Baustein im Fortbildungsprogramm eines Unternehmens sein. Tatsächlich kommt die Resilienzforschung aus Bereichen, in denen ein Ausbruch unmöglich erschien, beispielsweise in Konzentrationslagern, Gefängnissen oder schwierigen Familienverhältnissen. Zudem vereinnahmen diese sozialen Settings den gesamten Menschen. Dies ist bei Unternehmen nicht der Fall. Unternehmen sind keine totalitären Einrichtungen. Mitarbeiter*innen gehen am Abend nach Hause und schlimmstenfalls können sie kündigen. Unternehmen, die es folglich mit dem resilienten Aushalten schwieriger Umstände übertreiben, müssen alsbald erkennen, dass die Mitarbeiter*innen, die es sich leisten können, weil sie jung und/oder gut ausgebildet sind, woanders eine bessere Chance suchen. Zurück bleiben dann nur noch diejenigen, die es sich nicht leisten können, was Teams langfristig sicherlich nicht resilienter macht.

Ohne flankierende Maßnahmen keine Resilienz

Wer Resilienztrainings anbietet, sollte deshalb nicht davon ausgehen, dass Mitarbeiter*innen automatisch „Hurra!“ schreien. Personalentwickler*innen sollten sich stattdessen bewusst machen, dass damit auch die Nachricht verbunden sein kann, den Mitarbeiter*innen den schwarzen Peter bei Dauerbelastungen zuzuschieben.

Um das zu vermeiden, ist es wichtig flankierende Maßnahmen anzubieten und durchzuführen:

  • Kulturveränderung: Resilienz ist auch ein Führungsthema. Im Rahmen von Führungstrainings, bspw. „Positive Leadership“ geht es auch darum, was Führungskräfte tun können, um die Resilienz ihrer Mitarbeiter*innen zu fördern.
  • Strukturveränderung: Unternimmt ein Unternehmen realistische Anstrengungen, um den aktuellen Herausforderungen wie Personalmangel, Fluktuation und Bindung der Mitarbeiter*innen zu begegnen, verlieren Resilienztrainings ihren Schwarzen-Peter-Beigeschmack.

Damit wird deutlich: Es geht in einem Resilienztraining darum, mit vorübergehenden Unsicherheiten umzugehen. Das Unternehmen geht aktuelle Probleme jedoch systemisch an. Das wiederum bedeutet nicht, dass unsichere Situationen nicht wieder einmal auftreten werden. Dafür wurde unsere Welt zu krisenhaft. Dann jedoch sind alle im Unternehmen sowohl kulturell, strukturell als auch individuell gewappnet.

Am sinnvollsten ist es folglich, diese drei Ebenen als Gesamtpaket im Unternehmen zu denken und etablieren:

Literatur:

Stefanie Graefe: Resilienz als Leitkonzept in der Vielfachkrise, (externer Link) https://geschichtedergegenwart.ch/resilienz-leitkonzept-in-der-vielfachkrise

Rosemarie Walter-Enderlin & Bruno Hildenbrand: Resilienz – Gedeihen unter widrigen Umständen. Carl-Auer